Die Einsamkeit verschwindet
Das Treppenhaus eines maroden Bürogebäudes - ein Plattenbau, aus alter vergangner Zeit, heute Sitz einer jungen aufstrebenden Firma, seiner Firma, für die Alexander seit einem dreiviertel Jahr arbeitete. Sehr viele Menschen gingen täglich ein und aus, zwei Fahrstühle standen zur Verfügung, um schnell in die höheren Stockwerke zu gelangen, auch wenn der schnelle Aufstieg nicht viel brachte, wenn man erst fünf Minuten warten musste, bis der Lift endlich kam - in der Zeit konnte man auch zu Fuß oben sein.
Es war Spätnachmittag, der Anfang vom Ende eines Frühlingstages. Er betrat das Gebäude durch den sich automatisch öffnenden Haupteingang, die einzige und seiner Meinung nach eher überflüssige Modernisierung am Haus, die in den letzten Jahren vorgenommen wurde.
Es war still in dem kurzen Flur, der zu den Fahrstühlen und dem daneben liegenden dunklen Treppenhaus führte. Obwohl er Glück hatte und beide Aufzüge mit geöffneten Türen auf Mitfahrer warteten, war er in der Stimmung, die Treppen bis in den zehnten Stock zu Fuß emporzusteigen und seine Schritte von den Stufen widerhallen zu hören. In jeder Etage gab es Glastüren, hinter denen sich langgezogene Flure mit vielen Büros erstreckten, und er fand es interessant, während des Aufstiegs kurz in sie hineinzublicken.
Nach über drei Minuten war er im fünften Stock angekommen - Alexander war sehr langsam gelaufen, hatte den Klang eines jeden Schritts genossen, hatte sich auch die bunten Plakate und Zettel, die an den Wänden klebten, angesehen - und wieder schaute er in den Flur dieser Etage.
Ganz hinten, vor einer verschlossenen Tür, als einziger Mensch, den er seit Betreten des Gebäudes gesehen hatte, stand eine junge schwarzhaarige Frau. Obwohl sie so weit entfernt war, glaubte er, einen melancholischen und etwas hilflosen Gesichtsausdruck zu erkennen. Die Frau war klein, trug eine braune Jacke und eine dunkelblaue eng geschnittene Jeans, auf dem Rücken trug sie einen grauen Rucksack. Sie ging einige Schritte vor der Tür auf und ab, blickte ein paar Mal zu Boden, schüttelte den Kopf, machte den Eindruck, als würde sie an die Tür anklopfen, tat es dann aber doch nicht. Anscheinend suchte sie jemanden oder etwas, oder sie hatte etwas gesucht und es auch gefunden, traute sich aber nicht, die Tür zu öffnen, war unsicher.
Unsicher und melancholisch... Frauen, die einen solchen Eindruck erweckten, übten auf Alexander eine unwiderstehliche Faszination aus - er wollte wissen, ob er sich es nur einbildete, und wenn nicht, so wollte er erfahren, was diese Gefühle auslösten. Er wollte helfen, wenn er konnte... er wollte sie kennenlernen.
Alexander schaute kurz auf seine Uhr. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, so unterbrach er seinen Aufstieg und trat an die Glastür heran. Er griff nach der glänzenden Klinke und drückte sie, zog die Tür auf. Sie scharrte auf der blaugrauen Auslegware, mit der die Fußböden aller Etagen bedeckt waren. Er betrat den Flur, ging langsam in Richtung der Frau. Einige Sekunden vergingen, dann fiel die Tür wieder ins Schloss, bis es soweit war, war die Entfernung Alexanders zu der Frau auf wenige Meter geschrumpft. Sie bemerkte ihn, sah ihn an, lächelte schüchtern, schien etwas fragen zu wollen, es sich aber zu verkneifen.
"Hallo... kann ich Ihnen helfen?" fragte Alexander und blickte sie freundlich und, wie er hoffte, mit sanften, vertrauenserweckenden Gesichtszügen, an. Vertrauen erwecken, das war sein Ziel, denn vielleicht konnte daraus irgendwann Freunschaft werden, und er brauchte einen Freund. Vorzugsweise weiblich, denn mit Frauen konnte er sich viel besser unterhalten als mit Männern. Zumindest über die Dinge, die ihm wirklich wichtig waren. Sie waren gefühl- und verständnisvoller. Die meisten jedenfalls. "Hm... ja, vielleicht... können Sie mir sagen, wo ich den Leiter der Finanzabteilung finde?"
