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Die Eisenkirche
Sanfter Tau tropfte von den Baumüberhängen, als die ersten Lichtstrahlen sich bereits vom Horizont durch die Wolken bohrten. Bis auf einige kühle Brisen schien der Winter nun endgültig vorbei in dem kleinen französischen Städtchen namens Crusnes, nahe der belgisch-luxemburgischen Grenze.
Schaffet fleiss´ge Arbeiter
Wühlet unterm Berg
Mal hie mal da rasselten hölzerne Fensterläden auf und die feuchte Morgenfrische verbreitete sich in den noch dunklen Einfamilienhäusern, Reih an Reih aufgestellt als würden sie dem Berg trotzen wollen. Ein angenehmer Duft von Gebackenem und frisch aufgesetztem Kaffee erfüllte die Luft, als die ersten Bergmänner sich bereits auf den Weg zu den Minen machten.
Murmelnd beobachtete ein kleines Mädchen, wie die stämmigen Männer mit ihren wuchtigen Hämmern, frisch geschärften Äxten und abgetragenen Grubenlampen einer nach dem anderen in den dunklen Schächten verschwanden, begleitet von schwerfälligem Radgequietsche, das aus dem Innern der Mine empordrang.
Schaufeln klingen, Steine malmen
Das Eisen aus dem Berg
„Sophie!“, ertönte eine fürsorgliche Stimme aus dem kleinen Haus gleich gegenüber dem Kieselpfad, der zu den Minen führte. „Komm schon, du weißt doch, dass die Schule bald beginnt…, Sophie?“
Sophie wusste, dass in Crusnes nahezu alle kampffähigen und gesunden Männer in den Militärdienst einberufen worden waren und in den Krieg zogen. Und diejenigen, an denen der Kelch vorübergegangen war, wühlten sich durch Berge oder arbeiteten in einer der zahlreichen Fabriken, um dem Erz das Eisen zu entziehen. So wie einst ihr Vater, ein in die Jahre gekommener Mann von großer Statur, ein stolzer Minenarbeiter, den der Berg dann schlussendlich doch in die Knie zwang.
„Es war ein grausamer Unfall!“ dachte Sophie, weiter vor sich hinmurmelnd.
Aus dunklen Schächten stammt es her
Das Eisen aus dem Berg
Versunken in den Phrasen des Liedes stellte Sophie fest, dass sie bereits bis zu dem großen Platz in der Mitte des Dorfes gelaufen war, dem Kirchplatz, an dem jeden ersten Mittwoch im Monat der Markt stattfand. In den Schulferien durfte sie ihre Mutter bei den Einkäufen begleiten und erhielt jedes Mal, wenn sie brav war, einen Zuckerkuchen. Der Gedanke an das süße Naschwerk trieb ihr den Speichel in den Mund.
Sophie blickte nach oben. Das Kreuz, welches oben am Kirchengiebel thronte und das Dorf still und unscheinbar überblickte, stach ihr sofort ins Auge. Es war aus Eisen! Die ganze Kirche war aus Eisen!
„Sophie!“, hallte ein eindringlicher Ruf aus der Ferne.
Sophie schien ihn aber nicht zu vernehmen. Das Eisengerüst faszinierte sie zu sehr.
„SOPHIE!“
Will´s verwenden, schmiede´s leise
Zu ´ner Kirche aus Eisen
In dem Moment flutete ein greller Lichtblitz den Horizont im Osten, gefolgt von einem tieftönigen Donner. Der Boden bebte leise, fast rhythmisch. Sophie zuckte zusammen, blickte zum Himmel auf. Ein zweiter und ein dritter Lichtblitz, ein zweiter und ein dritter Knall in der Ferne.
„SOPHIE, KOMM! SCHNELL!! “, bellte die Mutter während sie das Gatter zum Vorgarten aufriss.
In Bruchteilen von Sekunden brannte der Himmel, ein pfeifendes Geräusch näherte sich dem Städtchen. Sophie erfreute das Schauspiel, der blau und rot erhellte Himmel. Sie lächelte.
Der Boden zu ihren Füßen wurde auseinander getrieben. Die Detonation schaufelte einen Graben von der Größe eines Pferdekarrens frei. Staub wirbelte auf. Die sich ausbreitende Druckwelle schleuderte das Mädchen gegen die kahle, feste Kirchenwand. Sie war sofort tot.
Ein zweiter und dritter Kanoneneinschlag durchbohrten ohne Mühe die dünne Metallkonstruktion der Kirche.
Aus Bergmännern und Müttern wurden Kämpfer ohne Hoffnung in einem Krieg, der nicht ihrer war. Und ohne Hoffnung verbleibt nur der Tod.
Das Eisenkreuz – standhaft - überdauerte die Zeit.