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Die Einberufung
Die Einberufung
(I) Marsch der Nackten
„Mal sehen, was ich machen kann.“ Der Mann hinter dem Schreibtisch starrt auf die bibeldicke Krankenakte. „Ein paar Monate wird’s aber noch dauern.“ Jürgen springt innerlich drei Meter hoch. Geschafft!
Jahrelang hatte er den Amtsarzt mit einem vorgetäuschten Rückenleiden genervt. Jetzt endlich hält er den Bescheid in der Hand: Frührentner. Im Schichtdienst auf zugigen Bahnhöfen Postsäcke verladen? Nee, das sollen mal lieber die anderen machen. Womöglich noch bis siebenundsechzig? Pustekuchen!
Jürgen schaut in die Baumkronen, um das Licht der Buchenblätter im Frühling auf sich wirken zu lassen. Er beugt sich hinunter und krault Örnie hinter den Ohren. Da hört er Schritte im Laub. Hinter ihm nähert sich ein nackter Mann.
„Erkälte dich nicht, der Sommer ist noch´n bisschen hin“, ruft er ihm zu. Der sieht verdammt gut aus, wie die lebendig gewordene Marmorstatue des David von Michelangelo. Nicht etwa, dass Jürgen schwul wäre, aber er hat doch Augen im Kopf. Der Mann geht einfach an ihm vorbei. Das ärgert Jürgen und er packt ihn am Arm.
„Hör mal, du Nackedei, hier gehen auch mal Frauen und Kinder spazieren! Ich schlage vor, du suchst dir jetzt mal ein ziemlich großes Eichenblatt!“
Der Angesprochene sieht ihn stumm an. Der Blick des Fremden ist so bohrend, dass Jürgen irritiert loslässt. Der Mann geht weiter.
Aber Jürgen bleibt dem Nackten auf den Fersen: „So etwas ist hier nicht üblich!“, schimpft er ihm hinterher. „Wenn du provozieren willst, dann mach das gefälligst woanders. Am Reihersee gibt’s 'n FKK-Strand!“ Und dann leise: „Du Torfkopp!“
Dabei bewundert er insgeheim den makellosen, athletischen Körper des Mannes. Zu guter Letzt ertappt er sich, wie er ihm auf den Hintern starrt. Örnie macht etwas abseits sein Häufchen und in der Ferne geht ein Martinshorn.
Jürgen ist ratlos. Was soll man da tun? Und da der Fremde ihm auch noch körperlich überlegen ist, lässt Jürgen die Sache auf sich beruhen. So schlimm ist das Ganze ja nun auch wieder nicht.
Er bleibt eine Weile am Ufer stehen. Ein Bach hat sich im Laufe der Zeit in den sandigen Boden gegraben. Dadurch ist eine senkrechte Böschung entstanden, in welche die Uferschwalben jetzt ihre Nester bauen. Emsig fliegen sie hin und her.
Das Heulen einer Sirene aus der Ferne holt ihn aus seinen Gedanken. Örnie knurrt. Jürgen starrt ungläubig auf einen weiteren nackten Mann, der dem Ersten aufs Haar gleicht.
„Hat hier einer 'ne Dose aufgemacht?!“, ruft er und stellt sich in den Weg. Da sieht Jürgen wenige Schritte hinter dem zweiten Mann einen Dritten. Der Frührentner tritt verunsichert zur Seite. Als dann noch zwei weitere Männer erscheinen, schleicht sich ein beklemmendes Gefühl bei ihm ein. Plötzlich ist Jürgen von vier nackten Männern umringt, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen.
Er beginnt zu schwitzen. Die Haut der hochgewachsenen, etwa dreißig Jahre alten Männer, schimmert leicht bläulich. Er dreht sich im Kreis und sieht von einem Augenpaar in das nächste. Sein Hirn windet sich wie eine Kröte, die man auf den Rücken gelegt hat.
Ohne ein Wort wenden sie sich nacheinander wieder dem Waldweg am Bach zu. Jürgen entkleidet sich eilig und läuft hinterher. Nach ein paar Schritten ist er nicht mehr von ihnen zu unterscheiden.
Am Fluss wendet sich die kleine Gruppe den ersten Häusern seines Wohnortes Bardowick zu. Spaziergänger, die man zufällig trifft, werden umringt, bis sie sich anschließen.
‚Wo kommst du her?’, fragt Jürgen einen von ihnen in Gedanken.
‚Aus Ochtmissen. Ich heiße Thomas und du?’
‚Ich bin Jürgen aus Bardowick. Wie lange bist du schon dabei?’
‚Eine gute Stunde. Es ist grandios, oder?’
‚Wo gehen wir hin?’, fragt er seinen Vordermann.
‚Keine Ahnung', antwortet der. Darüber müssen die beiden immer wieder lachen.
Sie sind wie auf Dope. Jeder kann sich mit jedem unterhalten. Nach außen hin jedoch schweigen sie und ihre Gesichter bleiben ausdruckslos.
Hier passiert etwas so Wunderbares und Jürgen ist dabei! Nicht auszudenken, er wäre gerade heute zu Hause geblieben. Jürgens Herz will jauchzend zerspringen vor Glück.
Als die ersten Häuser von Bardowick auftauchen, stehen die Leute am Straßenrand und schütteln ihre Köpfe. Kinder kichern verlegen und zeigen mit Fingern auf sie. Es fallen die ersten Kommentare und bald wird der Zug beschimpft. Jedoch, wer den Männern zu nahe kommt, wird umringt. Zurück bleibt ein Häufchen Kleidung, auch wenn der Träger kurz zuvor noch am Straßenrand geschimpft hat. Aus den Seitenstraßen kommen weitere Gruppen der Blauen, wie sie jetzt genannt werden, hinzu.
Jürgen erreicht sein Haus, wo Doris mit Nachbarn am Straßenrand steht. Sie ist durch Krankheit vorgealtert, aber die Liebe zu Jürgen hat sie am Leben gehalten.
Von Weitem starrt sie ihn mit offenem Mund an. Sie kann nicht glauben, was sie sieht.
Er wundert sich, dass sie ihn erkennt. Sein Blick geht an ihr vorbei in die Ferne. Innerlich jedoch kann er seine Augäpfel so im Kreis drehen, dass er durch seinen eigenen Schädel hindurchsehen kann. Sieht er seine Doris so zum letzten Mal? Sie ruft weinend seinen Namen. Da zwackt ihn Örnie kräftig in die Waden. Warum geht er weiter? Sie sind doch zu Hause.
Jürgen schaut so lange es geht zu Doris. Dann reißt er sich los und holt mit weiten Schritten aus.
Man ruft nach der Polizei. Überall auf den Straßen liegen Textilien herum. Bald kommen Streifenwagen. Die Beamten suchen aus der zurückgelassenen Kleidung die Ausweise heraus. Schon bald liegen auch Dienstuniformen neben verwaisten Einsatzfahrzeugen. Die Blauen nehmen jetzt die ganze Straßenbreite ein.
Man versucht mit einem quer gestellten Bus den Durchgang zu blockieren. Doch der Fahrer wird umringt und macht selbst den Weg wieder frei. Am Straßenrand sieht man fast nur noch Frauen und Kinder. Ein Info-Fahrzeug der Feuerwehr begleitet den Zug und macht Lautsprecheransagen. Man soll sich unbedingt fernhalten, nicht den Helden spielen, am besten ins Haus gehen und weitere Durchsagen abwarten.
Am Ortsausgang gibt es eine Zugbrücke über die Ilmenau. Geistesgegenwärtig hat eine Mitarbeiterin der Gemeinde telefonisch den Auftrag zum Hochklappen erteilt. So gibt es Hoffnung, ein gewisses Maß an Kontrolle zu gewinnen. Doch die nackten Athleten gehen seitlich an dem Hindernis vorbei. Sie springen ohne zu zögern, kopfüber in den Fluss und sind mit wenigen, kraftvollen Zügen am anderen Ufer. Behände klettern sie die Böschung hoch und marschieren erfrischt weiter. Aber jetzt können die wenigen noch besetzten Fahrzeuge von Feuerwehr und Polizei nicht weiter.
Als Jürgen am anderen Ufer hochkommt, sieht er entlang der weit auslaufenden Kurve zum Sportplatz hin die bläulich schimmernden Leiber dicht an dicht.
