Die Einbrecher
Ein stimmungsvolles, vielleicht ein wenig kitschiges Bild: Eine Bank in einem dieser winzigen Stadtteilparks, darauf ein älterer Mann neben einer jüngeren Frau. Davor ein Kinderwagen, an dem sich ein Baby, das offenbar vor kurzem das Stehen für sich entdeckt hatte und diese neue Fähigkeit, an den Kinderwagen geklammert, mit Begeisterung übte. Das Ganze effektvoll eingeleuchtet durch warmes, sattgelbes Frühlingssonnenlicht.
Das Kind strahlte und gluckste beseelt vor sich hin, die Frau lächelte und der Mann lächelte ebenfalls, allerdings mit einem seltsam verträumten Blick, den die Tochter bei ihrem Vater eher selten bemerkte. Also fragte sie ihn: »Ist was? Du guckst so versonnen.« Und er antwortete: »Ach nur so, sie ist doch so süß, die Kleine. Ich habe eine hübsche Enkeltochter.«
Das Gespräch wechselte träge noch ein wenig die Seiten. Sie beharrte – »Na los, sag schon!« –, er wiegelte ab. Um der offenbar einer gemütlichen Langeweile geschuldeten Hartnäckigkeit in der Befragung zu entgehen, gab er endlich zu: »Dieses Bild meiner Enkelin hat mich ganz plötzlich an eine Begebenheit aus meiner Studienzeit erinnert, bei der ich auch ein so fröhliches Kind erlebt habe. Das ist alles.«
Die junge Frau kuschelte sich an den väterlichen Arm und insistierte: »Erzähl!« Nach einem »Ach, da gibt es nichts weiter zu erzählen.« und »Das glaube ich nicht.« bis schließlich zu »Das wird aber etwas Längeres.« und »Dann erzähl erst recht.« begann die Geschichte so:
»Während meines Studiums wohnte ich eine Zeitlang mit einem Studenten zusammen, der zwar etwas anderes studierte, aber die gleichen Probleme hatte: Geld. Ich bekam zwar etwas BaföG und ein bisschen was von zu Hause, aber das reichte nicht. Und bei Georg war es genau so. Wir hätten ja gerne gearbeitet, aber es gab einfach keine Jobs. Die attraktiven Jobs in der Gastronomie wurden alle von hübschen Mädchen besetzt und was wir gefunden haben, hätte zeitlich überhaupt nicht zu den Vorlesungen und Seminaren gepasst. Oder es wurde so mies bezahlt, dass es sich nicht gelohnt hätte. Also beschlossen wir nach längerem Hin und Her unseren Lebensunterhalt mit Einbrechen zu verdienen.«
»Mit Einbrechen??«
»Sag’ ich doch.«
»Du als Einbrecher?? Du willst mir doch nicht erzählen … ich glaub’s einfach nicht! –– Ach, erzähl einfach weiter!«
»Na ja, es war ein wenig komplizierter. Es fängt schon mit dem Wort Einbrecher an. Das impliziert doch aufgebrochene Wohnungstüren, zerwühlte Schränke und Kommoden und verwüstete Wohnzimmer, oder? Aber kannst du dir deinen alten Herrn mit einer Brechstange an einer Haustür herumwürgend vorstellen?«
»Ich kann mir offenbar eine ganze Menge nicht vorstellen!«
»Stimmt, du warst auch schon als Kind nicht besonders fantasievoll. Deine Kinderbilder waren alle nach dem gleichen Muster angelegt. Links stand immer ein Baum und rechts oben war die Sonne und darunter flogen zwei Vögel. Nicht einer, nicht drei oder gar ein ganzer Schwarm, sondern immer zwei. Das hat mich fasziniert. – Aber nimm’ dir das nicht zu Herzen, du hast eindeutig andere Qualitäten.«
»Ja, ja, nun lenk’ nicht ab. Ich bin mir über meine Defizite und Stärken ziemlich im Klaren. Mach weiter!«
»Nun wir waren uns einig, dass wir solche Einbrecher nicht sein wollten. Wir dachten eher an Arsène Lupin oder »Über den Dächern von Nizza«. So was in der Art. Jedenfalls wollten wir, dass die Betroffenen es überhaupt nicht merken, wenn wir bei ihnen waren. Allenfalls würden sie sich vielleicht irgendwann wundern, dass ihr in der Sockenschublade verstecktes Geld etwas weniger war als erwartet.
