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- 08.07.2012
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Die Einsamkeit des Bogenschützen
Sie kamen im Mondlicht, ein großer Wolf folgte ihnen. Es waren zwei Sammler, gut ausgestattet mit dicker, winterfester Kleidung, Rucksäcken, Waffen. Maya lag auf dem gefrorenen Boden hinter einem Wildrosenstrauch und beobachtete die Fremden. Sie hörte bereits das Knirschen ihrer Schritte im Schnee.
Der Wolf hielt inne, hob witternd den Kopf, doch die beiden Männer beachteten ihn nicht. Sie legten ihr Gepäck ab, entsicherten die Gewehre und näherten sich dem Blockhaus.
Maya hatte hier seit Ewigkeiten keine Fremden gesehen. Das Gebiet taugte nicht zum Sammeln, in der Taiga waren hochwertige Ressourcen knapp. Im Umkreis mehrerer Tagesmärsche gab es nur eine Handvoll menschlicher Behausungen, deshalb machten Gangs einen Bogen um die Wälder und terrorisierten lieber die Bewohner der Grenzdistrikte.
Maya schob den Lauf ihrer Flinte durch die Zweige und drückte den Schaft gegen ihre Schulter. Da war es wieder, dieses Gefühl, das sie fürchtete. Dieser Schmerz in der Brust, das Pochen in den Ohren. Sie kannte das verzweifelte Durchrechnen von Alternativen, die Suche nach einem Ausweg: Den Kopf unten halten, den richtigen Moment abpassen, dann losrennen und sich bis zum alten Jack durchschlagen. Es wäre ein Marsch von drei oder vier Stunden. Nein, ausgeschlossen. Sie würden sie hetzen, fangen, vergewaltigen und töten. So lief es hier, und niemanden wunderte das, obwohl es andere Zeiten gegeben hatte. Zeiten, in denen von Gemeinschaft, Solidarität und unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten die Rede gewesen war. Unbegrenzte Gestaltungsmöglichkeiten – was die plündernden Banden jetzt darunter verstanden, hatte Maya am eigenen Leib erfahren.
Sie legte den Finger an das Abzugszüngel, kniff das linke Auge zu und zielte. Der Busch, hinter dem sie sich verbarg, mochte sie vor den Blicken der Männer schützen, aber einen Wolf konnte man so nicht täuschen. Das Tier näherte sich schon ihrem Versteck.
Als die im Schnee vergrabene Bärenfalle zuschnappte und mit ihren gezahnten Eisen einem der beiden Männer den Unterschenkel zermalmte, krachte Mayas Gewehr.
»Und was ist das?« Jenny deutete auf den Metallstreifen, der nahe der Pfeilauflage seitlich an den Bogen ihrer Schwester montiert war.
»Das ist der Klicker«, sagte Maya und blinzelte. Die Maisonne stand schon hoch über der Trainingsanlage. Die Flaggen auf den Zielscheiben und längs der Schießbahn schaukelten träge im Wind.
»Aha. Und wozu brauchst du den?«
Maya zog einen Pfeil aus ihrem Köcher, setzte ihn auf die Auflage und schob ihn unter dem Metallstreifen hindurch.
»Der Klicker drückt den Pfeil jetzt gegen den Bogen, siehst du?«
»Hm, und weiter?«
»Wenn ich den Bogen spanne und den Pfeil zurückziehe, rutscht der Klicker über die Spitze und schlägt an.«
»Und wenn es klickt, dann schießt du?«
»Ja, genau in dem Moment.«
Jenny nickte. »Verstehe. Das macht den Schuss präziser.«
»Es hilft, die Bewegung auf den Millimeter genau zu wiederholen. Ein Schütze macht immer wieder das Gleiche.«
Jenny beobachtete, wie ihre Schwester das Endstück des Pfeils in die Sehne klemmte und sich auf den Schuss vorbereitete. Obwohl sie sich nie für die Details dieses Trainings interessiert hatte, gab es da etwas, das sie am Bogenschießen faszinierte. Es war der Moment des Zielens, ein Augenblick, dem eine besondere Magie innewohnte, denn er schien Maya zu verwandeln. All die Schwere fiel dann von ihr ab, all die Melancholie, das ewige Moll ihres düsteren Brütens, und übrig blieb ein einziger leuchtender Gedanke, ein klarer Blick auf das Ziel. So jedenfalls wirkte es auf Jenny, wenn sie - wie jetzt - das Gesicht ihrer Schwester in den Sekunden vor dem Schuss betrachtete.
Mit einem peitschenden Knall schnellte die Sehne nach vorn, und der Pfeil zischte davon. Jenny hörte das dumpfe Klack des Einschlags. Sie hob den Feldstecher und schaute hindurch.
»Neun, oben rechts«, meldete sie.
Maya legte den nächsten Pfeil ein. »Wie läuft's denn so zu Hause?«
Jenny setzte das Glas ab und warf ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Sie machen sich irre Sorgen. Das weißt du ja wohl«, sagte sie schließlich.
Maya justierte den Sitz ihres Fingerschutzes, ergriff die Sehne und hob den Bogen. »Ich weiß«, erwiderte sie. »Aber es ist mein Leben.«
Das Carbon der Wurfarme ächzte leise, als sie den Bogen spannte. Wieder folgte ein Moment der Bewegungslosigkeit und Stille. Und schließlich, wie ein Seufzen, dieses peitschenartige Geräusch beim Abschuss.
Jenny wandte sich den Zielscheiben zu und schaute durch das Glas. »Neun, Mitte rechts«, sagte sie.
In den vergangenen Monaten hatten die beiden jungen Frauen diese Diskussion so oft geführt, dass es zu dem Thema eigentlich nichts mehr zu sagen gab. Und dennoch konnte Jenny es nicht dabei belassen. »Dein Leben? Das du wegwirfst, aufgibst, wegen dieses verdammten Spiels, wegen dieser kranken Scheiße?«
Mayas Züge wurden hart. Sie machte sich für den nächsten Schuss bereit. »Du kapierst gar nichts, kleine Schwester«, presste sie hervor.
»Da hast du recht«, gab Jenny zurück. »Verstehe ich wirklich nicht, weshalb du von deiner Familie abhaust, dein Studium cancelst, dich nicht mehr bei deinen Freunden meldest. Und um was zu tun?«
Maya schwieg. Sie hob den Bogen und starrte in die Ferne.
»Ich weiß nicht einmal, was du da eigentlich machst», fuhr Jenny fort. »Wie du das Geld verdienst, von dem du immer redest. Du steigst in deinen Anzug, setzt dir den Helm auf oder diese Brille oder was auch immer. Und dann?«
Maya spannte den Bogen. Ihre Augen wurden schmal, und ein feines Zittern ließ ihre Lippen beben.
Jenny beobachtete, wie sich die Pfeilspitze dem Klicker näherte. Nur noch zwei, drei Millimeter, dann würde der dünne Metallstreifen überspringen.
»Ich glaube, du spielst da die Hure.« Ein Moment totaler Stille folgte. Diese Stille verschluckte das Rascheln der Flaggen, selbst das Geräusch des Windes erstarb.
Maya setzte den Bogen ab. Sie starrte ihre Schwester an. Es lag kein Zorn in ihrem Blick, nur Fassungslosigkeit.
»Maya!« Jenny schlug die Hände vor den Mund. »Tut mir leid! Das war Scheiße. Sorry! Ich ...«
Maya zog den Pfeil von der Sehne und steckte ihn zurück in den Köcher. Sie wandte sich um, löste die Bogenschlinge an ihrem Handgelenk.