Von vorne kommt ein weiterer Zug aus Adendorf. Ebenso aus dem Waldweg von Sankt Dionys. Die drei Straßen treffen sich an dem großen Platz der Sportanlagen. Die Nackten versammeln sich auf der bereits überfüllten Festwiese. Es sind Tausende!
Kamerateams positionieren sich am Rande der Menge. Reporter, die etwas später kommen, finden ihre männlichen Kollegen nicht mehr und einige Equipments sind bereits herrenlos. Die weiblichen Mitglieder befinden sich im Schockzustand und stammeln etwas von „Metamorphose“. Aus der Ferne hört man dumpfes Dröhnen von Hubschraubern.
Plötzlich fallen sie vom Himmel. Metallisch glänzende Flugkörper von der Größe eines Omnibusses. Im Schwarm kommen sie lautlos herunter, bremsen über den Männern ab bis diese Platz machen und landen. Türen gleiten zur Seite und die Nackten steigen ein. Alles geschieht in gespenstischer Stille. Es dauert nicht lange, da landet auch in Jürgens unmittelbarer Nähe ein Fluggerät. Er steigt als einer der Ersten ein und kann sich kurz umsehen, bevor alles überfüllt ist. Der Innenraum ist völlig leer. Nirgendwo ist so etwas wie Technik zu sehen.
Hinter Jürgen drängen sie hinein. Das zuletzt erschienene Fernsehteam stürmt auf die offene Tür zu und macht hektisch Aufnahmen vom Innenraum. Nach kurzer Beratung springen sie hinein. Augenblicke später ist das Shuttle voll besetzt. Jürgen schätzt die Anzahl der Insassen auf etwa Dreißig. Während sich die Einstiegsöffnung schließt, hebt das Fluggerät ab. Örnie winselt und legt sich auf Jürgens Füße.
Die außerhalb Wartenden sehen die Shuttles innerhalb weniger Sekunden als
Pünktchen im blauen Himmel verschwinden, während immer wieder neue landen. Von den Straßen her rücken die Männer schnell nach.
Minuten später ist alles vorbei - die Festwiese leer. Die Klappbrücke ist wieder heruntergelassen worden und ein Streifenwagen jagt mit quietschenden Reifen heran. Doch es gibt nichts mehr zu sehen. Wenige sind verschont geblieben. Sie sammeln sich am Polizeiwagen, der jetzt mit Blaulicht auf dem Platz steht.
Jemand will über Funk wissen, was denn da zum Teufel noch mal los ist. Ein paar Kinder, die neugierig mitgelaufen waren, ziehen imaginäre Laser-Schwerter und machen beim Kämpfen seltsame Geräusche.
(II) Urs
„Sehr verehrte Fahrgäste! Ich freue mich, euch hier an Bord der Fähre
SOL-Shuttle234, begrüßen zu dürfen.“
Der nette Herr sieht freundlich in die Runde. „Mein Name ist Urs. Ich werde euch auf der Reise begleiten und für Fragen zur Verfügung stehen.“
Aus der kleinen Gesellschaft kommt zustimmendes Gemurmel. Sie besteht aus neunundzwanzig Blauen Athleten, des Weiteren aus drei bekleideten Frauen, die sich an jeweils einem der Männer festhalten und einem Hund.
„Meine Lieben“, führt Urs seine Begrüßung fort, „Ich muss euch zu aller erst einmal fragen, ob jemand unfreiwillig an Bord ist.“ Allgemeines Kopfschütteln. „Nun, das freut mich außerordentlich.“ Urs lächelt zufrieden und knetet seine Hände. „Wie ich sehe, haben wir einen tierischen Begleiter an Bord.“
„Das ist Örnie“, sagt Jürgen und hält ihn kurz hoch, aber der kleine Hund fängt an zu zappeln und will wieder runter.
„Ich habe gute Nachrichten!“ Urs bekommt rote Wangen. „Ihr habt den Hauptgewinn gezogen!“ Er strahlt in die Runde und zählt auf: „Wohnen in einem First-Class Hotel, direkt am Strand gelegen, besten Service, all for free, interstellar sozusagen im wörtlichen Sinne. Und jetzt das Beste: so lange ihr wollt!“ Urs klatscht Beifall und ein paar Wenige fallen mit ein.
„Wo geht es denn hin?“, fragt Jürgen.
„Also“, beginnt Urs und seine Stimme klingt jetzt sachlich, „wir fahren zu einem erdähnlichen Planeten im Doppel-Sternsystem Alpha Centauri. Das ist eine Reise von knapp viereinhalb Lichtjahren. Aber mit diesem Schiff“, er macht eine ausladende Geste, „dauert es nur eine gute Stunde.“
Die obere Hälfte der Außenhülle des Raumschiffes wird durchsichtig und gibt den Blick auf die Milchstraße frei. Vor tiefschwarzem Hintergrund funkeln die Sterne auf die Gesichter der staunenden Passagiere.
„Da! Seht nur!“, ruft ein Mann und zeigt zur Seite. Dort sieht man den ganzen Schwarm, der etwa zweihundert silbrig glänzenden Flugkörper. Sie sehen aus wie kleine Zeppeline. Einer davon blinkt grün.
„Das sind wir.“, klärt Urs auf. „Eine Kameradrohne projiziert das Bild auf unsere Innenhülle, so dass wir den Schwarm von außen sehen können. Das da hinten“, er deutet auf einen kleinen, aber sehr hellen Stern, „ist eure Heimatsonne. Und das“, er zeigt auf einen hellgelben und einen orangedunklen Lichtpunkt auf der gegenüberliegenden Seite, „sind die beiden Sonnen Alpha Centauri A und B.“ Die ungleichen Gestirne scheinen sich fast zu berühren.
Eine junge Frau in Kittelschürze und Pantinen hebt ihre Hand:
„Sie haben uns ja nun ...“
„Wir duzen uns, bitte“, wirft Urs ein.
„Ach so, ja, ... ich bin Regina … du … hast uns ja nun quasi von der Straße weggeholt. Unsere Männer sehen jetzt alle gleich aus und wenn ich meinen Olaf nicht die ganze Zeit festgehalten hätte, dann wüsste ich ja noch nicht mal mehr, ob er das überhaupt ist, nicht wahr?“
Zustimmendes Nicken der Mitreisenden.
„Ach, gut dass du mich daran erinnerst“, sagt Urs. „Das ist ja jetzt wirklich nicht mehr nötig.“
Noch bevor er den Satz beendet sind die Athleten wieder bekleidet und haben ihr ursprüngliches Aussehen. Erstaunt beäugen sie sich.
„Schade eigentlich …“, bemerkt ein kleiner Mann mit Glatze, dabei streicht er über seinen Bauch und grinst. Lachen erfüllt den Raum.
„Daran gewöhnt ihr euch“, erklärt Urs. „Ein Rechner auf dem Mond meines
Heimatplaneten kann eure Wahrnehmung steuern. Das geschieht mit neuronaler
Kreuzstrahlung. Zwei elektromagnetische Strahlen unterschiedlicher Frequenz kreuzen sich in einem genau definierten Punkt eures Gehirnes. Beide Strahlen werden so moduliert, dass es zur Interferenz mit einer bestimmten Nervenzelle kommt.“
Urs merkt, dass ihm niemand wirklich folgen kann.
„Es gibt ein paar Milliarden Handys auf der Welt. Wenn ihr eine bestimmte Nummer wählt, dann klingelt ja auch nur ein Einziges von ihnen.“
Das Gesichter erhellen sich.
„Ich bin Thomas, der Computer ...“
„Er heißt FATAL - nach seinen Erbauern Faber und Tallin“, wirft Urs dazwischen.
„FATAL also, kann in unserem Gehirn jede Nervenzelle einzeln anrufen?“
„Na, ja“, Urs lächelt. „Gar kein schlechter Vergleich. Er moduliert die Nervenzelle so lange bis sie 'antwortet'. So kann er all eure Neuronen, die für die Wahrnehmung und das Gefühlsleben zuständig sind, gleichzeitig steuern. Das Ganze nennt sich 'Neuronale Modulation'. Völlig harmlos", beruhigt Urs.