Das stellte uns vor das Problem »Wie kommen wir rein in die Wohnungen ohne Spuren zu hinterlassen?«
Sicher kennst du die Krimis im Fernsehen, in denen jemand ein Türschloss in 5 Sekunden mit zwei Metallstäbchen öffnet. Also, so schnell waren wir natürlich bei weitem nicht, aber wir waren gute Lockpicker, das muss man sagen.
Wusstest du, das Lockpicking eine Art Sport ist, mit Wettkämpfen und Meisterschaften und so? Was schaust du so entsetzt? Ach, du verstehst nicht, wovon ich rede, klar. Also pass auf: So ein normales Zylinderschloss wie man es an Haus- und Wohnungstüren findet, kann man mit dem passenden Schlüssel, aber auch mit einigen Universalwerkzeugen öffnen. Zumindest, wenn es ein einfaches Modell ist. Und du musst berücksichtigen, dass meine Studienzeit schon eine Weile zurück liegt. Damals waren die allermeisten Türschlösser sehr schlicht. Diese Art der Schlossöffnung nennt man Lockpicking. Es gibt ganze Werkzeugsets dafür, und die Werkzeuge haben so schöne Namen wie »Halbdiamant«, »Tropfendiamant«, »Schlange« oder »Schneemann«. Aber ich will dich mit den Details nicht langweilen. Jedenfalls haben wir das Lockpicking geübt, jeden Tag, mit unterschiedlichen Werkzeugen, fast drei Monate lang. Bis wir das Gefühl hatten, jetzt sind wir soweit und können loslegen.«
»Du willst mir erzählen, du und dein Freund ihr habt drei Monate lang Tag für Tag an der Wohnungstür am Schloss herum gefummelt, um dann einbrechen zu gehen?«
»Nun, wir haben natürlich nicht den ganzen Tag an den Schlössern gearbeitet, sondern meistens abends ein, zwei Stunden lang. Und wir haben auch nicht an unserer Wohnungstür geübt, sondern uns beinahe alle erhältlichen Schlossmodelle gekauft und in eine Holzplatte eingebaut. Und das Werkzeug – na ja, du konntest damals nicht einfach in den Baumarkt gehen und Lockpicking-Werkzeuge kaufen. Heute kannst du sie bequem im Internet bestellen. Wir stießen auf eine Anzeige in einer Zeitschrift, das war eine Firma in London. Also unternahmen wir einen schönen Trip auf die Insel. Diese Firma war eine Eisenwarenhandlung mit einer riesigen Werkzeugetage und einer speziellen Lockpicking-Abteilung. Wir haben gekauft, was wir nach eingehender vorbereitender Lektüre für wichtig hielten und wofür unser Geld reichte.«
Die junge Frau war inzwischen ein wenig von ihrem Vater abgerückt und sah ihn nun erwartungsvoll an. Offensichtlich hatte sie Interesse am Fortgang der Geschichte, wobei sie sich wohl nicht entscheiden konnte, ob sie das Ganze für bare Münze oder eine nette Abenteuergeschichte nehmen sollte.
»So. Ihr habt drei Monate lang geübt und dann angefangen mit Einbrechen. Und bei wem seid ihr eingestiegen?«
»Das erwies sich als das größte und vor allem zeitaufwändigste Problem. Natürlich durfte niemand in der Wohnung sein und wir mussten ungesehen rein- und wieder rauskommen.«
»Mit eurer Beute.«
»Ja klar. Am liebsten waren uns Mehrfamilienhäuser mit nur einer Wohnung pro Etage. Da war die Gefahr erwischt zu werden nahe Null. Gab es mehrere Wohnungen auf einer Etage, war es schon schwieriger. Man musste sehr schnell arbeiten am Schloss. Und wenn es Türspione gab, dann ging das gar nicht. Das schied für uns aus.«
Er machte eine Pause, um seiner Tochter Zeit zu geben, das Gesagte nachzuvollziehen.
»Der Vorteil an Mehrfamilienhäusern war, dass die Bewohner selten darauf achteten, wer im Treppenhaus herumläuft. Es gibt da meistens auch so eine allgemeine Geräuschkulisse, bei der es nicht auffällt, wenn man selbst mal irgendwo gegen stößt oder so. Einfamilienhäuser haben den Nachteil, dass du nicht weißt, ob und wer dich beim Hereingehen und Herauskommen sieht.
