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Die Entführung der Farben
„Sag mal, als du klein warst, was wolltest du da werden? Was war dein Traum?“
Ollie starrt mich aus glasigen Augen an, während er auf meine Antwort wartet.
Ein Pilot, ich wollte ein Pilot sein. Damals hielt ich die Sterne am Himmel noch für Flugzeuge. Und nun?
Wir haben die Wolken nicht mal berührt, keiner von uns. Wir trudelten ins Leben und fanden keine Landebahn. Die Bauchlandung war unvermeidlich. Vielleicht war es wirklich so, dass wir den Weg vor lauter Zielen nicht mehr sahen.
Da wären wir also. Gestrandete am Ufer eines Baggersees. Auf einem gottverdammten Campingplatz, irgendwo im Osten. Wir ertränken die Feiertage im Alkohol. Singen, bis die Welt um uns herum verstummt. Und das Leben, was ist das Leben? Das Leben ist ein Campingplatz.
„Ein Pilot“, flüstere ich.
Andi gröhlt dazwischen: „Also ich wollte immer ein Held sein, so einer mit weitem Umhang und Maske.“
Ollie lacht laut auf. „Ach, sag bloß, warst du früher auch schon so hässlich, dass du ne Maske brauchtest?“
Andi wird rot wie ein Hummer. Er blickt zu Boden und winkt ab.
„Komm, du kannst ja ruhig sein!“
Wir verfallen alle drei in Schweigen.
Ein Held wollte er sein. Was sollen wir denn tun, außer darüber lachen?
Wir sind ja nicht mal fähig, unsere eigenen Leben zu retten.
Die Luft ist feucht und schwer vom Regen. Den ganzen Tag hat es geregnet, der Himmel hat genässt wie eine Wunde. Und die Sonne hat der Erde ihren Rücken zugekehrt.
Erst als es Nacht wurde, konnten wir aus unseren Zelten kriechen und ein Feuer machen.
Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Sonne wieder aufgeht. Um das vorauszusagen, braucht man keine Uhr. Die Tatsache, dass uns das Bier allmählich ausgeht, spricht für sich.
„Ich glaub, im Auto sind noch ein, zwei Kästen. Hier ist der Schlüssel.“
Ollie drückt mir seine Autoschlüssel in die Hand. Ein breites Grinsen zieht sich über sein Gesicht.
„Warte, ich helf dir tragen“, lallt es aus Andis Ecke. Er unternimmt einen Versuch, aufzustehen, knickt seitlich ab und purzelt rücklings ins Gras. Wir beobachten ihn schweigend. Er liegt auf dem Rücken und strampelt mit den Beinen. Ich muss an einen Käfer denken. Ollie kringelt sich vor Lachen.
„Schon gut, ich schaff´s auch so“, sage ich, schon im Aufstehen. Ich werfe einen letzten Blick auf die beiden, dann mache ich mich auf den Weg. Andi hat aufgehört zu strampeln, er bewegt die Beine nur noch träge auf und ab. Als suche er verzweifelt Halt, auf den unsichtbaren Sprossen der Himmelsleiter.
Man muss ein ganzes Stück gehen, um zum Parkplatz zu gelangen. Der Weg ist nicht immer leicht zu finden, wenn man betrunken ist. Obendrein bei Nacht. An einigen Stellen brennen Lagerfeuer. Ihre orangenen Lichtkegel spalten die Dunkelheit bis tief in den Morgen hinein. Irgendwer hat mal gesagt, das allmorgendliche Aufgehen der Sonne wäre ohnehin nur Illusion. In Wirklichkeit sei es der Osten, der untergehe, jeden Tag ein bisschen mehr.
Überall schießen kleine Hügel aus dem Boden. Als hätte man sich an dieser Stelle keine Mühe gegeben, den Himmel sauber von der Erde abzutrennen.
Aus den Zelten dringt gedämpftes Lachen, manchmal auch ein Stöhnen, aber nur ganz leise. Schließlich weiß jeder hier um die dünnen Zeltwände. Der Wind verwischt die Konturen der Geräusche, unter allem liegt das Klimpern des Autoschlüssels in meiner linken Hosentasche. Wenn eine Böe durch die Hügel fegt, verneigen sich die Grashalme ehrfürchtig wispernd vor dem Mond.