»Ich habe einfach Angst um dich«, sagte Jenny leise. Tränen standen in ihren Augen. »Wir hören so viel fiesen Mist von dem Spiel!«
Maya stellte den Bogen auf den Bogenständer. »Komm«, sagte sie. »Gehen wir die Pfeile holen.«
In der Blockhütte bewegten sich Schatten an den Wänden. Das Feuer im Kanonenofen knackte, und noch immer hing das Aroma von gebratenem Wolfsfleisch in dem kleinen Raum. Acht Schritte von der Tür bis zum Bett, drei Schritte vom Spind bis zur Werkbank. In der Ecke der Ofen, an der Wand ein Regal - viel mehr gab es hier nicht. Viel mehr brauchte Maya hier nicht.
Sicher, mussten nach einer erfolgreichen Jagd Pelze und Därme zum Trocknen aufgespannt werden, wurde es eng. Dann fehlte es an der nötigen Bewegungsfreiheit, wenn Maya ihre Waffen reinigen oder ihre Kleider flicken wollte. Doch hier in der Taiga konnte kein Mensch ein großes Haus beheizen. Nicht, dass es an Brennmaterial gemangelt hätte. Aber das Sammeln und Zerkleinern von Holz war mühsam, zeitaufwendig und manchmal gefährlich. Bären und Wölfe machten den Menschen in den Wäldern das Leben schwer, und es gab noch andere Kreaturen, vor denen man sich in Acht nehmen musste.
Die Leichen der beiden Sammler hatte Maya fortgeschafft. Sie lagen jetzt ein paar hundert Meter von der Hütte entfernt im Schnee. Bei Tagesanbruch würden die Krähen sie entdecken, ein großes Gezeter veranstalten, und dann würden sich die Tiere des Waldes um die Reste kümmern.
Maya starrte in das Feuer. Sie ließ die Klappe des Ofens gern offen stehen, denn sie liebte es, in die Flammen zu schauen. Als sie vor zwei Jahren begonnen hatte, mit verschiedenen Beheizungstechniken zu experimentieren, war sie auf die Idee gekommen, aus Schrottresten einen Feuerkorb zu konstruieren, der mehr Luft an die Flammen ließ. Es funktionierte hervorragend. Der Ofen entwickelte größere Hitze, das Feuer brannte länger und qualmte nicht mehr so stark.
Waren solche Erfolge ein Grund dafür, dass sie irgendwann angefangen hatte, dieses Leben dem realen vorzuziehen? Und was bedeutete das – Realität? Nichts würde sie jemals davon überzeugen können, dass die Erfahrungen, die sie hier gemacht hatte, nicht real sein sollten. Oder war dieser Gedanke schon Ausdruck eines Wahns?
In diesem Moment zuckte Maya zusammen. Der alte Jack, schoss es durch ihren Kopf. Sie sprang auf, schloss die Ofenklappe und packte hastig ihren Rucksack. Munition, ein Messer, das Erste-Hilfe-Päckchen, etwas Proviant. Sie warf sich den schweren Bärenfellmantel über, schlüpfte in ihre Stiefel, ergriff die Schneeschuhe und ihre Flinte.
Als der Summer des Appartements losging, saß Maya in der Zimmerecke und rauchte. Wer auch immer dort unten vor dem Haus stand, sie hatte nicht die geringste Lust, sich bei ihren Grübeleien stören zu lassen. Doch der Summer wollte einfach nicht verstummen. Fluchend rappelte sich Maya hoch.
»Ja?«
Auf dem Monitor der Kommunikationseinheit erschien das blasse Gesicht eines Mannes, der wie einer dieser verdammten Missionare der Neuen Kirche Norwegens aussah.
»Ich ... Ich möchte mit Ihnen sprechen, es dauert nicht ...«
»Kein Interesse.« Maya hatte die Verbindung unterbrochen und wandte sich um, als der Summer erneut losging.
»Scheiße nochmal, ich hab Ihnen doch gesagt ...«
»Bitte ... Ich bin hier wegen Ihrer Anzeige. Ich habe einen Job für Sie. Zwanzigtausend sind für Sie drin. Lassen Sie uns kurz darüber sprechen.«
Maya hielt inne. Der Typ sah nicht gerade gefährlich aus. Eher traurig und erschöpft.
»Warten Sie im Diner am Ende der Straße auf mich.«
»Okay, vielen ...« Maya hatte sich abgewandt, und das Gesicht des Mannes verschwand vom Monitor.
Der beschissenste Auftrag im Spiel schien immer noch besser, als der Mist, mit dem man sich hier auseinandersetzen musste. Nein. Das stimmte nicht. Die Bilder der vergangenen Nacht tauchten wieder vor ihr auf. Jack. Max. Das Blut im Schnee ... Jenny hatte recht. Es war kranke Scheiße, die da ablief. Wie oft hatte Maya daran gedacht, auszusteigen, aufzuhören, den Anzug und das andere Equipment zu verkaufen. Aber dazu war es nie gekommen, weil es im Grunde nur zwei Dinge in ihrem Leben gab, die ihr wirklich etwas bedeuteten. Und das Spiel so zu spielen, wie sie es tat, war eines dieser Dinge.
Maya ergriff das Springmesser, das auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lag und ließ es in die Seitentasche ihrer Hose gleiten. Sie warf einen Blick auf das Display ihres Telefons. Kein Anruf. Keine Nachricht. Während sie ihre Doc Martens schnürte, dachte sie daran, dass ihr nach den Jahren des Spielens nur zwei Menschen geblieben waren. Jenny und Forge. Ziemlich armselig. Aber wer zum Teufel legte fest, dass man die Qualität des Lebens an der Anzahl der Freunde zu bemessen hatte. Maya schüttelte den Kopf. All diese Gedanken waren nutzlos. Völlig nutzlos.
Als sie das Diner betrat, wurde ihr bewusst, dass sie seit Ewigkeiten nichts gegessen hatte. Sie erkannte den Mann mit dem traurigen Gesicht sofort und setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Also«, sagte sie und zog sich den Aschenbecher heran. »Worum geht´s?«
Der Mann schaute sie aus müden Augen an und sagte leise: »Ich möchte, dass Sie meinen Sohn töten.«
»Aversionstherapie«, wiederholte Forge und streckte sich auf seiner Liege aus. »Was soll'n das sein?«
»Er glaubt, dass sein Sohn das Spiel aufgibt, wenn ich ihn oft genug töte«, erwiderte Maya.
Forge betrachtete die Glut des Joints, den er in seiner Hand hielt. »Stimmt schon, das kann dich ficken, wenn du alles verlierst und wieder bei Null anfängst. Aber wozu gibt es Versicherungen?«
»Die Versicherungen decken jetzt nur noch das Eigentum eines Spielers ab, aber nicht seine Fähigkeiten.«
»What?«
Maya nickte. »Wenn du drauf gehst, kannst du danach nicht mal mehr 'nen Feuer im Wald machen. Du musst alles wieder neu lernen.«
Forge schüttelte den Kopf. »Das ist hart.«
Maya setzte sich rittlings auf den Drehstuhl, der vor Forges Computertisch stand.
»Es ist nicht nur das«, sagte sie. »Seit dem Update Drei Eins, sind die Schmerzen echt schlimm, wenn du 'ne Kugel fängst oder sonstwie gewaltsam stirbst.«
»Fuck«, rief Forge. »Gut, dass ich aufgehört habe, als es noch cool war.« Er inhalierte tief und blies den Rauch unter die Zimmerdecke. »Das solltest du auch tun, Baby.«
»Nenn mich nicht Baby.« Maya rieb sich die Stirn. »Er hat mir schon zweitausend gegeben. Das ist viel mehr, als ich sonst bekomme. Und ich brauche das Geld dringend.«
»Wieso?«
»Naja, wegen des Studiums ...«
»Ich dachte, du hast ein Stipendium.«
»Das ist ja das Problem. Als ich die Uni geschmissen habe, war das ein Vertragsbruch.«
»Und jetzt wollen sie die Kohle zurück?«
Maya nickte, stand auf und ging hinüber zu Forge. Sie hockte sich vor die Liege und streckte den Arm aus. Forge gab ihr den Joint.