Gut, Überwachungskameras auf dem eigenen Grundstück, das gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht bei unserer »Klientel«. Aber es ist doch ein ungutes Gefühl, wenn man da für alle sichtbar an der Haustür herumporkelt. Hinzu kommt, dass Einfamilienhäuser ja in der Regel auch größer sind als Wohnungen. Es gibt also viel mehr Möglichkeiten, sein Geld zu verstecken. Dafür konnte man manchmal mit einem sogenannten »Bump Key« arbeiten. Das war ein spezieller Schlüssel, dem man mit einem Hammer ein paar Schläge geben muss, bis man ihn im Schloss drehen kann. Das geht natürlich nur, wenn den Lärm niemand hört.«
»Und wer waren eure Klienten so?« In ihrer Stimme mischten sich Neugier und Verachtung aber auch eine gewisse anerkennende Ehrfurcht.
»Ich würde sagen, gehobene Mittelschicht. Arme Leute zu beklauen kam uns nicht in den Sinn und bei den Reichen kommst du nicht so einfach rein in die Häuser. Aber viel wichtiger war für uns, dass wir sicher sein konnten, nicht gestört zu werden. Wir mussten sicher wissen, dass die Bewohner unserer »Zielobjekte« weg waren und blieben. Am Anfang haben wir uns so umgehört bei Freunden und Bekannten und dann war plötzlich von Leuten die Rede, wo er dies und sie das beruflich macht und dann haben wir sie beobachtet. Wann geht er aus dem Haus, wann sie? Wann kommen sie zurück? Gibt es eine Putzfrau, die plötzlich in der Tür steht? Und wenn wir uns sicher waren, dann haben wir abgewartet, dass sie das Haus verlassen und sind rein.
Wir haben immer nur nach Geld gesucht, alles andere war zu kompliziert. Zwar haben wir schon Bilder an den Wänden hängen sehen, die mit Sicherheit etliches Wert sind, aber du musst sie aus dem Rahmen schneiden und rollen, was sie garantiert beschädigt oder im Rahmen durch die Gegend tragen, was ziemlich bescheuert gewesen wäre. Ähnlich war es auch mit Schmuck, da waren auch hier und da tolle Sachen im Nachtschränkchen, aber wir wollten niemandem die Erinnerungsstücke an Mutter, Oma oder Tante wegnehmen. Außerdem hätten wir sowohl für Kunst als auch für Schmuck einen Hehler finden müssen und dann hätte es einen Mitwisser gegeben. Wie gesagt, es war unser Anspruch, dass die von uns »Besuchten« nach Möglichkeit nie etwas von einem Einbruch erfahren. Wir haben sogar, wenn es die Zeit und die Nerven zuließen, die Türen beim Gehen wieder richtig abgeschlossen.
Und wenn es doch aufgefallen ist – ich denke, einige werden gedacht haben: »Da hat sich der Kerl wieder heimlich am Haushaltsgeld bedient.« oder »Da hat sie das Geld wohl wieder für neue Schuhe ausgegeben.«
Die junge Frau verpackte ihr inzwischen schläfriges Kind im Kinderwagen. Es war kühl geworden, die Sonne ging gerade unter und auch ihr Vater stand auf, um den Wagen seiner Enkeltochter gemächlich nach Hause zu schieben.
»Möchtest du noch mehr hören oder langweile ich dich?« fragte er seine Tochter leise und behutsam, als sie auf den Ausgang des Parks zusteuerten.
»Ich glaub’s einfach nicht! Ich denke ja, dass du mir einfach eine tolle Räuberpistole erzählst. Ich meine, zutrauen würde ich dir das schon, dass du ohne jedes Schuldbewusstsein, weil du keinen adäquaten Studi-Job gefunden hast, den »ehrbaren Beruf« des Einbrechers ausübst.
Bekloppt genug bist du ja. Ich erinnere nur an die Zigarrenkiste voller selbstgedrehter Joints, die du mir zum 17. Geburtstag geschenkt hast!«
»Ja, aber das diente auch einem guten Zweck. Ich wusste, dass du kiffst und dir auf dubiosen Wegen dubioses Zeug beschaffst. Und da habe ich gedacht, ich schenke dir besseres Haschisch und außerdem habe ich sehr viel weniger in die Joints gepackt, als man normal nehmen würde.«
»Das haben wir wohl gemerkt.« Jetzt war es an ihr, versonnen in sich hinein zu lächeln. »Meine Freunde waren zwar von dem Geschenk als solchem sehr angetan, hielten dich aber, nachdem der erste Joint rumgegangen war, für einen weltfremden Trottel, für einen alten Sack, der einen auf jugendlich machen will. Ich übrigens auch. Aber ich fand die Idee super toll!