Vielleicht werden die beiden bei meiner Rückkehr bereits eingenickt sein. Es spielt für mich gar keine Rolle. Ich würde sie nicht wecken. Schließlich gibt es noch reichlich andere Dinge, die ich tun könnte. Dem Lachen aus den anderen Zelten lauschen, oder die Handflächen ans Feuer halten und einfach warten. Auf das Verblassen des Mondes oder auf einen weiteren Traum, der uns die Rückkehr der Farben vorgaukelt.
Ich habe anscheinend doch mehr getrunken, als ich dachte. Und die Maulwurfshügel in den Wiesen machen mir das Laufen auch nicht wirklich leichter. Die Müdigkeit drückt mich zu Boden, auf jeder Hügelkuppe empfängt mich Gegenwind. Wie soll ich nur die Kisten schleppen, wie werde ich den Rückweg finden, was, wenn sie doch schon schlafen? Vielleicht wäre es doch besser, bis morgen zu warten, genau hier.
Ich lasse mich ins Gras gleiten. Es fühlt sich nass und kühl an. Und dann die ganzen Sterne da oben. Vielleicht sollte ich winken. Bevor ich hier noch einschlafe.
Und der Mond wie ein Gesicht, sogar sprechen kann der heute.
„Was machst du da?“, fragt mich das Gesicht.
Was macht sie da?, frage ich mich.
Dann erinnere ich mich an das Mädchen, das mit der großen Gruppe einen Tag nach uns hier angekommen ist. Aber das war bei Tag, und jetzt ist Nacht und nicht nur das ist anders. Zeitweilig vergesse ich, dass der Alkohol alle Gesichter schön macht. So habe ich einen Moment lang das Gefühl, ein unvergleichlich schönes Antlitz vor mir zu haben. Fast will ich fragen: Warum hast du so große Augen? Aber das hier ist kein Märchen. Das ist echt. Es gibt diesen Campingplatz und es gibt dieses schönste Mädchen der Welt, da, wo sonst der Mond hängt.
Vorsichtig richte ich mich auf, Stück für Stück, bis ich halbwegs sicher auf die Beine komme. Die ganze Zeit über steht sie daneben, ohne mir zu helfen oder ein Wort zu sagen. Sie setzt sich gemächlich in Bewegung, ich nehme es als Zeichen, ihr zu folgen.
Vielleicht zeigt sie mir den Weg.
Ich bleibe stehen und deute auf den Mond.
„Ich bin mir fast sicher, dass er heute tiefer hängt.“
Sie streicht sich das Mondlicht aus den glatten schwarzen Haaren, genau so, wie es die Frauen in den kitschigen Filmen tun.
„Das liegt daran, dass es ein Vollmond ist. Der ist einfach schwerer.“
„Nein“, sage ich, „Ich habe eher das Gefühl, dass er unsere Nähe sucht.“
„Ja“, sagt sie, „Vielleicht ist es so.“
„Ich meine, es muss kalt sein, da oben. Aber er hat doch sicher irgendjemanden, der sich um ihn kümmert, er ist doch so schön.“
„Findest du?“
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass sie mich ansieht. Ich zwinge mich, weiter auf den Mond zu schauen.
„Was ist nun?“, frage ich, „Hat er schon jemanden? Oder ist er alleine?“
Sie schweigt und lächelt.
Wir gehen weiter. Wohin, kann ich nicht sagen. Es ist auch ganz egal. Am Ende steht man doch nur wieder in der Nacht.
Auf einmal bleibt sie stehen. „Stopp!“, zischt sie. Ich halte abrupt in der Bewegung inne.
„Was ist denn?“
„Du wärst eben fast auf den Maikäfer getreten. Pass mal besser auf, wo du hintrittst.“
Sie schüttelt den Kopf. „Du bist ja sowieso betrunken, kannst ja kaum noch laufen. Aber mir soll´s egal sein. Ich geh jetzt schlafen.“ Sie läuft auf ein großes blaues Zelt zu, das ich bis dahin noch gar nicht bemerkt habe. Ich will irgendetwas sagen.
„Ein ziemlich großes Zelt“, sage ich.
„Ja“, antwortet das Mädchen, „Mein Freund wollte halt unbedingt ein Doppelzelt.“
Ein Doppelzelt. Vielleicht war das sein Traum. Unsere Träume gibt es nicht im Fachgeschäft zu kaufen. Am ehesten noch im Himmel. Aber der Himmel hat geschlossen.