Die Entscheidung
Ungeduldig sieht sie auf die Uhr. Es ist 7.50, wann kommt er denn endlich? Sie wirft einen beschwörenden Blick zum Himmel hinauf und fasst nochmal nach dem Briefumschlag in ihrer Tasche. Hoffentlich wird das gutgehen, hoffentlich wird dadurch nicht alles zerstört! Sie schaut zum Tor des Schulhofs hinaus auf die vorbeifahrenden Autos - er ist noch nicht da. Ob das wirklich die richtige Entscheidung ist?
Ungeduldig sieht sie auf die Uhr. Es ist 7.50, wann kommt denn endlich ihr Bus? Sie wirft einen verzweifelten Blick zum Himmel hinauf - hoffentlich geht das gut, hoffentlich kommt sie nicht wieder zu spät zum Unterricht!
Linda denkt an die letzten Monate zurück. Zwei Monate sind nun vergangen, seit sie zum ersten Mal das wunderschöne Gefühl bemerkt hatte, das sie jedes Mal hat, wenn sie ihren Physiklehrer Herrn Schneider sieht - der kitschige Ausdruck "Schmetterlinge im Bauch" trifft es sehr gut. "Jedes Mal, wenn ich Dich sehe, habe ich Schmetterlinge im Bauch..." Bei dem Gedanken an die vielen Gedichte, die sie für ihn geschrieben hat, muss sie unwilkürlich lächeln.
Anita denkt daran, was sie in der Schule erwartet. Gleich in der ersten Stunde Physik - welch ein Horror! Nicht auszudenken, wenn sie ausgerechnet heute zu spät kommt, Herr Schneider hat sie sowieso schon auf dem Kieker. Der Typ ist aber auch nervig, warum hat sie nur immer so ein Pech mit den Lehrern? Seine blöden Witze, über die kaum noch jemand lacht, seine häßliche Visage... bei dem Gedanken daran schüttelt sie sich unwilkürlich.
Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass gerade mal eine Minute vergangen ist, obwohl es wie eine halbe Ewigkeit scheint. Die Liebe hält sich eben nicht an die Naturgesetze... "Kann die Liebe Sünde sein?", hört Linda in ihren Gedanken Zarah Leander singen. Wie aktuell manche alten Schlager doch sein können... In ihrem Fall ist es leider doch sowas wie eine Sünde, da kennt Linda so einige Horrorgeschichten. Ein Buchtitel taucht in ihren Gedanken auf - "Einen Lehrer liebt man nicht" Die Autorin hat leider ja so Recht! Nur durch den Gedanken daran, dass ihre Wimperntusche sonst verläuft, kann Linda sich die Tränen verkneifen.
Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es schon fünf vor acht ist, der Bus ist immer noch nicht da. Kann er sich nicht ein einziges Mal an den Fahrplan halten? Die Vorstellung, was sie erwartet, lässt ihren Magen sich schmerzhaft zusammenziehen. Sicher wird Herr Schneider sie wieder vor der ganzen Klasse zusammenstauchen... "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh´n...", hört Anita in ihren Gedanken Zarah Leander singen. Ja, ein Wunder wäre jetzt nicht schlecht, nur gibt es sowas leider nur im Märchen! Zarah Leander... die Lieblingssängerin ihrer besten Freundin Linda... Anita denkt an ein Gespräch, das sie vor ein paar Monaten mit Linda geführt hat, und schüttelt den Kopf, immer noch ungläubig darüber, wie man nur so blöd sein kann wie Linda. Nur durch den Gedanken daran, was die anderen wartenden Fahrgäste sonst von ihr denken würden, kann Anita sich einen Wutschrei verkneifen.