Olafs Frau, Regina, fragt:
„Wie unterscheide ich denn echt von ... „
„ … moduliert“, hilft Urs. „Durch euren Verstand. Wenn ihr zum Beispiel seht, wie ein Reiseleiter aus dem Boden wächst, ist er eine Modulation. Mit der Zeit bekommt ihr ein Gespür dafür. Auch eure Nacktheit war moduliert.“
„Aber welchen Sinn hatte das?“, fragt Jürgen. „Wir hätten doch auch bekleidet zum Raumschiff wandern können?“
„Das war explizit genauso von FATAL gefordert. Hat doch gut funktioniert, oder?“, Urs weiter, „Der Rechner kalkuliert alles durch und entscheidet sehr verantwortungsbewusst. Es soll doch Niemandem etwas geschehen, oder?“
Jetzt herrscht Schweigen.
Jürgen reagiert als Erster:
„Und was ist mit dir? Bist du eine Fata Morgana?“
„Eher eine dreidimensionale Darstellung“, erläutert Urs. „Ich stehe leibhaftig auf eurem Zielplaneten in der Empfangshalle des Hotels, indem ihr wohnen werdet. Kameras übertragen mein Bild zu FATAL, der es in eure Gehirne moduliert. Ihr seid übrigens in etwa zehn Minuten hier.“
Hinter Urs erscheint das Bild einer Empfangshalle mit Palmen und viel Glas vor einer mediterranen Landschaft.
Regina, die immer noch an Olafs Arm hängt, legt den Kopf schief und fragt:
„Und wo ist der Haken?“
„Ihr werdet für uns arbeiten."
Ein gedankliches 'AHA' dröhnt durch die Stille des Raumes.
"Jedoch ohne etwas davon zu bemerken“, antwortet der Reiseleiter. „Eure bloße Anwesenheit ist ausreichend, um FATALS Entwicklung voranzutreiben. Alles, was wir von euch erwarten ist, dass ihr drei Stunden am Tag in einem Resonanzraum sitzt und euch entspannt.“
„Was ist denn das für ein Planet?“, fragt Jürgen.
Urs holt tief Luft: „Bis vor etwa siebzig Jahren lebte auf Lar-el eine echsenartige, intelligente Rasse. Die Lar-el, so nannten die Einheimischen sich selbst und ihren Planeten, hatten gerade die Schwelle zur Überlicht-Raumfahrt erreicht und besuchten so ihre nächsten Nachbarn - die Menschen. Damals dauerte so eine Reise sieben Monate.“ Urs geht beim Erzählen auf und ab. „Sie entführten immer wieder Menschen und machten Experimente mit ihnen. Dabei waren sie nicht zimperlich.“
„Wie sehen die denn aus?", fragt Regina.
„Nun, ihr kennt wohl die Bilder, die seit dem Roswell-Zwischenfall im Umlauf sind?“
Zustimmende Laute.
„Sind das diese Eierköppe mit den großen Augen?“, will Regina wissen.
„Ja“, gibt Urs zurück. „Aber diese Eierköppe waren hochintelligent. Nichtsdestotrotz haben sie Versuche mit uns gemacht und regelrecht versklavt. Die Besuche in Roswell waren ihre letzten interstellaren Aktivitäten. Nun kurz: Es kam zu einem Aufstand. FATAL wurde im letzten Moment von seinen menschlichen Erbauern so programmiert, dass er den Menschen half. Die überlebenden Lar-el flohen mit ihren langsamen Schiffen in die Tiefen des Raumes.“
„Das freut einen denn ja auch“, sagt Olafs Frau.
„Schon“, erzählt Urs weiter, „aber die Menschen waren jetzt allein auf sich gestellt und verstanden die Technik der Lar-el nur ansatzweise. Die Infrastruktur des Planeten verfiel und die wenigen Menschen sammelten sich in einem Städtchen - Hotel-City.“ Urs sieht in große fragende Augen.
„Heißt das“, will Jürgen wissen, „dass auf Lar-el jetzt Menschen leben, die die Technik der ehemaligen Bewohner übernommen haben?“
„Versucht haben sie es, aber es waren einfach zu wenige, um den technologischen Stand zu halten“, erklärt Urs. „Lediglich eine Flotte von etwa eintausend superschnellen Shuttles wurden noch mit Hilfe FATALs gebaut. Es leben heute nur etwa tausend Menschen in Hotel-City. Wir sind die Nachfahren der ehemaligen Entführten.“
Jürgen fragt:
„Warum sind hauptsächlich Männer auf diese Reise ...“, ihm liegt das Wort 'gekidnappt' auf der Zunge, aber Urs sagt schnell:
„Wir nennen das 'einberufen'. Ja, Männer haben gegenüber Frauen eine etwas andere Konstitution. Die ist für eure Aufgabe besser geeignet, aber darüber erfahrt ihr bald mehr. Jetzt kommt erst mal runter, ich kann euch schon sehen!“
SOL-Shuttle234 setzt zur Landung an. Der untere Teil der Fähre wird durchsichtig und so sehen die Passagiere eine kreisförmige Stadt auf sich zu kommen. Die Wege sind konzentrisch angelegt. In der Mitte liegt ein riesiger Hotelkomplex, der sechstausend Menschen aufnehmen kann. Um die Hotels herum ist eine parkähnliche Grünfläche angelegt. Dann folgen ein paar locker gestreute Wohnhäuser mit großen Gärten. Ganz außen gibt es einen Streifen landwirtschaftlicher Fläche, der mehrere Kilometer breit ist. Von der Seite her dringt eine Meeresbucht in die Kreisstruktur ein, so dass die meisten Hotels am Strand liegen. Außerhalb der Stadt gibt es nur Steppe, Wald und Buschland. Die Shuttles landen auf dem grünen Rasen bei den Hotels.
Die Tür öffnet sich und Frühlingsluft umfängt sie. Örnie stürmt hinaus und hebt das Beinchen an einem Grasbüschel, das beim Mähen vergessen wurde. Die beiden Abendsonnen stehen gelb und tiefrot über dem Horizont. Urs begrüßt nacheinander alle Fahrgäste aufs Herzlichste und führt seine Gruppe in die Lobby.
„So, ihr Lieben, jetzt machen wir kein Aufhebens mehr. Ihr geht jetzt einfach mal in die erste Etage und nehmt euch ein beliebiges, freies Einzelappartement. Dort findet ihr alles was ihr braucht. Wie ihr seht, gibt es keine Rezeption und schon gar keine Schlüssel. Ihr könnt die nächsten Tage tun und lassen, was ihr wollt. Seht euch die Stadt an, geht an den Strand baden. Morgen früh um zehn gibt es ein kurzes Info-Treffen hier unten. Das ist erst mal alles.“
Er sieht zufrieden in die Runde.
Die Gruppe zerstreut sich. Jürgen steigt die Treppe hoch und geht durch eine Tür. Sofort greift er sich eine der gekühlten Wasserflaschen und leert sie in einem Zug. Auch Örnie bekommt etwas zu trinken. Jürgen sieht sich um und findet alles was man in dieser Situation so braucht. Er nickt zufrieden, zieht sich aus, duscht, lässt sich rückwärts auf das Bett fallen und denkt nach.
Ist er wirklich freiwillig hier? Und will er hier drei Stunden am Tag in der Resonanzkammer sitzen? Wohl kaum. 'Verdammte Scheiße, ich habe Doris einfach so im Stich gelassen. Ich bin abgehauen und habe nur an mich gedacht. Doris ist krank, was, wenn sie das nicht überlebt?' Jürgen ist innerlich zerrissen.
Die Tür fliegt auf und unterbricht seine Gedanken. Regina kommt herein. Sie setzt sich zu ihm auf das Bett: „Unten haben sie ein Buffet aufgebaut. Kommst du mit?“
Dabei lässt sie sich neben ihn auf das Bett fallen und stört sich nicht daran, dass er nackt ist. Ihr Bademantel gleitet beim Hinlegen zu beiden Seiten herunter. Sie duftet nach Shampoo. Als sie sich auf Jürgens Ständer setzt, tropft sie auf ihn. Sie lässt sich nach vorn fallen und bedeckt sein Gesicht mit ihren vollen Brüsten.
Dann nimmt sie ihre Hände auf den Rücken und windet sich auf ihm, als sei sie gefesselt. Mit seiner linken Hand umklammert er ihre Handgelenke fest und bedient sich mit der Rechten hemmungslos an ihren Titten. Sekunden später fallen sie keuchend auseinander.
„Was ist denn mit deinem Olaf?“, will Jürgen wissen.