Später habe ich dann Fotos von dir und Mama in Hippieklamotten gesehen, und allein deine Plattensammlung von früher hätte mich auf die Idee kommen lassen können, dass du durchaus weißt, wieviel Haschisch man in einen Joint krümelt.«
Tochter und Vater waren nun wieder zusammengerückt und gingen Arm in Arm den Kinderwagen schiebend aus dem Park und die Straße entlang.
»Nun will ich aber auch den Rest deiner kriminellen Karriere hören. Wann haben sie euch geschnappt und wie lange hast du gesessen?«
Die Antwort kam in höchst pikiertem Tonfall: »Also meine Liebe, sie haben uns überhaupt nicht geschnappt und mit dem Gesetz bin ich – wenn man mal von einem Zwischenfall mit einem Polizisten auf einer Demo absieht – niemals in Konflikt geraten. Ich habe nicht einmal einen Eintrag in Flensburg!«
»Wundert mich, so wie du Auto fährst.« murmelte seine Begleiterin.
»Also wann ist die beste Zeit bei anderen Leuten heimlich einzusteigen? Abends, wenn es dunkel ist und wenn niemand da ist. Und wann ist abends niemand da? Wenn die Leute im Theater sind. Und wie erfährt man wann wer im Theater ist? Wenn man das Abonnentenverzeichnis des Theaters hat.«
»Und wie kommt man an das Abonnentenverzeichnis?« fragte die Tochter im gleichen Tonfall.
»Na? Wie denn?«
»Weiß ich nicht, sag schon!«
»Die Theaterabos wurden von einem Kulturverein verkauft, der allen Abonnenten einmal im Quartal einen Brief mit viel Werbung und Hinweisen zu Programm, Sonderaktionen usw. zuschickte. Der Druck und Versand dieser Aussendung wurde immer von einem Hauptsponsor bezahlt. Der Kulturverein bekam also die freigestempelten Umschläge, legte dort die vorher zusammengestellten Inhalte ein und klebten einen Adressaufkleber auf. Diese Adressaufkleber waren für uns natürlich das Wichtige. Damals war man mit persönlichen Daten viel pingeliger als heute, aber ich glaube, der Verein hat die Mitgliederetiketten nur deshalb selbst aufgeklebt und ansonsten unter Verschluss gehalten, um nicht einem ihrer Sponsoren einen Vorteil zu verschaffen. Egal, an diese Etiketten wollten wir rankommen.
Und da kam uns der Zufall zur Hilfe. Um den Verein auszukundschaften, gingen wir als jobsuchende Studenten dorthin und stellten Fragen: nach einem Job – ja, sie hätten in der Tat einen freie Studentenstelle zu besetzen – und was man denn tun müsse – dies und das und die Aussendungen fertig machen. Ich sagte, ich könne sofort anfangen, aber sie wollten lieber eine Studentin, die seien erfahrungsgemäß netter am Telefon und es kämen ja auch schon mal Kunden usw. Also habe ich denen erzählt, dass eine Kommilitonin ganz dringend eine Arbeit sucht und ich ihr gleich Bescheid sagen würde. Leider kannte ich niemanden, auf den das zutraf, aber da war eine Studentin, die in einer der Kneipen, in denen wir verkehrten, arbeitete und auf die ich ein schmachtendes Auge geworfen hatte. Sie wollte ich als erstes fragen, in erster Linie allerdings, das gebe ich zu, um mich mit ihr ohne blödes Anmachgelaber zu unterhalten. Das Ganze war ein voller Erfolg. Sie fiel mir um den Hals als ich ihr das mit dem Job erzählte (seichter Job, wenig Arbeit, gut bezahlt und was man so sagt). In der Kneipe wolle sie keinen Abend mehr arbeiten. Ihr Chef sei ein Arschloch und so weiter. Sie bekam die Stelle, war glücklich und alle waren zufrieden. Mit mir wollte sie zwar immer noch nicht in die Kiste hüpfen, aber ich zählte von nun an für sie zu den netten Menschen.«
Der Erzähler merkte nicht, dass die Frau neben ihm mehrfach den Kopf vor echtem oder gespieltem ungläubigen Entsetzen über die unvermutete Durchtriebenheit und kriminelle Energie ihres Vaters schüttelte.