»Wie ist der Typ überhaupt auf dich gekommen?«
»Er hat meine Scout-Anzeige gefunden und wollte keine E-Mail schreiben.«
»Und da klingelt er lieber gleich an der Tür. Arsch.«
Maya rauchte und dachte nach. Schließlich sagte sie: »Ich hab ihm erklärt, dass ich Einsteigern helfe, ihnen zeige, wie sie die ersten Tage überleben, wo sie unterkommen können und so. Dass ich kein Killer bin.«
»Und?«
»Er meint, ich wäre die Richtige für den Job, weil ich mich so gut auskenne, viele Tricks draufhabe und so.«
»Naja, trotzdem. Wie willst du den Typen überhaupt finden, also den Sohn?«
»Ich dachte, da könntest du mir helfen.«
Forge richtete sich auf.
»Warte mal, willst du, dass ich dein Tracermodul hacke?«
Maya zuckte die Schultern. »Ich hab ihm klar gemacht, wie schwer es ist, jemanden im Game zu finden und dass man nie wissen kann, wo ein Spieler wieder auftaucht, wenn er stirbt.«
»Und?«
»Und er hat gesagt, ich soll mir was einfallen lassen.«
Forge schüttelte den Kopf. »Maya, das ist echt Scheiße.«
»Hm?«
Forge sprang auf und machte ein paar Schritte durch den Raum.
»Die sperren dich lebenslang, wenn sie dich mit einem gehackten Tracermodul erwischen.«
Maya nickte. »Stimmt. Das muss ich riskieren.«
»Und sie kriegen dich dann auch wegen Betrugs dran. Dann hast du ein richtiges Problem.«
»Nicht, wenn du es gut machst.«
Maya hatte schon einige gehäutete Bären gesehen, aber der Anblick jagte ihr noch immer Schauer über den Rücken. Stets gab es da diese eine Sekunde der Unsicherheit. War das nicht doch ein Mensch? Unglaublich, wie stark der Kadaver eines gehäuteten Bären einer menschlichen Leiche ähnelte.
Der tote Bär, vor dem Maya jetzt stand, war von mehreren Pfeilen und Kugeln getroffen worden. Betrachtete man die Spuren im Schnee, ließ sich der Ablauf der Ereignisse leicht rekonstruieren, denn Maya kannte das Tier.
Einige Jahre zuvor hatte Jack bei seinen Wanderungen durch die Wälder einen ausgemergelten Jungbären aufgestöbert, der unter einem Baumstamm kauerte und jämmerlich schrie. Jack vermutete, dass das Muttertier von Jägern getötet worden war. Er nahm das Bärenjunge an sich, nannte es Max, und dann spielte er seine eigene Version des Grizzly-Adams.
Nun lag Max tot im Schnee, und Jack hing ein paar Meter weiter unter dem Türpfosten seiner Hütte. Die beiden Sammler hatten mitgenommen, was sie brauchen konnten und sich dann auf den Weg nach Westen gemacht. Es bereitete Maya nur wenig Genugtuung, dass sie jetzt Wölfen und Bärenmardern als Fraß dienten.
Dieser Ort wirkte heute noch genauso trostlos wie gestern, aber immerhin schien nun die Sonne durch die Äste der Schwarzfichten und im Gebüsch nahe der Hütte hüpften zwei Grauhäher von Zweig zu Zweig. Mochten sich die Menschen auch gegenseitig zerfleischen, die Natur würde ihren ewigen Rhythmen folgen, die Taiga kannte keine Sentimentalität.
Maya machte sich daran, das robuste Seil durchzuschneiden, an dem sie Jack aufgeknüpft hatten. Heute fand sie die Kraft dazu, gestern war ihr nur der resignierte Rückzug aus dem Spiel geblieben.
Während sie auf einem wackligen Schemel stand und das gefrorene Juteseil Strang für Strang durchtrennte, dachte sie an ihre Aufgabe, an ihre Mission. Sie war nun kein Scout mehr, sondern ein Killer. Es gab nicht wenige Spieler, die sich darauf spezialisiert hatten, Auftragsmorde durchzuführen. In der Regel überlebten sie selbst nicht lange. Für das Töten von Anfängern zahlte niemand Kopfgeld und das Ausschalten von erfahrenen Spielern war schwierig, denn diejenigen, die es zu ein wenig Wohlstand gebracht hatten, ließen sich häufig von Bodyguards schützen. Das mochte auch auf Magnus Rydberg zutreffen, den Mann, der nun ihre Zielperson darstellte.
Jacks toter Körper schlug dumpf auf den Boden. Maya stieg vom Schemel, packte den Leichnam und schleifte ihn hinüber zum Bärenkadaver. Das Holzsammeln würde etwa zwei Stunden dauern, aber sie brachte es nicht übers Herz, Jack und Max den Krähen zu überlassen.
Als sie am Nachmittag vor dem brennenden Scheiterhaufen stand, fühlte sie sich leer und kraftlos. Es war ein Abschied für immer, denn Jack würde nicht zurückkommen. Mehr als einmal hatten sie darüber gesprochen. Jack, der Veteran, war so viele Tode gestorben, hatte so viele Leben gelebt – jetzt war es vorbei.
»Das ist meine letzte Runde, Maya«, pflegte er zu sagen. »Die Taiga gibt mir Frieden. Ich will sehen, wie Max zu einem großen, starken Bären heranwächst, will morgens im Fluss fischen und abends am Feuer sitzen. Alles andere interessiert mich nicht mehr. Falls sie mich erwischen, fange ich nicht wieder von vorn an.«
In der Abenddämmerung kehrte Maya zu ihrem Blockhaus zurück. Es waren ein paar Dinge für die Reise vorzubereiten. Maya würde die Taiga verlassen. Forge hatte ihr Tracermodul umprogrammiert, und so wusste sie, dass sich Magnus im Gebiet von Eysland aufhielt, einem Ballungszentrum, dessen dunkles Herz, die Stadt Baal, zu einem Moloch verkommen war. Dort herrschte die Mafia, und das machte Mayas Mission nicht gerade leichter.
Sie verstaute etwas Proviant in ihrem Rucksack und legte einige Kleidungsstücke zusammen, denn sie konnte hinter der Grenze schwerlich in Rehlederhosen durch die Straßen spazieren. Obwohl die Reise nach Eysland nicht ungefährlich sein würde, machte sich Maya keine großen Sorgen. Im Laufe der letzten Jahre hatte sie in allen Distrikten Unterkünfte gebaut oder erworben. Meist handelte es sich dabei um einfache Jagdhütten, schäbige Appartements oder winzige Zimmer in den Rotlichtvierteln von Hafenstädten. Doch Maya war nicht an Komfort interessiert. Die Unterkünfte erfüllten praktische Zwecke. Sie ermöglichten Maya, überall abtauchen zu können, um Kleider, Ausrüstung und Waffen zu wechseln.
Als sie die Tür der Blockhütte hinter sich schloss, war es bereits tiefe Nacht. Das Silber des Mondlichts lag über der Landschaft, und irgendwo im Dickicht rief ein Steinkauz sein gellendes Gwiju.
