Mitglied
- Beitritt
- 27.07.2008
- Beiträge
- 106
Die Entdeckung
Die Entdeckung
„Nein“, rief Professor Dunkelbart aus und sah sich die Bescherung im Chemielabor an. Sämtliche Flüssigkeiten standen auf dem Chemietisch. Die Schwefellösung musste ausgelaufen sein, denn in diesem Raum roch es, als befände man in der Hölle gelandet. Der Bunsenbrenner erhitzte ein leeres Reagenzglas und Frank Müller war damit beschäftigt, das Chemielabor wieder in ein ordentliches Labor zu verwandeln.
Frank Müller war sein Student. Er war begabt, nur fehlte es ihm am nötigen Durchhaltevermögen. Er konnte die Dinge einfach nicht zu Ende führen. Sobald ihn aber etwas fesselte, übertrieb er es mit der Forschung und kam tagelang nicht zum Schlafen. Das Resultat war in aller Regel, dass er nichts Neues zu Wege bringen konnte, weil er sich an die einfachsten Regeln nicht erinnern wollte. Er wollte neue Wege gehen, aber so weit war er noch nicht. Professor Dunkelbart fand es gut, dass er seine Resultate mit ihm besprach. So konnte er versuchen, ihm die Flausen auszutreiben. Nur heute nicht. Heute hatte er noch so viel zu tun, dass er keine Zeit hatte, zu erfahren, dass Frank Müller immer noch nicht weiter gekommen war.
„Vielleicht hätte ich mir den Weg sparen sollen“, dachte sich Johann Dunkelbart. Beim Blick auf die Sauerei wusste er, dass es sicherlich die bessere Entscheidung gewesen wäre. Immer dann, wenn es so aussah wie heute, wusste Professor Dunkelbart, dass er sich den Weg auch hätte sparen können.
„Das darf doch nicht wahr sein“, sagte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Professor Dunkelbart fasste sich mit beiden Händen an seine lichten grauen Haare und versuchte sie auszureißen. Es schmerzte. Selbst wenn man so schütteres Haar besaß wie er, schmerzte es, wenn man daran riss.
„Frank“, betonte er seine Ansprache an seinen Studenten: „Sie sollten das Labor nicht in einen Saustall verwandeln. Sollte ich mich recht erinnern, dann hatten wir das vorher besprochen.“
„Ja“, gab Frank kleinlaut zu: „Das haben wir. Aber Sie haben mich erschreckt.“
„Ich habe Sie erschreckt“, erhob der Professor seine Stimme ungläubig: „Selbst, wenn dem so ist, haben sie nicht das Recht, das Labor zu zerlegen.“
Er betrachtete den Bundesbrenner, der ein leeres Reagenzglas erhitzte. Das Reagenzglas war leer. Zumindest wenn man Luft außer Acht ließe.
„Möchten Sie testen, wie viel Hitze ein Reagenzglas aushält?“
„Das Reagenzglas ist nicht leer“, vernahm er, wie Frank sich verteidigte. Er schaute seinen Professor mit grünen Augen an. Auf seinem Gesicht stand der Schlaf geschrieben, der ihm bis zum heutigen Tag fehlte. Danach zu urteilen, musste er mindestens zwei Nächte durchgemacht haben.
Frank schaute sich das Reagenzglas an, als wunderte er sich darüber, dass sein Professor die kristallklare Flüssigkeit nicht sah.
„Sieht er nicht die Flüssigkeit, die sich darin befindet?“, flüsterte er vor sich hin.
Aber Johann Dunkelbart blieb nichts anderes übrig, als ein abwertendes „Nein“ von sich zu geben. Professor Dunkelbart sah die Flüssigkeit wirklich nicht und fügte hinzu: „Ansonsten hätte ich die Frage nicht gestellt.“
„Ich habe die Versuchsreihe beendet“, erklärte Frank: „Und Sie werden nicht glauben, was ich herausgefunden habe.“
„Ich bin sicher, dass Sie mich genau aus diesem Grund gerufen haben“, konnte Johann Dunkelbart seine pure Langeweile nicht unterdrücken. Die Versuchsreihe war nicht zu schaffen. Etwas Gravierendes fehlte. Wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit, aber wichtig genug, um die Versuchsreihe immer wieder zum scheitern zu bringen. Seit Jahren waren renommierte Forscher dabei, ein Allheilmittel für Krankheiten zu finden. Ohne Erfolg allerdings und ausgerechnet sein Student wollte die Medizin revolutionieren? Unmöglich.