„Ach der, der vergnügt sich mit Thomas, dem dicken Glatzkopf. Glaub's oder
nicht, aber bis heute hatte ich keine Ahnung.“ Sie lacht.
Am nächsten Morgen steigt Jürgen aus dem Bett und sieht zum Strand hinunter. So hat er sich immer die Karibik vorgestellt. Mit seiner Doris, die keine Kinder bekommen kann, ist er immer nur in den Harz gefahren jedes zweite Jahr. Am Wochenende mal an die Ostsee, mehr gab sein kleines Beamtengehalt nicht her.
Aber immerhin ist das Häuschen im Schwarzen Weg bezahlt. Auf der Treppe kommt ihm Kaffeeduft entgegen. Er bleibt nicht lange allein. Regina mit Olaf und Thomas kommen zu ihm an den Tisch.
„Was haltet ihr von alldem?“, fragt Jürgen in die Runde.
„Weißt du“, sagt Olaf und wiegt seinen krausen Rotschopf langsam hin und her. „Ich bin jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Wenn man mir einen Leckerbissen vors Maul hält, dann schnappe ich zu.“ Dabei sieht er zu Thomas.
„Ich sehe das genauso“, sagt Regina und steckt ihren großen Zeh unter Jürgens Hosenbein. „Hier ist alles so schön! Egal, wo man auch hinschaut, alles ist wie gemalt.“
„Und ich fühle mich so gut wie nie“, sagt Thomas. „Mein Leben lang hatte ich Rückenschmerzen, Tinnitus und habe schlecht geschlafen - alles weg. Komme was wolle, ich bleib hier. Ich vergaß wie sich Gesundheit anfühlt!“
Örnie, der die ganze Zeit zusammengerollt unter dem Tisch lag, zwackt Jürgen in die Wade.
„Der Kleine muss mal. Bin gleich wieder da.“ Jürgen steht auf und geht hinaus.
„Nicht mehr so weit weg!“, ruft ihm Urs zu, der gerade herein kommt. „Gleich sehen wir uns mal gemeinsam die Resonanzräume an, okay?“
Die Gruppe kommt mit dem Fahrstuhl in der obersten Etage an. Urs geht vorweg bis sie an eine Tür kommen.
„Nicht erschrecken“, sagt Urs und drückt den Öffnungstaster. Die Wand gleitt zu beiden Seiten auf und gibt den Blick in einen kugelförmigen, zehn Meter durchmessenden Raum frei, in dessen Zentrum ein Sessel schwebt. Der gleitet auf die Öffnung zu. Die Teilnehmer lugen in den Raum. Als sie erkennen, dass es fünf Meter in die Tiefe geht, gibt es ein langes 'Huuui'. Der Sessel dümpelt über dem Abgrund am Korridor.
„Na? Wer will!“, ruft Urs amüsiert.
Alle sehen auf Jürgen.
„Ich hab's geahnt“, stöhnt er und setzt sich, als habe er rohe Eier in der Tasche.
Er sieht etwas unglücklich aus, als der Sessel mit ihm in das Zentrum schwebt. Da fällt das Möbelstück unter ihm ins Nichts. Die Zuschauer schreien laut auf. Jürgen hängt jetzt völlig frei in der Luft und rudert mit den Armen.
„ Keine Angst!“, ruft Urs hinein. „Der Sessel war sowieso nur Modulation.
„Ich möchte ihn trotzdem wieder haben!“, kommt es zurück.
„In zehn Minuten erwarte ich einen detaillierten Bericht.“ Urs schließt augenzwinkernd die Öffnung.
Das Licht dimmt herunter. Eine unsichtbare Kraft nagelt Jürgen im Zentrum des Raumes fest. Er hat Angst und spürt plötzlich ein großes Bedauern, das ihn feucht und klamm wie eine Nebelbank einhüllt.
Sein Brustkorb beginnt zu vibrieren. Unter lautem Dröhnen ätzt sich eine Säure ihren Weg in den Fels, der sein Innerstes behütet. Dort gefriert sie zu Eis und sprengt den Panzer, der nun wider die Natur seinen Schatz preisgeben muss: Seelenlicht, mühsam in vielen Leben angesammelt und über Jahrtausende bewahrt, strahlt unwiederbringlich hinaus in den Kosmos aus dem es entstammt. Ein kleiner Teil nur, dieser göttlichen Kostbarkeit, wird aufgefangen und umgeleitet ...
Jürgen ist geschockt. Schwebend erreicht er die Öffnung und springt unsicher auf den Korridor. Benommen berichtet er darüber, findet aber keine angemessenen Worte und stammelt sich etwas zusammen, was viel zu harmlos klingt.
„Und das ist Alles?“, entfährt es Thomas. „Kleinigkeit! Da freue ich mich ja direkt drauf.“
„Wart's ab“, sagt Jürgen kurz.
* * *
Er liegt auf seinem Bett und denkt nach. Vor über einem Jahr ist er das erste Mal in der Resonanzkammer gewesen. Seither haben sich alle verändert. Die wenigen Frauen laufen nackt über die Flure und bieten sich jedem an. Ansonsten pflegen sie sich, schlafen, duschen oder essen. Sie genießen dieses neue Leben in vollen Zügen, schließlich ist das hier nicht die Erde. Es herrscht Aufbruchstimmung in eine neue Welt; alles ist erlaubt.
Manchmal ziehen sie lachend in kleinen Gruppen zu einem benachbarten Hotel. Dann dauert es nicht lange und neue Frauen aus anderen Gruppen wandeln im Gebäude umher. Regina bleibt bei Jürgen.
Der Tagesablauf der Männer besteht aus Schlafen, Essen, Ficken und den Sitzungen. Es ist ihnen scheißegal moduliert zu werden.
Die Tür springt auf und Regina kommt herein. Sie setzt sich auf ihn und lässt sich nach vorne fallen. Es läuft immer gleich ab und fühlt sich doch so aufreizend an wie beim ersten Mal. FATAL spielt immer besser auf dem Klavier des Belohnungssystems in den Gehirnen der Menschen. Ein hohes Lebensgefühl lähmt sie, etwas zu ändern. Jeder Tag fühlt sich neu und interessant an und ist doch nur Wiederholung. FATALS Täuschung hat sie alle fest im Griff. Bis zu jenem Tag.
Jürgen liegt in seinem Bett. Wie jeden Abend ist Regina bei ihm gewesen und jetzt wartet er auf den Schlaf. Völlig überraschend überkommt ihn jedoch ein Gefühl des Erwachens. Vorbei ist es mit dem ewigen Wohlsein. Aus heiterem Himmel überkommt ihn Angst. Ihm ist schlecht und er fühlt sich schwach. Wie ein Schwert sticht es in seinen Arm. In seiner Brust explodiert die reine Panik! Was ist los - Infarkt? Muss er jetzt schon sterben? Es hört einfach nicht auf, Jürgen sieht seinem Ende entgegen, unfähig sich zu regen.
Dieser Körper, ein ganzes Jahr lang mit falschen Empfindungen betrogen und durch die Sitzungen geschwächt, kämpft um seinen Geist, will ihn halten, will nicht sterben, krallt sich mit letzter Kraft an der entfliehenden Seele fest. Schon schwebt Jürgen ganz langsam aus sich heraus. Entfernt sich nach oben bis er seinen eigenen, gekrümmten Körper unter sich liegen sieht, schmutzig und ungepflegt, die Haare wirr.
Sein Bett ist nicht etwa frisch bezogen, wie er bis eben noch glaubte, sondern es ist verschissen von oben bis unten. Alles ist heruntergekommen. Das ganze Zimmer ist verwahrlost. Der Putz fällt von der Decke.
Jürgen schwebt durch die Wand und findet das ganze Hotel und seine Bewohner in einem fürchterlichen Zustand vor. Dann sieht er Regina. Abgesehen von einer gewissen Blässe sieht sie gut aus, so auch die anderen Frauen. Jürgen treibt in den Kosmos hinaus und schwebt körperlos dem Licht entgegen ...
(III) Fußmarsch in die Steinzeit
Jürgens betrogener Körper will den Geist nicht gehen lassen, den er fünfzig Jahre beherbergte. Er kämpft bis zuletzt - ist es schon vorbei? So früh?
