Die Endoskopieschwester
Die Endoskopieschwester stapfte mit großen Schritten über den Strand. Es war Sommer, sie hatte Urlaub, aber das Wetter war alles andere als gnädig!
Ein heftiger Wind peitschte große, gischtgekrönte Wellen an den Strand, ein Wind, der ihr fast die Luft zum Atmen nahm, und gegen den sie sich nur mühsam vorankämpfen konnte.
Weit vorgebeugt schritt sie tapfer aus, die Augen zu ganz schmalen Schlitzen verengt, so das sie gerade eben noch etwas erkennen konnte, denn der Sturm peitschte ihr den feinen Sand ins Gesicht, in Mund, Nase und Augen, dass es weh tat. Da trat sie auf einen länglichen, glatten Gegenstand, es fühlte sich an, wie ein dickes Kabel . Die Hand schützend vor die Augen haltend, bückte sie sich, um den Gegenstand genauer zu inspizieren. Als sie erkannte, um was es sich handelte, prallte sie vor Schreck zurück.Sie taumelte einen Moment, fing sich dann wieder und beugte sich erneut hinab. Da lag ein Videokoloskop, ein CF V1, um genau zu sein, und zwar das Videokoloskop aus ihrer Endoskopie! Das Gerät hat einen Wert von fast fünfzigtausend Deutscher Mark, und nun lag es hier am Strand und wurde von den heranrollenden Wellen hin und hergeschleudert! Mit einer schrecklichen Vorahnung sah sie sich um, und richtig, überall am Strand verstreut sah sie Endoskope liegen, manche im Wasser, andere gestrandet, allesamt verbeult und stark beschädigt! Schnell sammelte sie die acht Endoskope ein, trug sie wie einen Arm voll toter Schlangen eilig zum Krankenhaus, das am Ende des Strands lag.
Mit einer ganz schlechten Vorahnung näherte sie sich der Tür, die in die Endoskopische Abteilung führte, und lauschte erst einmal, bevor sie öffnete. Drinnen war Stimmengemurmel zu hören, sie erkannte die Stimme ihrer Kollegin, die sie während des Urlaubs vertrat und die Stimme ihres Chefarztes.
Schnell huschte sie zu einem Nebenzimmer, öffnete die Tür und spähte hinein. Der Raum war abgedunkelt, auf einer Liege lag eine junge Frau mit einer Magensonde, aus der Blut lief. Das Blut sammelte sich in einem Beutel, der fast voll war, es war beinahe ein Liter.
Die Schwester huschte in den Raum. Legte die geschundenen Endoskope ab und trat an das Krankenlager. Besorgt sah sie, dass die junge Frau weiß wie die Wand war, sie hatte zuviel Blut verloren. Man musste schnell handeln, um sie zu retten. Entschlossen trat sie durch eine Zwischentür in den Behandlungsraum, aus dem sie vorher die Stimmen gehört hatte. Der Raum war jetzt leer!
Sie sah sich um. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, über ihrem Schreibtisch hing ein großes Plakat an der Wand, auf dem stand:
Fröhliche Weihnachten, liebe Kollegin . Und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Das ist aber seltsam, dachte sie, es ist doch mitten im Sommer! Sie eilte in die Umkleidekabine, entschlossen, hier und jetzt einzugreifen. In der Umkleidekabine war kein Vorrat an Arbeitskleidung, wie es sonst üblich war. Hastig sah sie in alle Schränke, aber nirgends war auch nur ein Zipfel blaue Schutzkleidung zu sehen.
Da hörte sie die Tür zum Untersuchungszimmer aufgehen, und ihr Chef trat ein. Er hatte einen nackten Oberkörper und trug nur eine kleine, grüne Schürze. Er wirkte irgendwie völlig lächerlich in seiner Aufmachung, und der Schwester drehte sich der Magen um.