Im Café an der Uferpromenade herrschte nur wenig Betrieb. Jenny sah müde aus, aber so wirkte sie nur noch hübscher. Vielleicht war das eine ihrer zahlreichen sonderbaren Gaben; Eigenschaften, die zunächst nicht weiter auffielen, in der Summe jedoch ihre einnehmende Persönlichkeit ausmachten. Schon immer hatte sich Maya ihrer Schwester unterlegen gefühlt. Jenny war schöner, klüger und entschlossener als sie. Wo Jenny lächelnd voranschritt, versank Maya ins Grübeln.
»Wenn du mir wieder ins Gewissen reden willst, dann vergiss es«, sagte Maya. »Bin heute nicht in der Stimmung dafür.«
Jenny winkte ab, rief den Kellner und bestellte sich einen Espresso.
»Muss erst mal wach werden«, sagte sie. »Was willst du? Ich lade dich ein.«
»Ich nehme einen schwarzen Tee.«
Es versetzte Maya einen Stich, als sie bemerkte, wie befriedigt sie Jennys Verfassung zur Kenntnis nahm.
»Was ist los? Siehst schlapp aus.«
Jenny schüttelte ihren blonden Pony, rieb sich die Schläfen und schaute durch die Fenster auf das stahlblaue Wasser der Bucht.
»Hatte gestern mal wieder eine Verabredung.«
»Oh Gott«, erwiderte Maya. »Mann, deine Arierkirche lässt nicht locker, was?«
Jenny zuckte mit den Schultern. »Die NKN schreibt niemandem vor, in wen man sich verlieben soll.«
Maya schüttelte den Kopf. Die angeblich auf heuristischen Methoden beruhende Partnervermittlung der Neuen Kirche Norwegens basierte auf Ideen der Rassentheorie und ihr Ziel bestand darin, die Grundlage einer arischen Religionsgemeinschaft zu schaffen. Jeder, der genau hinschaute, wusste das, aber die NKN war eine mächtige Institution und nutzte all ihre Möglichkeiten, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.
»Jenny, du weißt ja, was ich von der ganzen Sache halte.«
»Ja, aber du verstehst das nicht. Du willst ja allein sein. Du bist eine Einzelgängerin.«
»Das bedeutet nicht ...« Der Kellner brachte ihre Getränke.
Maya atmete durch.
»Und wie war dein Date gestern?«
Jenny rührte in ihrem Espresso. »Wir haben uns gut unterhalten, am Anfang.«
Maya spürte ein dumpfes Ziehen in den Eingeweiden. Irgendetwas am Verlauf dieses Gesprächs alarmierte sie.
»Okay, und was ist dann passiert?«
»Naja, Jone ist eigentlich ein netter Typ«, sagte Jenny und nahm einen Schluck.
»Hm, und weiter?«
»Er meinte dann irgendwann, es wäre auch wichtig, dass wir körperlich zusammenpassen und so. Das sollte man lieber gleich am Anfang klären.«
Maya biss die Zähne zusammen.
»Er hat gefragt, ob wir nicht zu ihm gehen sollen«, fuhr Jenny fort. »Schauen, wie es so läuft zwischen uns, also körperlich. Ob die Chemie stimmt.«
»Und du?«
»Ich hab ihm gesagt, dass ich lieber noch etwas warten würde.«
»Aha.« Maya wusste, worauf das Ganze hinauslief. Die NKN war bekannt dafür, dass sie ihre Mitglieder unter Druck setzte.
»Jone sagte dann aber, es wäre wichtig, das gleich zu klären.«
Maya trank von ihrem Tee und betrachtete ihre Schwester. Jennys Lippen zitterten, und in diesem Moment wirkte sie sehr bleich.
»Ich bin dann mit ihm mitgegangen.«
Maya schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Tassen klirrten, und einige Gäste sahen sich neugierig um.
»Verdammte Scheiße, Jenny!«
»Du verstehst das nicht«, sagte Jenny wieder. »Ich hatte schon vier Verabredungen. Sie haben mich gefragt, ob es mir wirklich ernst damit ist, Mitglied der Kirche zu sein.«
»Begreifst du das nicht?«, rief Maya. »Siehst du nicht, was da abläuft?«
Jenny presste die Lippen zusammen und starrte auf den Tisch.
»Okay«, sagte Maya und holte Luft. »Ihr seid zu ihm gegangen. Was ist dann passiert?«
»Naja, wir hatten Sex.« Jennys Augen wurden glasig, ihre Nasenflügel bebten.
»Hat er dich gezwungen?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Nein, aber ...« Sie streifte einen Ärmel ihrer Bluse hoch.
Maya betrachtete die Blutergüsse. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ich wollte einfach, dass es diesmal klappt«, sagte Jenny und strich den Ärmel zurück.
»Und dieses Schwein hat sich so richtig ausgetobt«, erwiderte Maya.
Maya setzte den Bogenkoffer ab. Über der Trainingsanlage lösten sich die letzten Schleier des Frühnebels auf, und im Licht der aufgehenden Sonne wirkte die Welt friedlich und rein. Abseits der Schießbahn kreiste ein Bussard. Maya hielt inne und betrachtete sein glänzendes Gefieder. Dieser Morgen versprach Stille, denn die anderen Schützen des Vereins würden nicht vor zehn Uhr erscheinen.
Maya trainierte gern allein. Sie gehörte schon lange nicht mehr zum Wettkampfteam, aber das machte ihr nur wenig aus, denn Medaillen und Pokale bedeuteten ihr nichts. Während andere Schützen der Monotonie des Trainings zu entkommen suchten, zwischen den Passen auf die Displays ihrer PDA's starrten und sich die Ohren zustöpselten, um Musik zu hören, ging Maya ganz in der scheinbaren Ereignisarmut des Übens auf.
»Die Augen auf das Ziel, den Blick nach innen richten«, hatte Aniel Thordal, Mayas Trainer, sie gelehrt, und sie hatte diese Maxime stets als Aufforderung verstanden, bei allem äußeren Tun, das Innere, die Gedanken und Gefühle, im Auge zu behalten. Ungeduld, Angst, Nervosität – solche Emotionen konnten einen Schuss ruinieren. Maya wusste, wie man all das ausblendete, um im Augenblick des Zielens ganz und gar frei zu werden von seelischem Ballast.
Doch diese Freiheit stand in augenfälligem Kontrast zu den periodisch wiederkehrenden depressiven Stimmungen, die ihr von Kindheit an zu schaffen machten. Training und Alltag, das waren zwei lose Enden eines Stranges, die sie einfach nicht miteinander verknüpfen konnte.
Maya steckte die Wurfarme in das Mittelstück ihres Bogens, spannte die Sehne auf, schraubte Visier und Stabilisatoren fest. Sie überprüfte gerade ihre Pfeile, als das Telefon in ihrer Tasche brummte. Forge war dran.
»Hey Maya!«
»So früh wach?«
»Naja, nee. Hab durchgemacht. Und ein bisschen zu deinem Magnus Rydberg recherchiert.«
»Okay.«
»Du musst vorsichtig sein, der Typ macht auf Gangster. Ist ein großer Fisch in Baal.« Forge klang besorgt.
»Ja, danke für die Warnung.«
»An den kommst du nicht so einfach ran, der wird Personenschutz haben.«
»Alles klar.«
»Und der ist selbst auch ziemlich fit.«
Maya dachte nach. »Hast du seine Werte?«
»Bei Nahkampf, Messer und Feuerwaffen sind seine Werte im oberen Bereich.«
»Heißt?«
Maya hörte das Tastenklicken von Forges Computerkeyboard.