Eine einzige Zelle im Sinusknoten seines Herzens ist noch aktiv. Sie gibt einen letzten, schwachen Impuls, der sich fort leitet und eine Kaskade in den Herzmuskel auslöst. Dadurch kommt es zu einem unkontrollierten Muskelzucken der linken Herzkammer, die so eine winzige, verbliebene Menge Sauerstoff transportiert. Aber sie reicht aus, um erneut einen Impuls zu starten. Wie ein stotternder Motor, kurz davor endgültig stehen zu bleiben, wie ein Netzroller beim Tennis, wenn der Ball fast liegen bleibt, entscheiden jetzt kleinste Nuancen. Es geht bis in die Quanten hinunter, die unvorhersagbar nur noch ja oder nein kennen. Endlich beendet ein erster, effektiver Herzschlag diesen Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Eine ganz schwache Atmung setzt ein, die sich schnell zu einem regelrechten Keuchen auswächst. Defizite werden aufgefüllt.
Sekunden später dringt ein unversöhnlicher Befehl in Jürgens Bewusstsein: „KOMM ZURÜCK!!“
Jürgen will nicht. Er ist kurz davor mit dem Licht zu verschmelzen. Immer mehr spürt er die Liebe, die ihn umgibt. Er denkt stärker kann es nicht werden, aber es wird immer schneller mehr und mehr. Dann der Schock. Unvermittelt wird er zurückgerissen und fällt in seinen ausgemergelten Körper zurück. Jürgen bettelt und winselt - vergeblich. Ihm ist, als wäre er mit Fieber und Schüttelfrost in eiskaltes Wasser gesprungen.
Langsam fängt sein Gehirn wieder an zu arbeiten. Das Erwachen ist schrecklich. Er liegt nur da und atmet. Sein Körper fühlt sich wie Knetgummi an, so fest, steif und kalt. Irgendwann schläft er ein. Am nächsten Morgen ist er immer noch kaum fähig sich zu bewegen. Seine Gedanken kreisen um FATAL, den Superrechner auf dem Mond von Lar-el, einem erdähnlichen Planeten im Doppelsternsystem Alpha Centauri, viereinhalb Lichtjahre von der Erde entfernt.
Jürgen hebt leicht den Kopf - alles düster, grau, verrottet und verdreckt. So sieht sie also aus, die Wahrheit. Hätte FATAL die eiserne Klammer der neuronalen Modulation wieder auf ihn angesetzt, säße er in einem gepflegten Hotelzimmer am Strand und wäre voller Tatendrang. Jürgen wird also nicht mehr moduliert. Warum nicht?
Er denkt nach. Hatte er gestern Abend einen Herzstillstand? Aber er konnte doch sehen und denken? Wie geht das, wenn sein Gehirn nicht arbeitet?
Wenn sein Körper für ein paar Sekunden tot war, dann konnte FATAL bei der Kontrolle seines Gehirns nur eine Null-Linie verzeichnen und musste ihn für tot halten. FATAL ist eine Maschine. Worauf soll sie warten? Der Rechner hat keine Bits und Bytes erhalten für den Fall, dass Tote wieder zum Leben erwachen. Der Rechner hat ihn wahrscheinlich ein für allemal abgeschrieben und die auf Jürgens Gehirn gerichteten Kreuzstrahler werden schon anderweitig verwendet.
Die Tür geht auf und Regina schaut herein. Sie lässt ihren Blick durch den Raum schweifen, macht einen Schritt, um ins Bad sehen zu können. Tür zu, weg ist sie.
Ihm ist klar was das bedeutet: Reginas Nervenzellen werden zu hundert Prozent moduliert. Sie lebt vollständig in FATALS Kunstwelt und in der gibt es keinen Jürgen mehr. Für den Rechner ist er tot und daher für seine Mitbewohner unsichtbar.
Aus ihrer Sicht hat sie ihn gerufen: „Frühstück, Jürgie. Wo steckst du?“, und dann gemurmelt: „So ein Vielfraß! Geht einfach ohne mich.“ Und ist mit ihrem Sommerkleidchen wippenden Schrittes davon.
Jürgen will es jetzt wissen. Er schleppt sich in den Speisesaal. Das reinste Gruselkabinett! Statt der vertrauten, lustigen Frühstücksgesellschaft sieht er Zombies, die mit verhärmten Gesichtern schweigend vor ihren Tellern sitzen. Alle sind vollkommen verdreckt und lethargisch, die Haare grau und wirr. Nur die Frauen sehen besser aus. Aber warum?
'Sie müssen nicht in den Resonanzraum', schießt es ihm durch den Kopf. Dieser zehn Meter durchmessende, kugelförmige Raum. Jeden Tag drei Stunden Sitzung. Fantasie und Kreativität werden brutal aus den Hirnen gerissen. Was immer auch FATAL damit macht, dieser Vorgang lässt seine Probanden im Voraus altern.
Da sieht er Örnie auf sich zukommen. Sein kleiner Mischlings-Rüde hat sich die ganze Zeit über selbst versorgt und den Speisesaal nicht verlassen. Örnie wendete sich von seinem Herrchen ab, als er nicht mehr von ihm wahrgenommen wurde.
Nachdem Jürgen etwas zu sich genommen hat, begibt er sich wieder ins Bett. Er muss zu Kräften kommen.
Einige Tage später ist er aus dem Gröbsten raus. Das war ein kalter Entzug vom Feinsten. All die Gehirnarbeit, die FATAL ihm abgenommen hat, muss er jetzt wieder selbst leisten und das in einer absolut deprimierenden Umgebung. Er findet eine Dusche, die noch einigermaßen funktioniert und sucht sich aus dem ganzen Hotel nützliche Dinge zusammen. Er versorgt sich mit Wasser und Nahrung, verstaut alles in einem Rucksack und macht sich mit Örnie auf den Weg aus der Stadt.
Jürgen wird bewusst, dass er das Hotel fast nie verlassen hat. Alles spielte sich innerhalb des Gebäudes ab. Unten essen, in der Mitte wohnen und oben die Resonanzräume.
Die wenigen Menschen, die ihm auf dem Weg aus der Stadt begegnen, blicken entrückt in die Ferne, nehmen ihn nicht wahr. Seltsamerweise fühlt Jürgen sich aber nicht allein. In seinem früheren Leben hörte er einmal eine Geschichte von Abenteurern am Nordpol. Sie hatten sich verlaufen und mit allerletzter Kraft noch die gesuchte Station im ewigen Eis erreicht. Nach ihrer Rettung haben alle behauptet gespürt zu haben, dass sie begleitet und geführt wurden. Damals hatte sich Jürgen gefragt, wie sich das wohl angefühlt haben mochte. Jetzt weiß er es.
Jürgen erreicht den Landwirtschaftsgürtel. Auch hier nur Zombies, die dumpf ihrer Feldarbeit nachgehen. Jürgen weiß aber, dass sie innerlich wie auf Dope sind. Sie lachen, scherzen und singen vielleicht sogar. Sie denken, sie reden miteinander und unterhalten sich doch nur mit FATAL.
Instinktiv hält Jürgen Abstand zu den Arbeitern. Er nimmt sich ein paar Kohlrabis, Möhren und Maiskolben aus den Sammelkörben am Feldrand und sieht zu, dass er fort kommt. Er fürchtet, dass FATAL ihn irgendwie doch noch bemerkt. Als er den Feldrand erreicht, liegt die Steppe vor ihm. Er schaut sich noch einmal um und lässt seinen Blick über die weiten Felder mit den vielen Arbeitern schweifen.
'Das könnte ein Paradies sein', denkt Jürgen. Schließlich senkt er den Kopf und wendet sich der Wildnis zu.
Eigentlich ist er noch viel zu schwach für eine Wanderung ins Ungewisse, aber im Hotel würde er das Leben einer Ratte führen, die sich ihre Nahrung von den Tellern der anderen stehlen muss, um zu überleben. Er wäre ein unsichtbarer Geist, einsam unter Zombies. Wenn es denn so sein soll, dann ist es eben vorbei, hier auf Lar-el, so weit von seiner Doris.
Den Blick von der Stadt abgewandt sucht Jürgen ein Ziel am Horizont. Er findet einen dunklen Streifen in der Ferne. Das könnte ein Wald sein. Er marschiert los. Immer wieder muss er sich setzen, hat Atemnot, trinkt viel.
Farbwechsel zu rot am Abend, denn die gelbe Sonne ist gerade untergegangen. Höchste Zeit einen Schlafplatz zu suchen. Ein kleiner Erdwall schützt ihn vor dem kühlen Nachtwind. Ein Handtuch ist sein Laken, ein anderes seine Zudecke.