Sie denkt daran, wie ihre beste Freundin Anita auf die Nachricht reagiert hatte, dass sie sich in ihren Physiklehrer verliebt hat. "Ausgerechnet Herr Schneider?! Willst du mich verarschen?" war das erste, was Anita rausbringen konnte, nachdem sie die Freundin minutenlang sprachlos angestarrt hatte. Als sie endlich begriffen hatte, dass es kein verspäteter Aprilscherz war, hatte sie sich erstmal den Mund fusselig geredet, um Linda von diesem "Trip" abzubringen, was ihr natürlich nicht gelungen ist. Herr Schneider ist aber auch zu süß... Wenn er lächelt, geht für Linda die Sonne auf. Und seine wunderschönen blauen Augen... allein bei dem Gedanken schmilzt Linda fast dahin. Anita hatte eingesehen, dass sie ihre beste Freundin nicht bekehren konnte, und hatte sich so verhalten, wie es eben nur die beste Freundin kann: Sie hat Linda immer zugehört, wenn es keine Möglichkeit zu helfen gab. Ein warmes Gefühl von Freundschaft und Dankbarkeit durchströmt Linda und sie wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Vor zwei Monaten hatte ihr Linda aus heiterem Himmel eröffnet, dass sie sich in ihren Physiklehrer verliebt hat. "Ausgerechnet Herr Schneider?! Willst du mich verarschen?" war das erste, was Anita rausbringen konnte, nachdem sie die Freundin minutenlang sprachlos angestarrt hatte. Ausgerechnet Herr Schneider, dieser Albtraum eines jeden Schülers! Ihr erster Gedanke war, es sei ein verspäteter Aprilscherz, was aber leider nicht so war. Tagelang hatte sie sich den Mund fusselig geredet, um Linda von diesem Trip abzubringen, was ihr leider Gottes nicht gelungen ist. Zu blöd aber auch... Alles hatte sie versucht, wirklich alles - sie hatte Linda mehrmals vor Augen geführt, was für ein Idiot dieser Lehrer ist und wie mies er mit einigen Schülern umspringt - doch durch keine Art von Argumenten war Linda zu überzeugen gewesen, auch die ganzen Geschichten, wie oft er Anita fertiggemacht hat, konnten sie nicht dazu bringen die rosarote Brille abzusetzen. Und sowas nennt sich beste Freundin! Irgendwann hatte Anita eingesehen, dass sie ihre beste Freundin nicht zur Vernunft bringen konnte, auch wenn ihr das noch so schwer fiel, und sie hatte versucht Verständnis zu zeigen. Schließlich war Lindas Geschmack in Bezug auf Typen schon immer etwas schräg und schon oft hatte sie sich in die unmöglichsten Typen verliebt, außerdem haben Gefühle nichts mit der Vernunft zu tun... und irgendwie ist es ja auch nicht so tragisch - wenn es halt nicht ausgerechnet Herr Schneider wäre! Was würde sie denn selbst in Lindas Situation tun?
Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und beschlossen Herrn Schneider einen Brief zu schreiben; mit ihrem ersten Gedicht wollte sie ihm ihre Liebe gestehen. Daraufhin hatte Anita endgültig gestreikt und Linda sogar angedroht, die jahrelange Freundschaft zu kündigen, falls sie das wirklich durchziehen würde. "Entweder er oder ich!", hatte sie geschrien... Mit allen Mitteln hatte Linda versucht ihre beste Freundin davon zu überzeugen, wie wichtig dieser Brief für sie ist. Selbst wenn aus ihnen beiden nichts werden wird, würde es sie sehr erleichtern, wenn Herr Schneider wüsste, wie es um sie steht. Doch durch keine Art von Argumenten war Anita zu überzeugen gewesen...