Hastig sah sie noch einmal alle Schränke durch, und da fand sie doch noch einen Stapel blaue Wäsche, den sie vorher nicht gesehen hatte. Schnell griff sie sich eine Hose und ein Oberteil, aber dann stellte sie fest, das der Halsausschnitt ganz klein und mit Rüschen und Spitze umsäumt war. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich das Oberteil über denselben zu ziehen. Es misslang, der Ausschnitt war viel zu klein, und es gab keinen Reißverschluss oder Knöpfe, die man hätte öffnen können. Wütend warf sie das Teil in die Ecke, griff nach einem grünen OP-Kittel, der am Haken neben der Tür hing und zog ihn widerstrebend an. Sie war sich bewusst, dass der Arzt, der den Kittel vorher getragen hatte, ein Ferkel war, wenn es um Hygiene ging. Allzu oft wischte er die stuhlverschmierten Handschuhe einfach im Kittel ab, und entsorgte ihn hinterher nicht, sondern hing ihn einfach an den Haken. Aber es ging hier um Leben und Tod, also hatte sie keine Wahl und durfte nicht zimperlich sein.
Sie holte einmal tief Luft und trat entschlossen in den Untersuchungsraum. Erstaunte Blicke trafen sie, es waren zwei Gastärzte anwesend, die sie nicht kannte, einer von ihnen war ein Japaner. Alle hatten diese albernen Schürzen umgebunden und waren oben nackt, ein Anblick, der keinen Respekt aufkommen lassen konnte!
Sie bemühten sich vergeblich, einem jungen Mann, der überhaupt nicht betäubt war, einen Schlauch in den Schlund zu würgen. Der Patient tobte und wehrte sich, die zwei Gastärzte hielten ihn krampfhaft fest, damit er ihnen nicht vom Tisch hüpfte, von der Kollegin war keine Spur zu sehen.
Ärgerlich zog die Schwester ein starkes Beruhigungsmittel auf und verabreichte es dem tobenden Patienten. „Sie überschreiten ihre Befugnisse!“ kritisierte einer der Gastärzte stirnrunzelnd diese Tat. „Das geht schon in Ordnung,“ warf schnell der Chefarzt ein, „Gentlemen-Agreement!“ Und er wandte sich wieder dem zusehends ruhiger werdenden Patienten zu. „Ich habe am Strand unsere sämtlichen Endoskope gefunden,“ flüsterte die Schwester dem Chef ins Ohr. „Das ist die neue Frischluftbehandlung, die Hygiene-Fachkraft hat sie entwickelt, macht das Gummi schön geschmeidig!“ entgegnete dieser.
Stirnrunzelnd besah die Schwester sich die traurigen Überreste der wertvollen Endoskope. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte!
Mittlerweile war man mit der Spiegelung fertig, drückte ihr das schmutzige Endoskop in die Hand und das Ärztetrio wandte sich zum Gehen. „Halt!“ schrie die Schwester, „ was ist mit der Magenbluterin im Nebenraum? Sie hat mindestens einen Liter Blut verloren. Ist Kreuzblut abgenommen? Sind Konserven bestellt? Wir müssen da doch sofort unterspritzen oder clippen!“
„Dazu ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt,“ murmelte der Japaner. Und der zweite Fremdarzt sagte: „Sie ist nicht privat versichert! Und es war auch kein Arbeitsunfall! Hat also keinen Anspruch auf besondere Heilbehandlung. Soll zum Hausarzt gehen.“ Und sie wandten sich abermals zur Tür. In Panik stürzte die Schwester an ihnen vorbei, und blockierte den Ausgang. „Das kann ja wohl nicht ihr Ernst sein!“ schrie sie, und ihre Stimme kippte über vor Empörung.
„Doch, meine Dame, §15 Absatz 12b. Wenn sie uns nun bitte entschuldigen würden?“ Widerwillig ließ die Schwester sich zur Seite schieben und die halbnackten Ärzte verließen den Raum.
Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen sah sie zu der jungen Frau, die ein merkwürdiges Gurgeln von sich gab. Voller Entsetzen sah sie, wie das Blut aus ihrem Mund hervorsprudelte, einem Springbrunnen gleich, und zu beiden Seiten des Gesichts, das jetzt wächsern aussah, herabfloss und auf den Boden tropfte. Sie hörte die klatschenden Tropfen, patsch, patsch, patsch – und dann realisierte sie, dass es ihr Hund war, der an der Terrassentür kratzte, weil es Morgen war und er heraus wollte, sich zu erleichtern.