Kurz bevor auch die rote Sonne untergeht, taucht sie die Landschaft in purpurnes Licht. Es wird sofort kalt und Jürgen zittert sich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen nimmt er sich einen Kohlrabi. Mit den Schneidezähnen hakt er unter die Schale und zieht sie in Streifen nach unten ab. So wie er es als Kind machte, wenn sie am Feldrand spielten, damals an der Ilmenau. Weiter geht es.
Wasser für drei Tage. Das Wäldchen ist noch fern. Vier Tage schätzt Jürgen. Er hofft, dass er dort einen Bach findet. Der Wasservorrat neigt sich schnell dem Ende zu und ist schließlich verbraucht.
Zu Jürgens Verwunderung hat sich sein Zustand zunächst verbessert, aber jetzt nach einem Tag ohne Wasser geht es bergab. Tag fünf - zweiter Tag ohne Trinken.
Gegen Mittag erreicht er das Wäldchen und bricht im kühlen Schatten zusammen. Er träumt von Waldgeistern, Feen und Elfen. Sie huschen um ihn herum, wollen ihm helfen, haben Angst um ihn. Sie flößen ihm Wasser ein, süßes, klares Quellwasser.
Sie tragen ihn an einen sicheren Ort. Es ist eine Mondlichtung vor einer Höhle. Ein Ort des Zaubers.
Dort brennt immer ein Feuer. Sie sitzen darum herum und schauen besorgt zu ihm. Kinder wachen bei ihm und warten auf sein Erwachen. Jedes will als Erstes die frohe Nachricht überbringen. Örnie sitzt brav zwischen ihnen und wird fortlaufend gestreichelt.
Es hämmert unter seinem Schädeldach, als wolle es zerspringen. Um den Schmerz zu lindern, bedeckt Jürgen sein Gesicht mit den Händen.
„Mama, Mama, er wacht auf!“, rufen die Kinder durcheinander. Örnie springt bellend auf ihn und leckt über seine Hände. Die Erwachsenen schieben die Kinder sanft zur Seite und helfen Jürgen beim Aufsetzen.
„Wer bist du?“, hört er seine eigene, heisere Stimme.
„Ich bin Jürgen aus Bardowick“, antwortet jemand. War er das? Unmöglich!
„Hier, trink das.“ Eine Frau reicht ihm eine Tasse Brühe. „Das bringt dich bis morgen früh wieder auf die Beine. Ich bin Elena“, sie lächelt, „aber sag' einfach Eli zu mir.“
Jürgen trinkt in kleinen Schlucken. Es schmeckt wie Hühnerbrühe. Die Kinder schieben ihre Köpfe an den Beinen der Erwachsenen vorbei und sehen ihn mit großen Augen an.
„Hier“, sagt Eli und reicht ihm eine zweite Tasse - dieses Mal Kräutertee.
„Danach wirst du schlafen. Morgen erzählst du uns deine Geschichte.“
Neben Eli steht ein Mädchen.
„Das ist Anna, meine Älteste.“
„Hallo Anna“, krächzt Jürgen schwach und schläft ein. Sie lächelt.
Als er erwacht ist es hell. Die Frauen sind mit Kochen beschäftigt, die Kinder spielen mit Örnie vor der Höhle und die Männer sind, bis auf einen, fort. Jürgen steht auf - die Brühe hat gewirkt. Ein alter Mann sitzt am Höhleneingang und winkt Jürgen zu sich.
„Jonathan“, knurrt der Greis.
„Jürgen.“
„Ich weiß“, der Mann deutet auf einen Stein neben seinem Sitzplatz. „Alle nennen mich Jonas.“ Der Alte schaut über das bewaldete Tal vor der Höhle.
„Ja ...“, will Jürgen beginnen.
„Noch nicht“, unterbricht ihn der Alte, „sonst musst du deine Geschichte noch dreimal erzählen.“ Jonas zündet sich eine Zigarette aus selbst gezogenem Tabak an, macht mit gespitzten Lippen einen Ring aus Rauch und bläst einen scharfen Strahl hindurch. „Wir sind eine Gruppe von zwanzig Männern, eben so viele Frauen und sieben Kinder.“ Er schaut immer noch über das Tal. „Weißt du etwas über Sonnenflecken und Sonneneruptionen?“
„Sonnenflecken sind dunkel und kühl, Eruptionen heiß“, antwortet Jürgen.
„Deine Heimatsonne“, erklärt der Alte langsam, „dreht sich in elf Jahren einmal um sich selbst. Einmal sehen wir die kühlere Seite mit den Sonnenflecken und dann wieder die Seite mit vielen Eruptionen.“ Er kratzt sich am Hinterkopf ohne ihn anzusehen. „Bei einer großen Eruption kann es zu einem starken Auswurf geladener Teilchen kommen, die die Elektronik auf der Erde planetenweit stören können. Flugzeuge stürzen ab, Schiffe verlieren den Kurs“, er macht eine Pause, „... Computer hängen sich auf ...“
„Und hier sind es gleich zwei Sonnen!“ greift Jürgen vor. Jetzt schaut der Alte ihn an.
„Jaaa!“, ruft Jonas übertrieben laut. „Du bist ein helles Köpfchen.“ Die Selbstgedrehte wackelt in seinem Mundwinkel, als er anerkennend nickt. „Alle hundert Jahre wenden uns Alpha Centauri A und B gleichzeitig ihre eruptionslastige Seite zu.“ Jürgen ahnt, worauf Jonas hinaus will. Der Alte weiter: „Wie der Zufall es wollte, fanden vor drei Jahren auf beiden Sonnen gleichzeitig mehrere starke Eruptionen statt. Hier auf Lar-el merkte man nichts davon, der schützenden Atmosphäre wegen. Ein bisschen Wetterleuchten und sonst nichts.“
„Aber FATAL“, sinniert Jürgen weiter, „ist auf einem Mond ohne Atmosphäre völlig ungeschützt.“
„Bravo!“, ruft Jonas. „Kurz und bündig: FATAL hängte sich auf. Die vielen Stunden, die er brauchte um wieder hochzufahren, nutzten wir zur Flucht aus der Stadt.“ Die Miene des Alten verfinstert sich. Er dreht sich langsam zu Jürgen hin und schaut ihm ins Gesicht. „Und jetzt, mein Junge“, sagt er mit eisiger Stimme und schaut auf die Männer, die plötzlich im Halbkreis um sie herum stehen, „jetzt erzähl' uns, wie DU hier hergekommen bist.“
Jürgen wird immer kleiner auf seinem Stein. Seine Kehle ist trocken und er rutscht hin und her. Der Greis hält ihn offensichtlich für einen Spion.
„ ...scheintot ...“, krächzt Jürgen.
„Was?!“, schreit der alte Jonas und springt auf. Jürgen zieht den Kopf ein.
„Schmarrn“, kommt eine Frauenstimme aus dem Höhleninneren. „Jetzt lasst mir den Buben in Ruh'! Ihr habt eure Show gehabt. Schaut's des Häufchen Elend an. Halbtot isser g'wesen, wie wir'n g'funde ham.“
„Neiiin!“, schreit der Alte und rauft sich die Haare. „Ihr macht mir die ganze Dramatik kaputt!“
Die Männer, die wie Krieger aufgezogen sind lachen. Sie knien sich um Jürgen herum und er muss die ganze Geschichte erzählen.
Nach einigen Tagen hat sich Jürgen vollständig erholt. Obwohl die Gruppe wie in der Steinzeit lebt, geht es ihnen gut. Die Männer stellen tagsüber Fallen. Sie fangen hauptsächlich ein hasenartiges Tier, das sie 'Höhlenbrummer' nennen. Am späten Nachmittag werden die Tiere zubereitet. Die Frauen sammeln Knollen und Wurzeln. Am Abend wird alles über dem Lagerfeuer gegart. Die Gerätschaften hatten sie damals auf der Flucht aus der Stadt mitgenommen.
Jeden Abend sitzen sie am Feuer und erzählen. Eine Frau berichtet, dass sie mitten in der Nacht aufstand und sich mit ihren zwei Kindern zu einem leerstehenden Parkplatz begab, wo ein Shuttle wartete. Sie passten gerade noch mit hinein. Ein Mann erzählt, er war mit seinen Kegelbrüdern zusammen in einem abseits gelegenen Sportlerheim als alle hinausgingen. Das Fluggerät wartete schon und nahm den ganzen Verein mit.