Es kam Alexander falsch vor, dass diese Frau so etwas sagte... sie sollte gar nicht hier sein, passte nicht in das kalte Ambiente des Bürohauses. Sie war zart und zerbrechlich, hatte eine leise Stimme. Sie strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht, eine schöne Hand, Alexander mochte ihre schlanken Finger, sie vermittelten ihm den Eindruck, es mit einer Künstlerin zu tun zu haben. Endlich antwortete er, meinte, die Finanzabteilung wäre seit über einer Stunde geschlossen und die Frau müsse morgen wiederkommen. Ihre Augen weiteten sich, blaue Augen in einem Gesicht, das jetzt eine Mischung aus Enttäuschung und Freude zeigte - eine Freude, so als wäre die Frau um etwas Unangenehmes herumgekommen. Alexander atmete tief ein und aus, dann gab er sich innerlich einen Ruck. "Es gibt hier ein kleines Café in der Straße. Gehen wir einen Kaffee trinken?" fragte er, und zu seiner Überraschung reagierte die Frau zwar erst sehr verwundert, nickte dann jedoch und zeigte ein schönes Lächeln.
Sie gingen zum Fahrstuhl, riefen ihn, hörten das Quietschen der Maschinen, die ihn antrieben, dann ging seine Tür auf und sie betraten den Raum, in dem gelb flackerndes Licht auf braune Holzvertäfelungen fiel. "Es ist immer wieder ein Abenteuer mit diesen Aufzügen zu fahren..." meinte Alexander, die Frau lächelte. Obwohl er solche Gedanken eigentlich verabscheute, stellte Alexander sich kurzzeitig vor, es würde zu der typischen Klischee-Situation kommen, in der sie beide mit dem Lift steckenbleiben würden. Es war warm hier drin... nach einer Weile würden sie sich einiger Kleidungsstücke entledigen, vielleicht würde die Frau auch Angst haben, er würde sie dann trösten... Er seufzte, aber die Frau bemerkte es nicht. Ein Ruck kündigte das Ende der Fahrt an. Die Türen gingen auf, sie verließen das Gebäude und gingen in das von Alexander erwähnte Café.
Es war Abend, Alexander lag müde in seinem Bett. Er hatte sich lange mit der Frau, deren Name Sarah gewesen war, unterhalten und dabei beinahe die Sitzung vergessen, wegen der er eigentlich in die Firma gekommen war. Er kam zu spät, entschuldigte sich, war aber die ganze Zeit sehr abwesend und nicht bei der Sache. Sarah ging ihm nicht aus dem Kopf und auch jetzt, einige Stunden später, musste er an sie denken.
Sie war faszinierend gewesen. Geheimnisvoll. Und schön. Erst zögerte er, sich das einzugestehen, denn es ließ ihn in seinen Augen schäbig und oberflächlich erscheinen, doch er hatte während ihres Gesprächs mindestens einmal sehr... sinnliche Gedanken gehabt die in seiner Vorstellung sie beide betrafen. Sie hatte sich die Jacke ausgezogen gehabt, darunter war ein seidig glänzendes Oberteil zum Vorschein gekommen unter dessen beigen Stoff sich ganz unschuldig die Knospen kleiner aber rund und fest wirkender Brüste abzeichneten. Während sie in dem Café saßen, Sarah mit ihm redete und ihren Kaffee trank, sah er auch immer wieder auf ihre Hände, die ihre Tasse hielten. Die Finger bewegten sich geschmeidig, die Nägel waren mit einem durchsichtigen Lack überzogen, der nur schützte, aber nicht auf diese penetrant aufdringliche Weise ins Auge stach, die ihn bei vielen anderen Frauen so störte.