„Ich hoffe zumindest, dass es mit unseren Forschungen zu tun hat“, ließ Professor Dunkelbart verlauten.
„Ja“, erklärte Frank voller Stolz: „Mit Sicherheit.“
Johann Dunkelbart suchte sich einen Stuhl in der ersten Reihe aus und bewegte sich mit gemächlichen Schritten dort hin. Noch langsamer als er gegangen war, setzte er sich auf den Stuhl, stemmte beide Ellbogen auf das Pult und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Was haben Sie denn heraus gefunden?“, fragte er lustlos.
„Wir können die Krankheiten nicht besiegen. Wir können sie nicht einmal heilen.“
„Was Sie nicht sagen? Und dafür haben Sie sich die letzten drei Nächte um die Ohren gehauen?“, machte sich Professor Dunkelbart über seinen Schützling lustig: „Das wusste ich auch schon vor der Versuchsreihe. Um ehrlich zu sein, bin ich davon ausgegangen, dass auch Sie dieses Resultat vorher kannten.“
Professor Dunkelbart setzte sich etwas gerader hin. Er hatte seine Mundwinkel nach unten gezogen, musterte seinen Lehrling etwas genauer und schob sich seine schwere Nickelbrille zurecht.
„Frank“, sagte er nach einer Weile. Er schüttelte den Kopf und sah kurz auf den Boden. Irgendwie suchte er nach den Worten, die er ihm sagen wollte, ohne ihn zu verletzen.
„Frank“, begann er noch einmal: „Ich weiß wirklich nicht, wie ich der Universität weiterhin erklären soll, dass ich ausgerechnet Sie benötige. Bisher haben Sie jedenfalls kaum etwas zu Wege gebracht. Das liegt jetzt nicht an ihrer Müdigkeit. Sie sind anscheinend nicht im Geringsten daran interessiert, etwas zu erforschen.“
Er wusste, dass Frank ihn reden ließ. Er würde es nicht wagen, ihn zu unterbrechen, solange er keine Frage gestellt hatte.
„Darf ich Sie daran erinnern, dass sie sich dazu entschieden haben, ihre Wissenschaft in den Dienst der Menschheit zu stellen. Seit mehr als achtzig Jahren versuchen wir den Krebs zu heilen, seit mehr als fünfzig Jahren Aids. Die neuesten Krankheiten möchte ich dabei nicht erwähnen. Wann also möchten Sie beginnen, mit ihrem Dienst an der Menschheit?“
Nun hatte er ausgeredet. Professor Dunkelbart war einer jener Professoren, die andere zu Wort kommen ließen, sobald sie eine Frage gestellt hatten.
Frank holte tief Luft, zupfte sich sein Hemd zurecht und begab sich vor das Pult, damit er Professor Dunkelbart direkt gegenüber stehen konnte.
„Ich habe bereits damit begonnen. Ich glaube sogar, dass ich weiter bin als die meisten anderen Forscher.“
„Mit ihrer Behauptung, dass wir die meisten Krankheiten weder heilen noch besiegen können?“
„Was ich damit meinte ist, dass wir auf herkömmliche Weise nicht weiterkommen werden. Ich habe alle Krankheiten untersucht. Die Heilung läuft immer nach dem selben Muster ab. Eine Krankheit entsteht und wir versuchen die Krankheit zu bekämpfen.“
Professor Dunkelbart musterte Frank mit strengem Blick. Er war gelangweilter als zuvor. Alle Aussagen, die Frank getätigt hatte, kannte er auch. Ein letztes Mal setzte er sich gerader hin und verdrehte die Augen.