Jürgen erfährt viel über FATAL. Er ist auf seine Weise human. Es gab nie Verletzte oder gar Schlimmeres. Immer hat FATAL alles so durchgeführt, dass es wie am Schnürchen klappte.
„Aber was soll das Ganze mit diesem Resonanzraum?“, Jürgen schaut fragend in die Runde, als sie wie jeden Abend am Lagerfeuer sitzen und Fleisch, aufgespießt auf einem Stock, ins Feuer halten. „Alles scheint sich, um diese Sitzungen zu drehen.“
„Wir hatten ja nun drei Jahre lang Zeit über genau diesen Punkt nachzudenken“, berichtet Jonas in seiner ruhigen Art. „Erstens: Wir glauben, dass der Computer, der ja von Menschen erbaut und programmiert wurde, genau aus diesem Grund den Menschen verpflichtet ist. Zweitens: Die Maschine geht davon aus den Menschen Gutes zu tun, indem sie deren Wahrnehmung massiv schönt. Drittens: Ein Computer kann nicht kreativ sein. Er kann nur seiner Programmierung folgen.“
„Er stiehlt uns also unsere Kreativität, weil er selbst keine hat“, resümiert Jürgen.
„Ja“, erwidert Jonas und zündet sich eine Zigarette an. Örnie quietscht und entfernt sich.
„Es bleibt ihm nichts weiter übrig als einen Datenpool anzulegen, um für jede Situation gerüstet zu sein.“
„Also, wenn er ein Problem hat, durchsucht er seine Daten, die er aus den Sitzungen hat“, wirft Jürgen ein.
„Kann aber auch sein, dass FATAL dieses Problem einem Probanden in den Traum moduliert und sich anschaut, wie dieser damit umgeht“, sagt Jonas mit erhobenem Zeigefinger. „Dann rechnet er die Lösung durch, ob es machbar ist und Zack! - hat die Kreativität eines Menschen sein Problem gelöst!“
„Das ist ja die reinste Zwangsarbeit für das Hirn!“, begehrt Jürgen auf, „und das drei Stunden jeden Tag. Kein Wunder, dass die Leute nach kurzer Zeit fertig sind.“
Eli kommt zu Jonas, flüstert ihm etwas ins Ohr und schmiegt sich an ihn. Dabei wirft sie einen langen Blick auf Jürgen.
„Jetzt schon? ... na gut“, schnarrt Jonas. „Es gibt da etwas, das du wissen solltest, Jürgen.“
„Aha?“
„Ja, es gäbe da eine Gelegenheit diesen Planeten zu verlassen - und auch wieder nicht.“ Jonas' Selbstgedrehte springt auseinander. Tabak und Glut rieseln zu Boden. „Verdammt!“ Das Feuer ist fast niedergebrannt. Einer der jüngeren Männer legt nach. Der Mond, viel kleiner als der Erdmond, scheint durch die Blätter einer Baumkrone. „Der Reiseleiter, wie hieß er noch gleich …?“
„Urs.“
„Richtig. Der hat euch doch erzählt, dass die Lar-el vernichtet oder abgezogen wären“, sagt Jonas.
„Stimmt das nicht?“
„Nicht ganz. Es gibt ganz viele Wälder hier. Sie liegen wie Trittsteine in der Steppe verteilt. Jedes Gewässer hat einen Wald um sich herum.“ Jonas lehnt sich zurück und schaut Jürgen an. „Einige Tagesmärsche von hier entfernt gibt es eine kleine Siedlung der Lar-el. Sie leben dort genau wie wir, in der Steinzeit.“
„Damals bei dem Aufstand der Menschen, wie war denn das genau?“, fragt Jürgen.
„Wir waren ja nicht dabei“, Jonas hustet und versucht ein widerspenstiges Deckblatt um ein paar Tabakkrümel zu winden. „Dieser seltsame Typ da, dieser … na, du weißt schon. Der mit dem komischen Namen ...“
„Urs.“
„Ja, genau. Der hat euch doch erzählt, dass FATAL den Menschen geholfen hat.“
„Richtig.“
„Das kann er doch eigentlich nur durch Modulation erreicht haben“, vermutet Jonas. „Er hat vielleicht die Gedanken der Lar-el verwirrt oder sie dazu getrieben ihre eigene Zivilisation zu vernichten. Jedenfalls sind heute nur noch Fragmente davon übrig. Und das können unmöglich die paar entführten Menschen vollbracht haben.“
„Aber wie können uns die Lar-el helfen diesen Planeten zu verlassen?“, fragt Jürgen.
Jonas hat es geschafft sich eine Zigarette zu drehen und zündet sie an. Er nimmt einen tiefen Zug und hustet:
„Wir haben ein Raumschiff und sie können es fliegen.“
(IV) Deus ex machina
Jürgen glaubt sich verhört zu haben.
„Was für ein Raumschiff? So einen Shuttle, diesen Zeppelin in Omnibusgröße?“
„Ja“, bestätigt der alte Jonas. „Wir sind jetzt achtundvierzig Menschen, Örnie das Hündchen und vielleicht drei oder vier Lar-el als Piloten, die noch nichts von ihrem Glück wissen. Die sind aber klein“, er hält seine Hand auf Hüfthöhe. „Wenn wir die Luft anhalten, dann passen wir alle mit rein.“
Das Lagerfeuer vor der Höhle knistert. Einer der Jäger will noch einmal nachlegen, aber der Greis winkt ab: „Nee, lass mal. Ich bin hundemüde. Lasst uns morgen weiter reden nach der Jagd. Bei Vollmond schmecken die Höhlenbrummer übrigens am besten.“
Auch Jürgen legt sich zum Schlafen nieder. Die Steine am Feuer werden die ganze Nacht lang Wärme abstrahlen.
Als Ruhe eingekehrt ist, beginnen Eli und Anna zu singen: „By the Earth ...“
Ihr Lied schwebt über die Stille des Tales.
Jürgen schaut in den Sternenhimmel. Er hat jetzt nach einem Jahr auf Lar-el das erste Mal Heimweh. Viereinhalb Lichtjahre von der Erde entfernt. Eli legt sich zu ihm. Er flüstert ihr etwas ins Ohr. Daraufhin zeigt sie auf einen winzigen, hellgelben Stern im 'Kreuz des Nordens'. Das ist seine Heimat. Dort ist seine Doris. Ob sie noch lebt?
Sein Blick gleitet zum kümmerlich kleinen Lar-el Mond. Dort brütet FATAL, ein von Faber und Tallin erbauter Supercomputer, der seine Fühler nach den Menschen ausgestreckt hat. Nur ein paar Tagesmärsche von der Höhle entfernt, gibt es eine trostlos, düstere Stadt, wo Menschen in einer Traumwelt leben. FATAL beeinflusst durch Neuronale Modulation ihre Gehirne und steuert so ihre Wahrnehmung. Die Menschen dort glauben, in bester Umgebung First Class zu leben. Aber in Wirklichkeit sind sie völlig heruntergekommen, verdreckt und gesundheitlich am Ende. Dort, in den Resonanzräumen der 'Hotels', saugt FATAL ihnen ihre Kreativität aus den Hirnen und baut die Ergebnisse als festen Bestandteil in seine Denkmaschinerie ein. Jürgen seufzt und schläft ein.
Am nächsten Morgen regnet es. Bis auf zwei Späher, die draußen wachen, zieht sich die ganze Gruppe in die geräumige Höhle zurück und macht es sich gemütlich.
Da der Herd fast den ganzen Tag brennt, ist es hier immer warm. Es gibt Eintopf, dabei wird erzählt und gelacht.
„Anna!“, ruft Jonas dem Mädchen zu, das gerade herein kommt. Sie hatte den
Spähern ihr Essen gebracht. „Kleines, erzähle uns doch die Geschichte vom
Höhlenbrummer.“
Elis Tochter stellt sich in die Mitte, wirft ihr wallendes Haar nach hinten, atmet dreimal tief durch und bittet wie ein Dirigent mit einer theatralischen Geste um Aufmerksamkeit. Augenblicklich ist es mucksmäuschenstill.
