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Die Enge der grenzenlosen Freiheit
Das kleine Mädchen sitzt auf einem Hügel. Es ist die höchste Erhebung des Augebietes, ein klein wenig höher als der begrünte Damm selbst. Hier hat sie die Übersicht. Ist den Wolken, die in wundervollen Bildern vorbeiziehen, näher. Die Sonne wärmt und sie sieht unter sich, die Kinder auf der großen Wiese miteinander spielen. Sie beobachtet sie eine Weile und aus der Distanz gefällt ihr, was sie sieht. Das Laufen und Schreien, die Lebendigkeit der Kinder. Aber sie gehört nicht dazu. Nicht weil sie abgelehnt wird, im Gegenteil. Oft haben Jungs und Mädchen ihres Alters versucht in ihrer Nähe zu sein. Gerade eben erst hat sie ein Junge gefragt, ob sie nicht mitmachen wolle, beim Ballspiel. Sie lächelt, schüttelt den Kopf und zieht sich noch ein paar Meter weiter aus der Sichtweite der anderen Kinder zurück.
Ihr Haar ist vom Wind ein wenig zerzaust, sie mag es gerne so. So wie sie sich nicht einordnen möchte, so sollen auch ihre Haare frei herumwirbeln dürfen. Eine Sehnsucht spürt sie in sich, die sie mit anderen nicht teilen kann. Mit niemandem spricht sie darüber. Keiner fragt danach. Manchmal, wenn sie Angst hat, dass man ihr diese Freiheit nehmen könnte, wenn sie in der Klasse sitzen muss und nicht träumen darf, dann kann es passieren, dass sie einen Wutanfall bekommt. Wenn sich dann alle abwenden und keiner sich darum kümmert, was sie empfindet in diesen Momenten, dann wird sie wieder still.
So wie jetzt, wo ihr Geist eintaucht in ihr Inneres, umgeben vom Kreislauf der Natur. Die Luft ist angenehm. Sie atmet tief und fühlt sich wohl. Sie macht große Schritte, dann wieder ganz kleine, schaut zurück auf die kurzen Entfernungen die sie dabei zurücklegt. Sie lacht, lässt den Kopf in den Nacken fallen und dreht sich mit geschlossenen Augen im Kreis. Die Sonne findet ihr Gesicht und es strahlt in einem gelborangen Licht. Die Wärme legt sich wie ein beschützender Mantel um ihre kleine Gestalt. Sie legt sich auf die Wiese, die feucht ist vom herbstlichen Tau, breitet weit die Arme aus und blickt entspannt und von seeligmachender Traurigkeit in den Himmel.
Ein roter Drache, von einer langen Schnur gehalten, schlängelt sich über den Horizont. Sie träumt, dass er sie mitnimmt, immmer weiter hinauf, dorthin wo man des Nachts die Sterne zu berühren vermag. Sie schließt die Augen, lässt Bilder entstehen von Menschen in fernen Ländern, die allein unterwegs sind, in der Weite der Wüste oder im Gebirge wo die Sonne in Rosatönen untergeht.
Sie sieht hinter ihren geschlossenen Augenlidern ein wunderschönes Segelboot, das elegant über das Meer segelt. Sie sieht die Klippen an irgendeiner Küste vor sich, wo Wellen sich brechen und das Rauschen des Wassers tief in ihre Seele eindringt. Sie sieht den Adler durch die Luft gleiten und fühlt, wie er, die grenzenlose Freiheit. Immer ist es die Einsamkeit die sie in ihren Wachträumen heranholt, jene Einsamkeit in die sich selbst auch in ihrer Welt zurückzieht.
Die Mutter ruft nach ihr und wendet sich, als sie ihr Kind den Hügel herunterschlendern sieht, wieder ihrer Gesprächspartnerin zu. Das Mädchen weiß, es ist Zeit nach Hause zu gehen, wo der tägliche Streit ihrer Eltern sie wieder einholen wird. Wo die Mutter ihr dazwischen immer wieder sagen wird, wie schrecklich die Männer sind und welch Angst sie vor der Welt da draußen haben muss. Und ihr Vater wird, erheitert vom vielen Bier des Tages, lachen über die Mutter, ihre Ängste der Lächerlichkeit preis geben. Jeder wird versuchen den anderen möglichst oft mit kleinen Stichen zu verletzen, bis die Worte lauter werden und sie sich beschimpfen und das Leben zur Hölle machen.
Und keiner wird das Mädchen fragen was sie fühlt in diesen Tagen ihrer Kindheit. Wie schön wird es dann sein, sich an das Fenster zu setzen, die Ohren zu verschließen und auf Rückzug zu gehen in sich selbst, in eine Welt fern von dieser.
Manche kommen ihr Leben lang nicht mehr zurück.