»Alle über achtzig Prozent.«
»Ich hab überall mehr als neunzig ...«
Forge seufzte. »Schon klar, Baby, aber du bist allein. Ich sag nur, dass du aufpassen sollst.«
Das Einschießen an der Fünf-Meter-Scheibe diente dazu, das Körperwissen des Schützen zu aktivieren. Es ging nicht ums Zielen, nicht um Windberechnungen oder taktische Kalkulationen, sondern darum, die Knochen, Sehnen und Muskeln daran zu erinnern, wie sich ein guter Schuss anfühlte.
Maya erdete ihren Stand, hob den Bogen und schloss die Augen. Sie spürte den Zug der Sehne an ihren Fingern, spürte, wie ihr Körper die Kraft des 40-Pfund-Bogens aufnahm und in Armen, Rücken und Schultergürtel verteilte. Sie atmete ein, aus und schoss.
Im Dead Alive hämmerten die Bässe. Unzählige Gäste tanzten Körper an Körper in Kunstnebel und Flackerlicht. Magnus Rydberg saß im hinteren Bereich des Clubs, umgeben von einer Entourage aus Freunden, Groupies und Bodyguards. Maya nippte an ihrem Drink und warf einen Blick auf die Uhr. Seit vier Tagen endete jeder Abend auf die gleiche Weise. Sobald Magnus genug Wodka intus hatte, zog er mit seinen Leuten aufs Dach, um sich dort im Pool mit den Mädchen zu amüsieren.
Maya war gut vorbereitet. Sie kannte jeden Treppenaufgang in dem Gebäude, jede Tür, jeden Fahrstuhlschacht. Nachdem sie ihren Drink bezahlt hatte, bahnte sie sich im zuckenden Licht der Stroboskopscheinwerfer den Weg über die Tanzfläche, eilte den Flur der Backstage-Räumlichkeiten entlang und nahm die Feuertreppe, die zu den Appartements führte. Kurz darauf erreichte sie die oberste Etage. Sie klopfte an die Tür, und wie erwartet öffnete einer der Securityleute, die Penthouse und Dach sicherten. Es irritierte Maya einen Moment lang, dass hier kein KI-Charakter Wache schob, sondern ein Mensch - ein Spieler, der sich Rod nannte.
Er musterte Maya, seine rechte Hand ruhte auf dem Pistolenholster.
»Was willst du, Bitch?«
Mayas Blick fiel auf den den schwarzen Kevlarkragen, der sich unter Hemd und Sakko des Sicherheitsmanns hervorschob.
»Magnus hat mich herbestellt«, sagte sie.
Rod verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf und setzte zu einer Erwiderung an, doch Maya presste ihm eine Hand auf den Mund. Die Klinge ihres Jagdmessers bohrte sich in den Unterleib des Mannes, und Maya spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Rod ächzte. Maya zog das Messer aus seinem Körper und stieß noch mal zu, diesmal zwischen die Nackenwirbel, so, als würde sie ein angeschossenes Reh von seinen Qualen erlösen.
»Sorry, Rod«, flüsterte sie und schaute sich um.
Nachdem Maya die Schutzweste angelegt hatte, nahm sie Waffe des Toten, kontrollierte den Ladezustand und das Magazin. Sie zog die beiden Ersatzmagazine aus Rods Gürtelholster und verstaute sie in der Seitentasche ihrer Hose.
Während sie das Sakko des Sicherheitsmanns nach der Schlüsselkarte durchsuchte, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Mit der Annahme dieses Jobs hatte sie eine Grenze überschritten, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Magnus und seine Leute würden unten im Club jeden Moment den Fahrstuhl betreten und eine Minute später auf der Dachetage erscheinen.
Sie zog die Karte durch den Scanner, durchquerte im Dunkeln das Penthouse und öffnete die Tür zum Balkon. Von hier führte eine geschwungene Treppe zur Dachterrasse, einer dreihundert Quadratmeter großen Spielwiese aus Glas und rotem Marmor mit Pool, Lounge und Sky Bar.
Ein Wachposten stand am Rand des Daches. Er rauchte und ließ seinen Blick über die nächtliche Stadt schweifen, deren beleuchtete Skyline sich hart vom tiefschwarzen Himmel absetzte. Mayas Augen suchten die Terrasse ab. Hier oben gab es eine Menge Deckung – Marmorstelen, Pflanzbehälter aus Granit, einen bombastischen Grill aus Edelstahl. Nützlich, falls es zum Shootout kommen würde und bezeichnend für die Gier nach Luxus, die in Baals Gangsterelite herrschte. Kaum vorstellbar, dass sich Magnus in einem Blockhaus inmitten der Taiga wohlfühlen könnte.
Nach all den Jahren des Spielens verblüffte Maya noch immer die Detailtreue der simulierten Eindrücke. Sie nahm das Rauschen des Windes in ihren Ohren wahr, hörte das Plätschern des Wassers im Pool, roch die brennende Zigarette, ja selbst das Aftershave des Sicherheitsmannes.
Maya schaute hinüber zum Schachtkopf des Fahrstuhls. Das Außentableau neben den Lifttüren zeigte an, dass sich die Kabine bereits in Bewegung gesetzt hatte. Jetzt blieben ihr nur noch Sekunden.
Maya hob die Automatik und umklammerte den Pistolengriff mit beiden Händen. Sie sah den sauber ausrasierten Nacken des Securitymannes und atmete durch.
Als der Lift klingelte, feuerte Maya zwei Mal in die Beine des Wachpostens. Im Herumdrehen sah sie, wie der Mann zusammensackte. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich - es war Magnus mit seinem Gefolge. Maya ging in die Hocke und verschoss ein halbes Magazin auf die Bodyguards in der ersten Reihe, die bereits ihre Waffen gezogen hatten. Ein paar KI-Callgirls stürzten kreischend aus der Kabine und suchten hinter dem Tresen der Sky Bar Deckung. Magnus packte einen seiner Mafiafreunde. Er hielt ihn als menschliches Schutzschild vor sich, während er seine Waffe hob, um das Feuer zu erwidern. Auch die anderen Männer in der Kabine schossen jetzt wild und ungezielt in Mayas Richtung.
Maya machte einen Satz über einen Cocktailtisch und warf sich auf den Boden. Magnus Leute verteilten sich auf dem Dach. Unzählige Schüsse krachten los, Glas klirrte, Marmorsplitter zischten durch die Luft und das böse Zwitschern von Querschlägern war zu hören. »Flankiert sie, ihr Idioten!«, brüllte Magnus, spurtete hinüber zur Lounge und verschanzte sich hinter dem Granitplateau einer Sitzgruppe.
Maya hätte nicht sagen können, ob die Gefühlsblase, die sich jetzt warm und weich über sie wölbte, ein Aspekt des Gamedesigns darstellte, also etwas ganz und gar Künstliches war oder ob dieser lustvolle Sog, diese Empfindung, empor gehoben zu werden, auch im realen Leben zum Beruf des Killers dazugehörte. Sie spürte den Rückstoß der Pistole in ihren Händen und Armen, sah, wie der Verschluss der Waffe zuckte und dabei eine Hülse nach der anderen seitlich herausschleuderte. Wie im Rausch sprang sie von Deckung zu Deckung. Sie tauchte ab, spähte, feuerte, wechselte das Magazin.