Frank war schlau. Er musste wissen, wie er reagieren würde, würde er nicht langsam mit Neuigkeiten heraus kommen.
„Aber Sie möchten in Zukunft Krankheiten heilen, die noch nicht entstanden sind, oder?“, fragte er, nachdem er saß und sich zwang, seinem Schützling weiter zuzuhören.
„Nein, ich möchte die Krankheit überhaupt nicht bekämpfen.“
„Sie möchten WAS?“
Professor Dunkelbart hustete, als hätte er sich verschluckt. Irgendetwas kam in den falschen Lungenflügel und er beugte sich nach vorne um sich seines Hustenreizes zu entledigen. Er sah kurz zu Frank. Frank überlegte sich, ob er zu ihm eilen sollte, damit er ihm auf den Rücken schlagen konnte. Besorgt sah er ihn an. Nicht nur, weil er Angst davor hatte, er könne an seinem Hustenanfall sterben. Viel besorgter sah er ihn an, weil er befürchtete, dass er nach seinem Hustenanfall aufstehen und den Raum verlassen konnte.
„Lassen Sie mich erklären“, bat er ihn.
„Wissen Sie“, sagte Johann Dunkelbart: „Ich glaube, ich habe andere Dinge zu tun, als mir irgendwelchen Schwachsinn anzuhören.“
„Es ist kein Schwachsinn“, erklärte Frank.
Johann Dunkelbart sah ihn unter seiner dicken Nickelbrille sorgenvoll an. Er schüttelte den Kopf und musste sich zwingen, ihm eine allerletzte Chance zu geben.
„Sie haben fünf Minuten“, teilte er ihm schließlich mit: „Nach diesen fünf Minuten werde ich den Raum verlassen und hoffen, Sie nie mehr sehen zu müssen.“
„Das reicht“, bedankte sich Frank.
„Bisher ist die Medizin davon ausgegangen, dass man Krankheiten bekämpfen muss“, begann Frank mit seiner Erklärung: „Vielleicht war es früher einmal richtig. Vielleicht, ich weiß es nicht. Heute sollten wir andere Wege einschlagen. Wir sollten mit dem menschlichen Körper arbeiten. Betrachten wir doch den menschlichen Körper in seinen Einzelteilen und schauen uns dann die Entwicklung einer Krankheit an. Ich habe einfach einmal Krebs ausgesucht.“
Frank machte eine kleine Pause, ging zum Overheadprojektor und schaltete ihn ein. Er legte ein Blatt mit dem Wort Krebs auf.
Professor Dunkelbart räusperte sich. Ein sicheres Zeichen, dass er drauf und dran war, das Labor zu verlassen.
„Ich habe versucht, die angegriffenen Molekülverbindungen zu erforschen. Wer sagt denn, dass ein Mensch nicht in seinen Einzelteilen betrachtet werden kann.“
Frank lachte kurz auf. Ein Zeichen seiner Unsicherheit. Sollte Professor Dunkelbart seinen Ausführungen nicht bis zum Ende zuhören, dann würde er nie wieder eine zweite Chance bekommen.
Johann Dunkelbart gähnte. Er verdrehte ein letztes Mal die Augen und sah aus dem Fenster.
„Krebs zum Beispiel vernichtet keine Zellen. Es lässt Zellen mutieren. Es veranlasst Zellen, sich durch äußere Einflussnahme zu verwandeln. Die Zellen glauben, oder sollten zumindest glauben, dass die Verwandlung eine gute Wahl darstellt und sie damit den Körper besser schützen können. Wir sind es, die letztlich die Zellen zerstören und Alles noch schlimmer machen.“
Frank legte eine andere Folie auf den Projektor und nahm sich den Zeigestock, damit er an der Wand auf markante Stellen hinweisen konnte.
„Hier zum Beispiel“, fuhr er fort und zeigte mit seinem Zeigestock auf die Lunge eines Menschen: „haben wir die Zellen eines gesunden Menschen mit einer gesunden Lunge.“
Frank wechselte das Blatt und legte das nächste auf.