Als er sich dann wieder erinnerte, dass er noch etwas zu tun hatte, verabschiedeten sie sich. Als Sarah von ihrem Stuhl aufstand, streckte sie sich und das Oberteil rutschte ein Stück weit nach oben, so dass Alexander einen Teil ihres hellbraun gebrannten Bauches sehen konnte. Sie nahm ihre Jacke und zog sie an, dann drehte sie sich um, Alexander folgte ihr, ließ seinen Blick die Rückseite ihres Körpers heruntergleiten, verweilte ein wenig auf ihrem Po, rief sich dann selbst zur Ordnung, gab ihr die Hand, meinte, vielleicht sehen sie sich ja noch einmal und machte sich dann schnellen Schrittes auf zu der Besprechung...
Und nun lag er hier, das Licht war ausgeschaltet, seine Augen geschlossen, doch er schlief nicht. Die Begegnung mit ihr lief immer wieder vor seinem inneren Auge ab und seine Phantasie veränderte den Ablauf jedes Mal auf eine neue Weise, doch am Ende lief es immer darauf hinaus, dass Sarah und er sich mehr als nur freundschaftlich näher kamen...
In seinen Gedanken waren sie in ihrer Wohnung, sie hatten Wein getrunken. Er starrte sie an, er spürte sein Herz rasen, Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und dem geröteten Gesicht. Sarahs Augen drückten Nervosität aus, es kam ihm fast vor wie leichte Angst. Er trat auf sie zu, berührte sie ganz sanft an den Schultern, zog sie an sich heran und strich ihr die Wange herunter und dann die Lippe entlang. Sie öffnete ganz schwach den Mund, Alexander nahm an, sie wollte protestieren, doch sie nahm die Spitze seines Zeigefingers in den Mund und umspielte ihn mit der Zunge. Als sie ihn wieder losließ, griff er ihr an das Kinn und zog ihren Kopf zu sich. Er küsste sie, sehr vorsichtig, und sie erwiderte den Kuss, sie spielte mit seinen Lippen und seiner Zunge, und er ließ es geschehen. Sie roch so gut...
Für einen Moment löste sie sich von ihm, blickte ihn schweigend an, dieser Moment zog sich für Alexander dahin, quälend langsam, was würde sie tun? Ihn fortschicken? Doch es war seine Phantasie, es konnte geschehen, was er geschehen lassen wollte, und so zog sie sich ihr von kleinen Schweißflecken bedecktes Oberteil aus. Er blickte auf ihren BH, unter dessen glatten weinroten Stoff ihre Brustwarzen deutlich hervortraten...
Und Autoreifen quietschten, draußen vor dem Fenster, sie erschraken ihn, rissen ihn zurück in die dunkle Realität und sagten ihm: Phantasie, nichts weiter... Und Alexander wurde bewusst, dass dieses Träumen zu nichts führte. Er konnte sich jetzt schöne Dinge vorstellen, er konnte sich, hier, allein, in seinem Bett, kurzfristiges, nur Sekunden dauerndes Vergnügen verschaffen, das aber kein wirkliches Glück war, denn er war allein... Noch immer dachte er an sie, aber jetzt mit einem schlechten Gewissen... sie war so nett gewesen, was würde sie von ihm jetzt halten? Verdammt... Frustiert seufzte er, drehte sich dann auf die Seite und versuchte einzuschlafen.
Er wusste am nächsten Morgen nicht, ob es Traum oder doch noch Wirklichkeit war, er tendierte zu einem Traum mit wirklicher Bedeutung für sein Leben, als Kompromiss zwischen den zwei Möglichkeiten - das Licht, das plötzlich in seinem Zimmer aufgetaucht war, ein warmes einladendes Leuchten...
Es weckte ihn auf mit seiner Helligkeit, er rieb sich die Augen und starrte es verwundert, aber nicht sehr ängstlich an. Er schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und trat auf das Licht zu, mit jedem Zentimeter wurde es wärmer. Er wollte das Licht berühren... als er nur noch vierzig Zentimeter entfernt war und die Temperaturen gerade noch erträglich waren, streckte er den Arm aus, getrieben von dem unverständlichen und unstillbaren Drang, das Licht an seinem Körper zu fühlen...
Liebe ging von dem Licht aus, Liebe, die nur für ihn da war... die Einsamkeit würde verschwinden, sobald er es berührt hatte... doch als er den Arm weiter streckte, wurde auch die Hitze immer stärker und zwei Zentimeter vor dem Licht war es unerträglich und er zog den Arm zurück. Das Licht wurde schwächer, Alexander nahm an, es würde vielleicht auch etwas kühler geworden sein, und so versuchte er es erneut. Doch er hatte sich getäuscht, noch immer war es viel zu heiß für ihn, die Angst ließ ihn erneut zurückzucken. Und wieder verlor das Licht an Leuchtkraft.