»Als dann die nächsten Vierteljahresbriefe zur Post gebracht werden mussten, bot ich an das für sie zu übernehmen. Ich konnte ein Auto besorgen, aber leider nur vormittags, während sie arbeiten musste und deshalb nicht mit konnte. Ich fuhr die gelben Kisten voller Briefe nach Hause, wo Georg schon wartete. Wir suchten etliche passend erscheinende Adressen raus. Auf dem Weg zur Post fuhr ich bei einem großen Copyshop vorbei und kopierte sie. Schließlich brachte ich die leeren Kästen mit einer Einlieferungsbescheinigung zurück und alles war gut.
Nun kundschafteten wir die Adressen aus und arbeiteten die Liste ab. So einfach war das.«
Die Stadt war still und friedlich. Die beiden gingen schweigend, in Gedanken versunken den Kinderwagen abwechselnd schiebend nebeneinander her. Plötzlich fiel ihr etwas ein: »Und was ist mit dem Kind?«
»Mit welchem Kind? Ach so, ja natürlich. Eines Abend besuchten wir ein Pärchen, offenbar leidenschaftliche Theatergänger. Von außen sahen wir, dass im Wohnzimmer eine Lampe brannte, aber das kannten wir schon. Viele Leute lassen ein Licht brennen, um Einbrecher abzuschrecken. Es war eine Etagenwohnung im ersten Stock. Die Tür war abgeschlossen. Das ist immer ein gutes Zeichen. Wenn die Tür nur so zugezogen war, waren wir alarmiert und sehr vorsichtig. Also wir leise rein und als wir die Wohnzimmertür öffneten, sahen wir ein Kind, so in ihrem Alter«, der Mann nickte in Richtung Kinderwagen, »das wippte in seinem Laufstall stehend hin und her, grinste breit und gluckste und quiekte vor sichtlichem Vergnügen. Und auf dem Sofa gegenüber lag ein junges Mädchen mit einem Buch in der Hand zusammengerollt und schnarchte ganz leise. Wir waren von dieser Szene wirklich ergriffen. Wir blieben einen Augenblick still im Türrahmen stehen, dann schlossen wir sie leise, verließen die Wohnung, schlossen die Tür wieder ab und fuhren nach Hause.«
»Das klingt jetzt aber ein bisschen kitschig.«
»Ich weiß, aber daran ist vermutlich auch die Zeit Schuld. Mir kommt diese Begebenheit ganz oft in den Sinn und wird dabei vermutlich von Mal zu Mal etwas zuckriger. Kann ich nichts für.«
»Papa?«
»Ja?«
»Bevor wir gleich zu Hause sind – wo ist das Ende der Geschichte? Wann und wieso hast du aufgehört mit deinen »Hausbesuchen«?
»Ach herrje, das ist eine Geschichte für sich. Aber gut, ich erkläre es dir ganz kurz. Also, Georg hat eine ältere Schwester, verheiratet mit einem sehr netten Mann. Ihr Sohn war damals noch sehr klein. Sie wohnten nicht sehr weit entfernt in einer anderen Stadt. Ihr Mann liebte es im Sommer zu grillen. Wir waren oft eingeladen und haben uns dort immer sehr wohl gefühlt. Sie wohnten in einem kleinen Haus in einer Reihenhaussiedlung zur Miete, alles ziemlich heruntergekommen, aber die Stimmung unter den Nachbarn war wohl sehr gut. Rundherum standen einige Mietshäuser, ich glaube so sechs Stockwerke hoch, die waren in einem richtig üblen Zustand. Und am Rand dieses Gebäudeensembles stand eine Art Bauhaus-Bungalow in einem großen Garten. Dort wohnte der Eigentümer all dieser Häuser, ein 24-jähriger Schnösel, der Sportwagen zu sammeln schien und sich als echtes Arschloch erwies, wann immer er die Gelegenheit dazu fand.