Als sie ihren Stiefel auf Magnus Brust setzte und die Waffe auf sein kreidebleiches Gesicht richtete, atmete sie schwer. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ist nichts Persönliches.«
Das Diner am Ende der Straße erinnerte Maya stets an den Roadtrip quer durch die USA, den ihre Eltern mit Jenny und ihr etwa fünfzehn Jahre zuvor unternommen hatten. Und obwohl ihr bewusst war, dass es dabei auch eine Menge Streitereien und unerfreulicher Erlebnisse gegeben hatte, kamen ihr nun meist die schönen Augenblicke dieser Reise in den Sinn. Das Diner mochte mit seinem Streamline-Design, dem altmodisch-futuristischen Stromlinien-Look des Tresens, der Tische und Bänke im Zentrum der kleinen norwegischen Küstenstadt wie ein Fremdkörper wirken, aber Maya erinnerte es daran, dass sie einmal eine Familie besessen hatte.
Peer Rydberg, Magnus' Vater, saß in einem hinteren Winkel des Restaurants und starrte ins Leere. Er schien aus einem Traum zu erwachen, als sich Maya zu ihm an den Tisch setzte, denn er räusperte sich kurz und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.
»Ich wollte Sie treffen, um Ihnen ein paar Dinge über meinen Sohn zu erzählen«, begann er schließlich. »Ich denke, das könnte Ihnen bei Ihrer ... Arbeit helfen.«
Maya schüttelte den Kopf. »Eigentlich finde ich es besser, wenn ich keine Einzelheiten kenne. Ich habe ihn gestern im Spiel aufgespürt und rausgenommen ...«
»Rausgenommen?«
»Getötet.«
»Ah ... Okay.«
»Er wird jetzt irgendwo in der Spielwelt wieder auftauchen. Ich finde ihn, töte ihn. Keine große Sache. Ich muss nichts über Ihren Sohn wissen.«
Der Kellner trat zu ihnen an den Tisch.
Rydberg bestellte gedankenlos Kaffee für sie beide.
»Ich verstehe«, sagte er dann. »Aber es ist mir wichtig, dass Sie zumindest zwei Dinge erfahren.«
Maya zuckte mit den Schultern. »Okay, aber ich habe nicht viel Zeit. Also ...«
»Ich weiß nicht, was Magnus in dem Spiel treibt«, sagte Rydberg, machte eine Pause und schaute Maya an. Maya wartete einen Moment lang und sagte dann: »Er ist ein Gangster, ein Mafiaboss. Er verdient Geld mit Mord, Erpressung, Drogen, Prostitution.«
Rydberg presste die Lippen zusammen.
»Hey, es ist nur ein Spiel«, sagte Maya, ohne zu wissen, warum sie das tat. »Die Leute toben sich in dieser Phantasiewelt aus. Es entsteht kein realer Schaden.«
»Glauben Sie das wirklich?«, erwiderte Rydberg.
Maya zuckte wieder mit den Schultern.
»Meine Frau und ich sind sehr besorgt«, sagte Rydberg. »Magnus hat sich durch das Spielen verändert. Seine ganze Persönlichkeit ist ... Er ist nicht mehr der Sohn, den wir großgezogen haben.«
Der Kellner brachte den Kaffee. Maya rührte in ihrer Tasse und trank.
»Wir haben noch einen zweiten Sohn, Sören. Er ist ein lieber Junge, vierzehn Jahre alt.« Rydberg nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Sören leidet unter einer angeborenen geistigen Behinderung, und Magnus hat sich immer um seinen Bruder gekümmert.«
Maya hob die Hände. »Hören Sie, ich glaube nicht, dass ich das ...«
»Magnus wird durch das Spiel manipuliert«, sagte Rydberg. »Er vernachlässigt seine Ausbildung, er ignoriert seine Familie, er verbringt Tag und Nacht nur noch in diesem verfluchten Game. Er ist offensichtlich süchtig.«
Maya atmete durch. »Er ist erwachsen oder nicht?«, sagte sie schließlich. »Ich meine, es ist seine Entscheidung. Wenn er sein Leben in dieser virtuellen Welt verbringen will, dann ...«
»Aber nichts davon ist echt!«, sagte Rydberg. »Alles Illusion, Lüge und Täuschung. Den Spielern werden Erfahrungen vorgegaukelt, die sie in Wahrheit gar nicht machen. Es sind Scheinerfahrungen, Phantasien, wie Sie vorhin selbst sagten. Und dabei verpassen die Spieler ihr wirkliches Leben.«
»Ich sehe das ein bisschen anders«, erwiderte Maya. »Das Game stellt den Spieler vor Entscheidungen, die Konsequenzen haben. Ich kann mich dazu entscheiden, als Fischer in der Karibik zu leben, als Forscher in einer Arktisstation, als Nutte in einer Mega-City. Alles meine Wahl, und ich habe die Konsequenzen dafür zu tragen. Wieso sollte das keine reale Erfahrung, keine legitime Investition meiner Lebenszeit sein?«
»Weil die Welt, in der Sie diese Entscheidungen treffen, eine einzige Täuschung darstellt«, erwiderte Rydberg. »Ich möchte nur, dass Sie diese zwei Dinge im Kopf behalten, wenn Sie tun, worum ich Sie gebeten habe. Magnus ist ein guter Junge, der ein gutes Leben in der richtigen Welt verdient hat. Und ich beauftrage Sie nur deshalb, weil ich ihn liebe, und ich will, dass er in die richtige Welt zurückkehrt.«
»Es kann sehr hart für ihn werden, ohne das Game«, wandte Maya ein. »Ist Ihnen das klar?«
Rydberg nickte. »Ja, ich denke, das weiß ich. Aber ich sehe keinen anderen Weg.«
Die Reste einer zerfetzten Flagge hingen schlaff vom Fahnenmast der Radiostation herab. Einen Moment lang war noch das Motorengeräusch des Leichtflugzeugs zu hören, das Maya ein paar Minuten zuvor abgesetzt hatte, dann störte nichts mehr die Stille des Urwalds. Maya untersuchte den schlammigen Boden vor der Hütte. Sie entdeckte die Abdrücke von Wildschweinklauen, aber es gab keine Menschenspuren. Das Tracingmodul zeigte an, dass Magnus in der Nähe war. Doch wo genau?
Maya schaute sich um. Ihr Blick blieb an den schroffen Gesteinsgipfeln zweier Vulkanberge hängen, die in nördlicher Richtung über dem Grün des Dschungels aufragten. Ein erfahrener Spieler würde sicher auf die Idee kommen, von einem erhöhten Standpunkt aus die Lage zu sondieren. Er würde nach auffälligen Landmarken suchen und das Gebiet kartographieren.
Also gut, dachte Maya. Früher oder später wird er hier auftauchen, um auf dem schnellsten Wege nach Baal zurückzukehren. Wahrscheinlich schlägt er sich gerade mit einer Machete durch den Urwald.
In der aus Bilingabrettern gezimmerten Hütte der Radiostation roch es nach feuchtem Holz. Maya legte ihr Gepäck ab und suchte ein wenig leichte Ausrüstung zusammen - Buschmesser und Flinte, etwas Proviant und Munition, Karte und Kompass.
Das Treffen mit Rydberg machte die ganze Sache nicht gerade leichter. Maya stellte sich Magnus vor, wie er mit seinem geistig behinderten Bruder Fußball spielte, und sie schüttelte den Kopf. Der gute Junge, dachte sie. Und hier lässt er die Nutten tanzen und Konkurrenten umlegen. Aber war das wirklich ein Widerspruch?
Gerade, als sie die Trageriemen ihres Tagesrucksacks festzurrte, sprang die Tür der Hütte mit einem Krachen auf. Maya fuhr herum und sah in Magnus schlammverkrustetes Gesicht. Bevor sie auch nur eine Hand gehoben hatte, wurde sie von einem mächtigen Stiefeltritt zu Boden geschleudert. Magnus setzte ihr hinterher und holte mit der Machete aus.