Wenn es ein System dabei gab, wenn es mit jedem missglückten Berührungsversuch blasser wurde, so würde es beim nächsten Mal verschwinden und ihn allein lassen...
Nur eine Chance noch... er holte tief Luft, führte den Arm erneut zum Licht, erst vorsichtig, dann aber streckte er ihn einfach in das Licht hinein, mitten ins Zentrum, schloss die Augen, ignorierte den plötzlich aufflammenden Schmerz - und das Licht wurde wieder stärker und der Schmerz verschwand - er hatte es geschafft, das Hindernis zu überwinden, nun wurde er mit noch mehr Liebe als zuvor verwöhnt, das Licht dehnte sich aus, umschloss ihn, überflutete ihn mit Glück.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er eine wunderschön aussehende, fast heilig wirkende Frau vor ihm stehen. Sie hatte blonde Haare, war etwas kleiner als er und trug ein weiß strahlendes trägerloses kurzes Kleid. Ihr Mund zeigte ein schwaches Lächeln. Alexander erwiderte es und ging zu ihr, führte seine Hände zu ihren. Ihre Haut war weich und von einer sehr angenehmen Wärme. Das Kleid löste sich wie von selbst und glitt wie schwerelos zu Boden. Sie stand nun nackt vor ihm, ein wunderschöner Körper, jung, unschuldig, und nur für ihn da. Es musste eine physische Manifestation des Lichtes sein, dachte er, noch eine Art, ihm Liebe zu schenken.
Er ließ sich ohne zu zweifeln darauf ein und zog die Frau - das Wesen, das wie eine Frau aussah - an sich. Er umarmte sie zunächst, küsste sie dann, streichelte mit den Händen ihre schönen Brüste, deren Knospen sich aufgerichtet hatten und Sekunden später von seinen Lippen umschlossen wurden während die Hände den flachen Bauch hinabglitten, in kreisförmigen Bahnen darüberstrichen während sie sein steifes Glied mit den Händen massierte.
Doch Alexander musste eigentlich gar nichts tun - ebensowenig wie das Wesen - ganz automatisch geschah es, dass er in sie eindrang - dass sie ihn in sich aufnahm und sie zu einem einzigen Wesen wurden, das in stundenlang erscheinender Verbindung durch den Raum - durch das Zimmer zunächst und dann durch den Weltraum, als das Haus und die Erde zu klein geworden waren für ihre stetig wachsende Größe - schwebten. Das Glücksgefühl, das Empfinden des nie-wieder-allein-seins war überwältigend, es war körperlich und seelisch, es war das einzige, was in diesem Moment für Alexander zählte...
Am nächsten Tag ging Alexander gut gelaunt und voller Tatendrang zur Arbeit, er dachte zunächst kaum an Sarah, erinnerte sich vielmehr mit einer gewissen Sehnsucht an seinen Traum zurück und wünschte sich, er könnte so etwas befreiendes, Glück erzeugendes und die Einsamkeit vertreibendes erneut erleben. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in die achte Etage, in der sein Büro lag, ging durch die Glastür und - traf auf Sarah, die vor der Bürotür auf dem Boden saß und anscheinend auf ihn wartete.
Als sie ihn sah, stand sie schnell auf, lächelte auf eine scheue Art und meinte, sie müsse unbedingt mit ihm reden. Kurz fiel ihm seine gestrige Phantasie ein und ließ ihn rot im Gesicht werden, er hoffte, es fiel ihr nicht auf. Doch - sie wollte reden... also blieb es nicht bei der einmaligen Begegnung... eine, objektiv betrachtet eigentlich unbegründete, Hoffnung auf das reale Ende der Einsamkeit bildete sich in ihm - vielleicht war der Traum eine Vorahnung gewesen... seine Laune war zu gut, als dass er diesen Einfall jetzt bezweifeln wollte, und erneut gingen sie Kaffee trinken.
[ 04.05.2002, 19:23: Beitrag editiert von: Mario D. ]