Was auch immer, ganz sicher nicht einen Liebesbrief schreiben und ihn dem Lehrer geben! Genau das hatte Linda sich nämlich eines Tages in den Kopf gesetzt... Anita war aus allen Wolken gefallen, als sie ihr von dem Plan erzählte, und hatte gestreikt. Das war zuviel, war Linda denn von allen guten Geistern verlassen? "Jedes Mal, wenn ich Dich sehe, habe ich Schmetterlinge im Bauch..." - wie konnte sie nur, verstand sie denn nicht, dass das die Blamage des Jahrhunderts werden konnte? Wer weiß, wie Herr Schneider auf so einen Brief reagiert, ihm ist doch alles zuzutrauen! Was, wenn er sie damit vor der ganzen Klasse aufziehen würde? Und niemand wäre da, der zu ihr halten würde... schade, dass sie in verschiedenen Parallelklassen sind, sonst würde Linda ja selbst sehen, wie mies Herr Schneider sich Anita gegenüber verhält! Oder es könnte ja sein, dass er das irgendwem von seinen Kollegen erzählt - wie schnell sich solche Geschichten wohl bei den Lehrern verbreiten? Als auch dieses Argument nichts brachte, hatte Anita endgültig die Nerven verloren und Linda angeschrien, dass, falls sie das wirklich durchziehen würde, sie längste Zeit Freundinnen gewesen sind. "Entweder er oder ich!", hatte sie geschrien... Sie war hart geblieben, auch als Linda sie unter Tränen angefleht hat, es sich anders zu überlegen.
Nach endlosen Gewissensbissen hatte Linda überlegt den Brief doch zu schreiben und ihn Herrn Schneider zu geben, ohne Anita was davon zu sagen. Immerhin war es eine ziemlich unfaire Art von Ultimatum, das Anita ihr gestellt hatte. Ihre Gefühle für Herrn Schneider haben doch nichts mit ihrer Freundschaft zu Anita zu tun! Ihre beste Freundin ist für sie zwar der wichtigste Mensch auf der Welt, aber kann sie denn nicht verstehen, dass es auch wichtig für sie ist Herrn Schneider endlich zu gestehen, was sie für ihn empfindet? Wieder meldet sich Lindas schlechtes Gewissen. Eigentlich ist das ein ziemlich mieser Vertrauensbruch, was sie jetzt vorhat... Warum muss Anita aber auch so stur sein? Es schadet ihrer Freundschaft doch nicht, wenn sie Herrn Schneider diesen Brief gibt! Was würde sich zwischen Anita und ihr ändern?
Plötzlich wird Anita aus ihren Gedanken gerissen. Da ist ja endlich der Bus! Sie steigt ein - zwei Minuten vor acht, der Anschiss ist ihr so gut wie sicher...
Plötzlich wird Linda aus ihren Gedanken gerissen. Da kommt er ja! Mache ich es oder lasse ich es sein? Nein, denkt sie, ich grüße ihn ganz normal wie immer und tue so, als warte ich auf eine Freundin.
Fünf nach acht - Anita steigt aus dem Bus und rennt auf das Schultor zu.
"Guten Morgen, Herr Schneider!" "Hallo Linda!" ruft er und eilt auf das Schulgebäude zu. Nein! schreit eine Stimme in ihren Gedanken. Wenn sie es jetzt nicht tut, wird sie sich bis an ihr Lebensende Vorwürfe machen. Irgendwann wird Anita schon verstehen, dass sie so handeln musste. Schließlich sind sie die besten Freundinnen und solch ein Dreamteam lässt sich nicht durch einen Typen kaputtmachen, selbst wenn es so ein süßer "Typ" wie Herr Schneider ist.
Außer Atem erreicht sie den Schulhof und... sieht Herrn Schneider auf das Schulgebäude zueilen. Nein! schreit eine Stimme in ihren Gedanken. So knapp und doch zu spät!
"Herr Schneider, warten Sie!"
Fast unbewusst sieht Anita eine vertraute Gestalt auf dem Schulhof stehen - Linda ist es... doch Augenblick! Was ist denn das? Sie hält etwas Weißes in der Hand und ruft etwas, das Anita aus der Entfernung nicht verstehen kann. Herr Schneider bleibt stehen und spricht kurz mit Linda.
"Herr Schneider, warten Sie! Ich muss Ihnen etwas geben!"
Wie vom Donner gerührt bleibt Anita stehen und beginnt zu begreifen, was sich da vor ihren Augen abspielt.
"Was gibt´s denn?"
Diese Verräterin... gibt sie ihm tatsächlich den Brief?
"Dieser Brief... für Sie..."
"Nein! Linda, tu es nicht!"