Maya hörte, wie die Klinge durch die Luft zischte und rollte sich zur Seite. Der Rucksack behinderte sie, doch sie schaffte es. Die Machete hieb wuchtig in die Dielen und blieb stecken. Magnus zerrte einen Moment lang vergeblich am Griff, und Maya nutzte die Gelegenheit. Sie sprang auf, packte Magnus und rammte ihr Knie in seinen Unterleib.
Und so, wie sie ein paar Tage zuvor während der Schießerei auf der Dachterrasse in eine Wahrnehmungsblase gerutscht war, die sich weich und schützend um sie schloss, so spürte sie nun erneut diesen eigenartigen Sog, dieses lustvolle Zerfließen, das Rauschen des Kampfes, bei dem ihre Persönlichkeit in den Hintergrund zu treten schien und etwas anderes die Führung übernahm.
Maya hörte das Knirschen von Zähnen und Knochen, als ihr Ellbogen gegen Magnus Unterkiefer schlug. Sie schmeckte das Blut, das Magnus ihr ins Gesicht spuckte, als sie ihn gegen die Hüttenwand stieß und sein Kopf zurückprallte. Und dann gab es da nur noch ein Bild, eine endlose, in Zeitlupe gefilmte Horrorszene, in der sie Magnus mit schweren Tritten bearbeitete, während sich seine Hände zuckend zusammenkrampften, und Maya trat mit ihren Stiefeln zu, wieder und wieder, bis Magnus' Gesicht zu einer schwarzen konturlosen Masse zertrampelt war.
Schließlich endete der Rausch. Maya hielt keuchend inne, und als sie sah, dass sich irgendwo zwischen zersplitterten Knochen und blutigem Fleisch Schaumblasen bildeten, beugte sie sich hinunter und lauschte.
Da war nur ein Gurgeln und Röcheln, aber je länger sie zuhörte, desto deutlicher wurde es: »Was willst du von mir?«
Maya erhob sich, humpelte ein paar Schritte durch den Raum und ergriff ihre Schrotflinte. Sie lud die Waffe durch und richtete sie auf Magnus.
»Wie gesagt. Es ist nichts Persönliches. Komm nicht zurück. Ich finde dich, egal wo du auftauchst, egal wo du dich versteckst.«
Im Verlauf einer Trainingseinheit summierten sich in über einhundert Schüssen mehr als zwei Tonnen Zuggewicht, die Maya mit den drei Fingern, die an der Bogensehne lagen, ohne Schwanken oder Zittern bewältigen musste. Bogenschießen war ein Kraftakt, soviel stand fest. Aber den Kern dieser Anstrengung bildete eine sonderbare Erfahrung totaler Einsamkeit im Moment des Schießens, dem Sekundenbruchteil, der die finale Entscheidung zum Schuss erforderte. War diese Entscheidung getroffen, konnte keine Macht der Welt den Pfeil zurückholen. Von der Spannung der Wurfarme getrieben, schnellte die Bogensehne vorwärts und jagte den Pfeil davon, schleuderte ihn in die Welt, einer Pappscheibe, einem Wildtier oder einem anderen Ziel entgegen, von dem nur die Götter wussten, ob es seine Bestimmung war, im nächsten Augenblick durchbohrt zu werden.
An diesem Tag herrschte eine düstere Stimmung auf dem Trainingsgelände. Ein schmutziggrauer Wolkenschleier verhüllte den Himmel, und feuchtkalte Böen wirbelten über den Schießplatz. Maya absolvierte ihr Programm, aber sie fand keine Freude am Schießen. Mehr als einmal zögerte sie beim Zielen, schoss dann doch und verpatzte. Die Einsamkeit des Bogenschützen, das war die Erfahrung vollständiger Verantwortlichkeit für die Konsequenzen des Handelns. Mochte sich ein Trainer auch hingebungsvoll um einen Schützen kümmern, ihm alles nötige Wissen vermitteln, ihn vorbereiten, unterweisen, drillen - im Augenblick des Schusses war der Schütze auf sich allein gestellt.
Und an manchen Tagen spürte Maya die Schwierigkeiten dieser Herausforderung so deutlich, dass sie all ihre Kraft, all ihren Mut zusammennehmen musste. Es waren Tage wie dieser - Tage, in denen das Universum den Blick auf das Ziel mit einem eiskalten Starren erwiderte.
Maya quälte sich gerade durch die letzte Passe der Trainingseinheit, als ihr Telefon anschlug. Mit einem Gefühl der Erleichterung setzte sie den Bogen ab. Ein paar Minuten Ablenkung, genau das brauchte sie jetzt.
»Hey Baby, habe gerade die Statistiken der letzten zwei Wochen runtergeladen«, sagte Forge.
»Und?«
»Du hast Magnus acht Mal erwischt, aber er wurde zwischendurch auch drei mal von anderen Spielern erledigt.«
»Ja, jetzt lernt er die Hölle des Anfängers kennen«, erwiderte Maya.
»Ist doch irgendwie – karmisch«, sagte Forge. »Leute wie er sind dafür verantwortlich, dass es abwärts geht mit Spiel.«
»Hm.«
»Was ist?«
»Naja, ich denke gerade daran, was das für mein Karma bedeutet«, sagte Maya.
»Hey, der Typ ist ein Arschloch. Mach den Job fertig, und vergiss ihn.«
»Hm.«
»Ich habe übrigens gesehen, dass er in der Taiga aufgetaucht ist.«
Maya hob die Augenbrauen. »Wirklich? Wo genau?«
»Sehr weit nördlich, im Grenzbereich zur arktischen Tundra. In der Gegend gibt es nur ein paar kleine Siedlungen und ein paar Forschungsstationen.«
»Okay, dann schnappe ich ihn mir wieder, bevor er irgendwo ein Flugfeld erreicht.«
»Mach das«, sagte Forge. »Ich wundere mich, dass der noch nicht die Schnauze voll hat.«
»Dauert nicht mehr lange«, sagte Maya und legte auf.
Maya kniete über den bratpfannengroßen Abdrücken der Schneeschuhe, die Magnus zurückgelassen hatte. Sie betrachtete die Schleifspuren, die Kompressionsformen, Fragmente zusammengedrückten und nach hinten geschleuderten Untergrundes. Die Spuren erzählten die Geschichte eines Gewaltmarsches. Hier war kein routinierter Wanderer oder Jäger unterwegs, kein Tundrabewohner, der seine Kräfte einteilte. Hier rannte jemand um sein Leben.
Zwei Stunden später hatte sie Magnus eingeholt. Von einem Hügel herab konnte sie seine Gestalt inmitten der hell schimmernden Landschaft ausmachen, nicht mehr als zweihundert Meter entfernt. Magnus schien schwer angeschlagen, er schleppte sich mühsam durch den Schnee.
Maya legte ihr Gepäck ab. Sie nahm das Gewehr vom Rücken, zog die Handschuhe aus und klappte die Abdeckungen des Zielfernrohrs nach oben. Ein Blick durch das Glas zeigte ihr, dass sie sich Zeit für einen sauberen Schuss lassen konnte. Also entlud sie die Waffe und kauerte sich auf den Boden. Den Lauf des Gewehrs auf dem Rucksack gelagert, visierte sie Magnus an, richtete das Fadenkreuz aus und legte den Finger an den Abzug. Sie drückte das Züngel, bis sie den Widerstand der Mechanik spürte. Sie atmete ein, aus und drückte den Abzug durch. Es klickte.