„Dieses Bild zeigt eine Krebserkrankung im Anfangsstadium.“
Für einen Laienbetrachter wich das erste vom zweiten Bild kaum ab. Die Abweichungen, die zu sehen waren, konnten durchaus daraus resultieren, dass es verschiedene Lungen waren.
Professor Dunkelbart ließ sich weiter in seinen Stuhl sinken.
„Damit kann man noch nichts anfangen, das weiß ich selbst“, verteidigte sich Frank vorsichtshalber: „Aber wenn man die Zellen untersucht, dann stellt man folgendes fest.“
Frank legte das letzte Blatt auf den Projektor.
„Zu Beginn wehrt sich die Zelle gegen den Eindringling. Es versucht ihn abzuwehren und zu vernichten. Die Krebszelle wechselt aber sein Aussehen, bis es akzeptiert wird. Sobald die Zelle den Krebsvirus akzeptiert hat, mutiert die eigentliche Zelle. Sie gleicht der eigentlichen Krebszelle immer mehr. Letztlich mutiert die Zelle so stark, dass die eigentliche Zelle für immer verloren ist. Daraufhin kommen wir ins Spiel und beginnen mit unserer Chemotherapie. Allerdings haben wir nur Erfolg, wenn wir genügend Zellen leben lassen, die noch gesund sind. Bei Krebs im Endstadium leider unmöglich. Der Mensch stirbt, egal, wie genau wir unsere Anwendungen kontrollieren.“
„Aber“, begann Professor Dunkelbart und setzte sich hin, als würde Frank ihm zum ersten Mal etwas Neues mitteilen. Ein sicheres Zeichen, dass ihm Franks Ausführungen gefielen: „das würde bedeuten, dass wir all die Jahre falsch geforscht haben.“
„Ja, genau das versuche ich Ihnen gerade zu erklären“, fuhr Frank fort: „Wenn wir weiterhin die Krankheiten bekämpfen, können wir das nur so lange tun, bis die Zellen verloren sind. Dabei ist es unerheblich, ob die Zellen vom Krebsvirus vernichtet werden oder ob man sie von Menschenhand vernichtet. Tot ist tot. Irgendwann kommt der so genannte Death Point. Ab diesem Punkt kann man keinem Menschen mehr helfen. Man müsste so viele Zellen isolieren, dass der Mensch sterben muss.“
„Wir dürfen nicht die Krankheiten bekämpfen“, fuhr Johann Dunkelbart fort: „Wir müssen die Zellen sensibilisieren. Das ist brillant.“
„Nur dann haben wir eine Chance, alle Krankheiten zu besiegen.“
„Und ihre Forschungsreihe? Ich meinte die mit der Schwefellösung.“
„Das waren die ersten Versuche, Zellen zu sensibilisieren. Viel versprechend, aber ich stehe erst am Anfang.“
Professor Dunkelbart stand auf und rieb sich das Kinn. Aus strahlenden Augen heraus sah er seinen Sprössling an.
„Gute Arbeit“, sagte er, als er sich in Bewegung setzte.
„Danke.“
„Ich weiß nicht warum, aber ich hätte nicht geglaubt, dass es auf diese Weise funktionieren könnte. Sobald wir es schaffen, die Zellen gegen Mutation zu sensibilisieren, halten wir ein Medikament in den Händen, dass alle Krankheiten heilen kann. Es heilt alle Krankheiten, weil es keine Rolle mehr spielt, um welche Krankheit es sich handelt“, flüsterte Johann Dunkelbart vor sich hin, als er sich von seinem Stuhl erhob und sich zu Frank Müller bewegte.
„Das ist brillant“, sagte Professor Dunkelbart seinem Schützling direkt ins Gesicht, als er vor ihm stand: „Sobald Sie Hilfe benötigen, lassen Sie es mich wissen. Ich werde versuchen Ihnen immer mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“
Er schlug Frank mit der flachen Hand auf die Schulter, bevor er den Raum verließ.
„Mein Student“, rief er etwas belustigt aus: „Und andere behaupten, ich solle ihn abschieben. Unglaublich.“
Professor Johann Dunkelbart verließ das Labor mit einem ungläubigen Kopfschütteln.