Die Entscheidung
Die Zeit war vorbei. Zwar dauerte es lange, doch jetzt war sie vorbei. Susanne war froh, dass sie vorbei war. Ihr kam die Arbeitszeit sehr lange vor. Sonst nicht, aber heute schon. Sie hatte irgendwie ein seltsames Gefühl. Sie musste schnell nach Hause zu ihren Kindern. Also setzte sie sich in ihr Auto und fuhr los. Sie kam wie im Schneckentempo voran. Es hatte wieder einmal Stau auf den Strassen.
Zu Hause warteten Nadine und Alex auf ihre Mutter. Die Schule war schon lange zu ende. Sie waren ganz alleine in ihrem Zimmer. Der elf Jahre alte Alex musste auf seine siebenjährige Schwester Acht geben. Eigentlich gingen sie nach der Schule immer zu ihrer Grossmutter. Dort warteten sie dann, bis sie ihre Mutter, vom Büro aus, abholte. Doch jetzt war Grossmutter schwer krank. Ihr Herz wurde immer schwächer. Alex hasste es, wenn seine Mutter arbeitete wie ein Tier. Denn jetzt war sie nicht da und er musste auf seine Schwester aufpassen, bis seine Oma wieder gesund war. Das sagte diese ihm noch selbst. Sie wusste, dass ihre Tochter jemanden für ihre Kinder brauchte. Einen Vater hatten sie nicht. Zwar gab es ihn irgendwo, aber wo genau?!? Alex wusste es nicht und Susanne auch nicht. Genau genommen waren es ja zwei. Alex sagte seiner Mutter schon öfters: “Kein Wunder Mama, wenn du soviel arbeitest!“
Susanne fuhr wie gewohnt zu ihrer Mutter um ihre Kinder abzuholen. Doch als sie dort ankam, fand sie keinen der Dreien. Wo steckten sie denn bloss?!? Sie wussten doch, dass sie sie um diese Zeit abholen würde. Da kam der Nachbar von Nebenan angelaufen. Herbert Steiner war ein wenig älter als sie, gut aussehend und eigentlich noch zu haben. Doch die 29-jährige Susanne hatte genügend Arbeit und zwei Kinder. Also keine Zeit für einen „neuen“ Mann. Sie hatte ihn schon öfters hier, in Röthenbach, gesehen. Sie wohnten ja auch im selben Dorf.
Da kam er also angelaufen. Was er von ihr wollte, wusste sie nicht. Bei Susanne angekommen, fragte er als erstes: “Sie sind doch Frau Laubenbacher oder? “Susanne nickte und fragte sich, was er von ihr wolle. Ob die Kinder etwas angestellt hatten? Doch er erklärte ihr, dass die Grossmutter, nach einem Herzinfarkt, ins Krankenhaus eingeliefert worden sei und er die Kinder nach Hause geschickt hätte. Susanne blieb starr wie ein Stein stehen. Sie glaubte es nicht. Was sollte sie denn ohne ihre Mutter machen?!? Wer passte auf ihre Kinder auf? Herbert schlug vor, sie erstmals zu ihren Kinder zu fahren und dort das Problem nochmals anzuschauen.
Daheim angekommen, fielen ihr die Kinder um den Hals. Sie weinten, hatten Angst um ihre Grossmutter. Jetzt fing auch Susanne an zu weinen. Herbert versuchte sie zu beruhigen. Er machte den Vorschlag, dass er auf die Kinder aufpassen würde, während sie arbeitete. Susanne überlegte, ob das eine gute Lösung sei. Doch was wollte sie sonst machen... Die Kinder hatten schon öfters mit ihm gespielt und fanden ihn sehr nett. Es würde sicher gehen.
So vergingen zwei Wochen. Sie arbeitete, er passte auf die Kinder auf, kochte, putzte,...! Grossmutter lag noch immer im Spital. Wie lange noch, wusste niemand. Langsam aber sicher mochten sich Susanne und Herbert immer mehr. Vor allem Herbert. Dieses Kribbeln im Bauch; er hatte sich in sie verliebt. Das einzige Problem war, dass sie fast immer bei der Arbeit war.
Eines Abends, als Susanne nach Hause kam, klingelte das Telefon. Es war der Arzt des Krankenhauses. Sie hörte zu. Kaum hatte sie den Hörer weg gelegt, brach sie in Tränen aus. Herbert wusste: Grossmutter ist gestorben.
Von da an arbeitete Susanne nur noch mehr. Sie wollte ihren Kummer damit verbergen. Sie liebte nun zwar diesen Mann, wie nie zuvor einen andern, und ihre Kinder, doch ihre Arbeit war ihr ebenfalls wichtig. Zuhause lebten sie wie eine Familie. Nur arbeitete sie und er führte den Haushalt. Und die Kinder vermissten ihre Mutter immer mehr. Dies bemerkte auch Herbert.
Morgens ging sie ins Büro, Mittags, kam sie zum Essen nach Hause, danach ins Büro zurück bis in die Nacht hinein. Abends und am Wochenende war die einzige Zeit, die sie mit Herbert, Nadine und Alex verbrachte. Und manchmal nicht mal dies.
Eines Abends, als sie wieder einmal völlig erschöpft nach Hause kam, wartete Herbert im Wohnzimmer auf sie. Er schaute sie nur an und fragte, was ihr eigentlich wichtiger sei: er und die Kinder oder die Arbeit. Sie konnte nicht antworten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Freund stand auf und ging, ein wenig traurig und enttäuscht, schlafen.
In der Nacht konnte Susanne nicht schlafen. Sie dachte immer wieder an diese Frage. Sie konnte doch ohne beides nicht leben. Was er wohl damit bezwecken wollte?!?
Am nächsten Morgen ging sie wie gewohnt zur Arbeit. Alex und Nadine gingen zur Schule und Herbert arbeitete zu Hause. Doch am Abend, als die Kinder schon im Bett waren und Susanne nach Hause kam, herrschte eine seltsame Stille im Hause. Herbert sass wie am Abend zuvor in seinem Sessel. Plötzlich schaute er sie an und sagte: “Du weißt, wenn du keine Zeit mehr für deine Kinder hast, könnten sie in ein Heim kommen, wenn ich nicht mehr da bin. Also entscheide dich. Ich und die Kinder oder die Arbeit...!“