Scharfschützen nutzten solche Probedurchläufe mit ungeladenen Waffen, um sich in die richtige Verfassung für den perfekten Schuss zu versetzen. Und genau das war es, was Maya jetzt wollte - einen präzisen Treffer, einen sauberen Abschluss dieser ganzen verdrehten Geschichte. Sie lud das Gewehr und richtete es erneut auf Magnus aus. Sie spürte, dass ihr Herz ein wenig schneller schlug.
In diesem Augenblick, sie wusste nicht weshalb, schien ihr das Fadenkreuz über Magnus schwankender Gestalt ein Symbol der Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens zu sein. Zwar verfolgte sie mit diesem Job einen Plan, der sie aus all dem Mist herausführen konnte. Sie war sich sicher, dass sie das Spiel aufgeben würde - erst vor ein paar Tagen hatte sie ihrer Schwester alles darüber erzählt und dieses Gespräch als ungeheure Erleichterung empfunden - aber was bedeuteten solche Entscheidungen? Magnus hatte sicher ebenfalls Pläne, doch das Universum scherte sich einen Dreck darum. Einen Moment lang zögerte Maya, doch dann riss sie sich zusammen, atmete durch und schoss. Sie erhob sich, schulterte das Gewehr und ihr Gepäck. Langsam lief sie den Hügel hinunter.
Die Kugel hatte Magnus' Wirbelsäule zertrümmert, ihn aber nicht getötet. Er lag hilflos im Schnee, spuckte Blut und konnte weder Arme noch Beine bewegen. Maya drehte ihn auf den Rücken und sah ihn an.
»Wann kapierst du es endlich?«, sagte sie schließlich. »Dein Spiel ist zu Ende. Für dich gibt es hier nur noch den Tod.«
Forge blinzelte in die tiefstehende Sonne, deren Glutball schon beinahe die Horizontlinie berührte. Vom Meer wehte ein kühler, salziger Hauch herüber.
»Du solltest öfter mal aus deiner Bude rauskommen«, sagte Jenny an Forge gewandt und lachte. Maya nickte.
Forge zuckte mit den Schultern. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und erwiderte: »Ich komme klar.«
Sie saßen auf einer Bank in der Nähe des Hafens und schauten der Island-Fähre zu, deren Kiel schäumend das graublaue Wasser durchschnitt, während sie sich in westlicher Richtung entfernte.
»Was macht die Kirche, Jenny?«, fragte Maya. »Wie läuft's mit den Männern?«
Jenny wippte einen Moment lang vor und zurück, es wirkte, als suchte sie nach den richtigen Worten.
Forge betrachtete sie belustigt. »Scheint 'ne schwierige Frage zu sein, Jen.«
Jenny schüttelte den Kopf und lächelte. »Nee, eigentlich nicht.«
Maya hob die Augenbrauen. »Also, was ist los?«
»Bin ausgetreten«, sagte Jenny.
»Wow«, erwiderte Forge. »Gratuliere!«
Maya lachte. »Gott sei Dank! Gute Entscheidung, kleine Schwester.«
Jenny nickte. »Ja, dieses letzte Date hat mir die Augen geöffnet, schätze ich.«
»Okay, dann kann ich auch mit einer Neuigkeit rausrücken«, sagte Maya.
Forge und Jenny betrachteten sie erwartungsvoll.
»Ich habe vor ein paar Tagen meinen Game-Account gelöscht und gestern das ganze Equipment verkauft.«
Forge pfiff durch die Zähne und Jenny stieß einen Freudenschrei aus. Sie sprang auf und umarmte ihre Schwester. »Das ist so ... Ich freue mich so sehr, Maya.«
»Und was ist mit Magnus?«, fragte Forge.
»Nach der Arktisgeschichte ist er nicht mehr aufgetaucht«, sagte Maya. »Er war eine Woche lang nicht online. Ich denke, er ist raus.«
»Gut gemacht«, sagte Jenny. »Vielleicht hat ihn das geheilt, und er beschäftigt sich jetzt mit dem richtigen Leben.«
»Und du hast 'ne Menge Kohle verdient und kannst jetzt deinen Studienkredit zurückzahlen«, ergänzte Forge.
Maya nickte. »Stimmt. Und es es gibt noch was Neues. Ich hatte gestern ein Treffen mit ein paar Leuten vom Schützenverband. Sie stellen mich als Jugendtrainerin ein.«
»Hey, super!« Jenny strahlte, und Forge grinste zufrieden.
»Ja, es gibt jetzt nur noch eine letzte Sache«, fuhr Maya fort. »Ich sag dem Vater von Magnus Bescheid.«
»Und wann?«, fragte Jenny.
»Mache ich in den nächsten Tagen.«
»Dann kriegst du nochmal Geld? Ich meine für den Abschluss des Jobs?«, fragte Forge.
Maya schüttelte den Kopf. »Also theoretisch schon, aber ich habe insgesamt fünfzehntausend von ihm bekommen. Es reicht. Ich will die ganze Geschichte jetzt abschließen.« Sie schaute auf das Meer und fügte etwas leiser hinzu: »Die letzten Tage im Game sind mir echt an die Nieren gegangen.«
»Ruf ihn doch gleich an«, schlug Forge vor. »Bring es hinter dich.«
Maya zögerte, doch auch Jenny nickte zustimmend. »Beende die Sache.«
»Okay«, sagte Maya schließlich. »Ich mache es gleich.«
Sie zog ihr Telefon aus der Jackentasche, erhob sich und machte ein paar Schritte in Richtung Strand. Während sie wählte, setzten Jenny und Forge ihre Unterhaltung fort.
»Und wäre es nicht auch für dich Zeit, mal was Neues anzufangen?«, fragte Jenny.
Forge zog an seiner Zigarette. Er schürzte die Lippen und wackelte mit dem Kopf, so müsste er seine Antwort genau abwägen.
»Ich meine, reicht dir das Leben, das du jetzt führst?«, fügte Jenny hinzu. »Tagein, tagaus dieser Computerkram. Ist das alles, was du dir wünschst?«
»Weißt du, ich bin zufrieden«, erwiderte Forge. »Natürlich könnte ich mehr aus meinem Leben machen. Ist schon klar. Aber ich bin nicht unglücklich oder so.«
Jenny warf einen Blick hinüber zu Maya, die - den Rücken zu ihnen gewandt - wie versteinert dastand, während sie telefonierte und auf das Meer zu blicken schien.
»Ja, aber gehört zu einem guten, erfüllten Leben nicht ein bisschen mehr, als nur, nicht unglücklich zu sein?«, sagte Jenny und ließ dabei ihre Schwester nicht aus den Augen.
Forge wollte gerade etwas erwidern, als ein Ruck durch Mayas Körper ging. Einen kurzen Moment lang sah es so aus, als würde sie stürzen, aber dann fing sie sich und setzte sich in den Sand. Noch immer das Telefon in der Hand stützte sie den Kopf in die geballten Fäuste, und ihr Körper schien sich zu verkrampfen.
Jenny und Forge sprangen auf und rannten zu ihr.
»Was ist los?«, rief Jenny. Das Gesicht ihrer Schwester war bleich wie der Tod.
Jenny und Forge setzten sich zu Maya in den Sand und warteten.
»Magnus ist tot«, sagte Maya schließlich. Ihr Stimme zitterte.
»Was?«, sagte Forge. »Wieso? Was ist passiert?«
»Sein Vater sagte, er hatte einen Unfall. Er ist mit über hundert gegen einen Baum gefahren.«
»Fuck«, sagte Forge.
»Keine Bremsspuren«, fügte Maya hinzu und schloss die Augen.
Jenny und Forge starrten Maya an.
Der letzte Schimmer der Sonne färbte das Meer blutrot. Die Island-Fähre war nicht mehr als ein winziger Punkt am Horizont, und es schien, als stünde die ganze Welt still.