Er kassierte die Bälle der Kids ein, wenn sie auf seinem Rasen landeten und ließ Autos abschleppen, wenn sie auch nur ein winziges Stück vor seiner Einfahrt parkten. Letzteres kann ich aus eigener Anschauung bestätigen, denn ich war eines seiner Opfer. Und wenn jemand Reparaturen oder Instandsetzungsarbeiten in der von ihm gemietetWohnung einforderte, wurde er massiv bedroht. Ich weiß nicht, ob alles stimmt, was man uns bei einem solchen Grillabend erzählte. Vermutlich war vieles auch übertrieben, es hörte sich schon ziemlich nach Hollywood an.
Aber Georg und ich beschlossen, bestärkt noch durch unser abgeschlepptes Auto, einmal seine Villa zu inspizieren. Und dabei wollten wir ausnahmsweise mal nicht unbemerkt bleiben. Wir dachten, es wäre spaßig, unbemerkt reinzukommen, dann ganz leise und sorgfältig alles zu verwüsten und schließlich wieder leise zu verschwinden.
Also beobachteten wir den Kerl und stellten fest, dass er sein Haus mit einer Alarmanlage gesichert hatte. Scharf geschaltet wurde sie durch ein zusätzliches Schloss in der Haustür. Dazu brauchte man einen langen kreuzförmigen Schlüssel mit vier Bärten. Das war natürlich ziemlich enttäuschend für uns, denn daran wären wir sicher gescheitert. Aber unser Opfer hatte eine Schwachstelle. Er ging jeden morgen um halb Neun joggen und kam nach einer Dreiviertelstunde wieder. Und zu dieser Gelegenheit nahm er nicht seinen Schlüsselbund mit, sondern nur einen einzelnen Schlüssel für die Haustür. Das bedeutete, in dieser Zeit war die Alarmanlage abgeschaltet und das Haus quasi nicht gesichert. Wir entschieden uns durch die hintere Kellertür einzusteigen, weil wir dort nicht gesehen werden konnten und das Schloss dort recht simpel aussah. Wir mussten ja schnell sein und wollten die Dreiviertelstunde auch nicht bis zuletzt ausreizen.
Gut. Wir kamen ohne Probleme ins Haus und begannen mit unserer »Inspektion« im ersten Stock in seinem Arbeitszimmer. Dort stand ein hässlicher protziger Riesenschreibtisch mit jeder Menge Krempel vollgestellt. Rechts und links waren Unterschränke, in der Mitte eine Schublade. Das allererste, was wir in dem Raum taten war, die Unterschränke zu öffnen und dort fanden wir drei Plastikeinkaufstüten voller Geldscheine! Alle gebraucht, manche zerknautscht, Scheine jeder Größe.
Wir nahmen die Tüten und machten uns unverzüglich auf den Rückweg. Und natürlich haben wir nichts verwüstet. Im Gegenteil, wir haben die Kellertür wieder ordentlich abgeschlossen, sind schnell und leise zu unserem Auto und haben erst zwei Straßen weiter angefangen wie die Irren zu kreischen und zu brüllen.
Zu Hause haben wir gezählt und geteilt. Es waren für jeden beinahe 62.000 DM. Wir sind dann einige Tage später mit einem Spaten und einer Flasche Champagner in den Wald gefahren und haben unsere Picking-Werkzeuge vergraben und in einer Grillhütte im strömenden Regen mit großem Vergnügen die Flasche geleert.
Der schnöselige Hausbesitzer ist, wie wir später bei einem Grillabend erfahren haben, noch in der gleichen Woche spurlos verschwunden. Ein Möbelwagen kam und die Villa wurde restlos leer geräumt. Kurze Zeit darauf wurde alles an eine Wohnungsbaugesellschaft verkauft, die alle Häuser erst einmal umfangreich saniert hat. Leider hat sie danach auch die Mieten erhöht. Ach ja, in der Villa wohnte danach ein sehr gepflegtes älteres Paar, das den Kindern, wenn sie sich ihren Ball aus dem Garten zurückholten, hinterher rief: »Passt bloß auf die Blumenbeete auf.«
Schweigend und in Gedanken versunken legte das Paar die letzten Meter zur Wohnung der jungen Frau zurück. »Kommst du noch mit rauf?« fragte sie ihren Vater, aber der winkte ab. Der Abschied war schnell und flüchtig wie bei Menschen, die sich häufig sehen. Er küsste seine schlafende Enkelin sanft auf die Wange, strich seiner Tochter über die Schulter, nickte ihr zu und wandte sich zum Gehen. Aber anders als sonst sah seine Tochter ihm von der Haustür aus nach.
»Papa?«
Er blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Ja?«
»Ich hab’ dich lieb.«