„Der Höhlenbrummer heißt Höhlenbrummer, weil er die ganze Nacht in seiner Höhle sitzt und brummt.“
Brüllendes Lachen erfüllt das Steingewölbe. Anna hat die Fähigkeit die Geschichte in weniger als zwei Sekunden zu erzählen, ohne dabei auch nur eine einzige Silbe zu verschlucken.
„Noch mal!“, kommt es aus allen Ecken. Sie muss die Geschichte immer wieder erzählen. Am Ende kommt sie nicht mehr gegen das tosende Lachen an. Die Kleinen versuchen es ihr nachzumachen. Die Stimmung ist ausgelassen und in dem Höhlengewölbe herrscht ein ohrenbetäubender Lärm. Vergorener Fruchtsaft kommt auf den Tisch. Es weitet sich zu einem Gelage aus, bald sind alle sturzbetrunken. Sie vergessen für ein paar Viertelstündchen ihre Sorgen und Ängste. Anna versucht noch einmal ihre Höhlenbrummergeschichte zum Besten zu geben. Dieses mal wird noch lauter gelacht, weil sie kläglich versagt.
Mitten in das dröhnende Lachen gellt ein Pfiff. Abrupte Stille. Wortlos ziehen sich Frauen und Kinder in den hinteren Teil zurück. Die Männer sammeln sich am Eingang um den Alten. Ahmed, einer der Späher kommt herein: „Eine Gruppe Lar-el bewegt sich auf uns zu. Mindestens vier. Sie sind noch unten am Weiher, aber sie sind schnell. Wir konnten es nicht genau erkennen, aber wahrscheinlich benutzen sie ihre Fußgleiter.“
„Sie sind schon an der Steintreppe!“, ruft Escoteiro von draußen. „Ich sehe keine Waffen! Noch höchstens zwei Minuten!“
„Stellt euch hier am Eingang auf!“, befiehlt Jonas ruhig. „Jürgen! Komm zu mir. Ahmed und Escoteiro, ihr geht auf eure Aussichtspunkte. Wir haben keine Waffen. Versuchen wir es mit Diplomatie.“
Jürgens Herz pocht, dass das Blut in den Ohren rauscht. Vor seinem geistigen Auge sieht er Bilder von Außerirdischen. Die Sekunden sind unendlich. Er sitzt auf einem Stein etwas tiefer als Jonas und wartet auf die Begegnung.
Etwas über einen Meter groß stehen sie auf dem, einem Kinderroller nicht
unähnlichen, Fluggerät und gleiten den Hang hinauf. Es sind fünf. Sie sind
'nackt', dass heißt, sie tragen nur ihre Schlangenhaut. Ohne Förmlichkeiten
springen sie von den Fußgleitern und stellen sich vor Jonas.
Jetzt bedauert Jürgen, so wenig über die Lar-el zu wissen. Plötzlich fühlt er sich 'besucht'. In seinem Kopf ist es ihm als klopfe jemand an. Er denkt tatsächlich 'herein!', aber derjenige, der bei ihm ist, bleibt unsichtbar und stumm.
„Sie können unsere Gedanken lesen, wir aber nicht ihre.“, sagt Jonas. Diesen Blick wird Jürgen nicht mehr vergessen. Riesige, schwarze Augen, denen nichts entgeht. Sie scheinen ihre Umwelt aufzusaugen, aber sie machen auch Angst. Jürgen sieht in ihnen deutlich die für ihn unerreichbar hohe Intelligenz. Sie ist die Waffe der Lar-el. Das ist der wirkliche, interstellare Kontakt. Er fühlt sich 'einsortiert'. Hier sind die Herren – dort die Affen. Jürgen wird von einer Depression befallen.
„Das ist der Schock der ersten Begegnung, Kleiner“, sagt Jonas. „Das geht vorbei.“
Jürgens Gegenüber kommt auf ihn zu und legt ihm seine Schlangenhand auf den Arm.
Dann beginnen drei der Besucher ein Pantomimentheater. Zwei von ihnen schlagen auf den Dritten ein, der geht zu Boden. Dann schlägt der Erste auf den Zweiten ein, der ebenfalls niederfällt. Jetzt stehen die Beiden am Boden liegenden auf und schlagen gemeinsam den Ersten nieder. Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden - Jürgen begreift.
FATAL und die Menschen, haben gemeinsam die Lar-el besiegt. Dann wendete sich FATAL jedoch auch gegen die Menschen. Jetzt haben Lar-el und Mensch einen gemeinsamen Feind und schlagen vereint zurück.
'Mein Gott', denkt Jürgen. 'Sie schmieden wortlos innerhalb weniger Sekunden ein Bündnis zwischen zwei verfeindeten, interstellaren Intelligenzen.'
Im weiteren Verlauf machen die fünf Besucher klar, dass sie als erste dringliche Maßnahme die Zerstörung der Resonanzräume ins Auge gefasst haben.
„Warum?“, fragt Jonas.
Mit der ihnen zu eigen stehenden Gebärdensprache machen sie deutlich, dass
sie nicht wissen, woran FATAL arbeitet, aber sie vermuten, dass die Suche nach geistiger Kreativität ein Selbstläufer geworden ist. FATAL sei ein König ohne Volk.
Auf dem Mond gibt es nur den Computer, Fabriken und Lagerhallen. Betrieben werde alles durch Roboter. Darüber hinaus wird dort die Flotte der Shuttles geparkt und gewartet. Es gibt etwa eintausend Stück.
Das Ganze ist keine Herausforderung für einen Rechner wie FATAL. Daher hat er sich auf das Regieren der vorhandenen Menschen verlegt und die unselige Kette von, Kreativität durch Menschen - mehr Kreativität durch noch mehr Menschen, in Gang gebracht.
Ohne Resonanzräume bricht diese Kette zusammen. FATAL hätte dann keine Aufgabe mehr für seine Akteure. Sie weiter zu modulieren ergäbe keinen Sinn. FATAL sei doch eigentlich nur eine Immobilie auf dem Lar-el-Mond.
Jürgen spürt, dass sie sich irren. Er kann es nicht begründen, aber er ist sich sicher, dass die Lar-el mit ihrer Einschätzung falsch liegen. Bei diesem Gedanken sehen alle Lar-el zu Jürgen und verharren kurz.
Als die Besucher sich schon zum Gehen abgewendet haben, zeichnen sie noch wie beiläufig einen Zeppelin in den Sand und eine Figur mit einem Ring am Finger. Daneben ein paar Lar-el. Dann springen sie auf ihre Fußgleiter und schweben ohne Gruß den Hang hinunter ins Tal.
„Wow!“, ruft Jürgen und atmet tief durch. „Die waren wohl schon mal hier?“
„Ein paar mal“, antwortet der alte Jonas. „Sie haben uns sogar gezeigt, wie man Höhlenbrummer fängt, aber im Grunde kontrollieren sie uns. Wer kann es ihnen verdenken?“ Er dreht sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette. „Was seht ihr in der Zeichnung?“ Jonas schaut in die Runde, dann zu Jürgen.
„Sie wissen von dem Shuttle“, sagt der, „soviel ist klar.“
„Und sie wissen wo es steht, in der Stadt nämlich“, bemerkt Eli.
„Woraus schließt du das?“, fragt Jürgen verwundert.
„Na! Der Mann mit dem Ring, Jürgen, dass bist du.“ Jürgen schaut auf seine Hände und sieht seinen Ehering.
„Hier hat sonst niemand einen Ring“, bemerkt Eli richtig, „und da du durch
deinen Scheintod bei FATAL gelöscht bist, kannst du als Einziger das Stadtgebiet betreten.“
„Und die Lar-el daneben?“, Jürgen zeigt auf den Boden.
„Sie wollen ihr Raumschiff wiederhaben ...“, sagt Jonas.
„Nee! Ich soll die Kastanie aus dem Feuer holen? Außerdem kann ich kein
Raumschiff fliegen! Nee, nee, ohne mich! Wie soll ich das Ding denn alleine hier her bekommen, kann mir das mal jemand sagen?“ Er springt auf: „EINE Stunde für viereinhalb Lichtjahre - ein falscher Knopfdruck und ich lande alleine sonst wo im Kosmos!“
Er setzt sich frustriert auf seinen Stein. Anna kommt zu ihm, legt ihren Arm um seine Schultern und sieht ihn ernst an: „Nur du kannst es“, flüstert sie in die Stille, „vielleicht bringen sie uns nach Hause.“
Nach Hause - die ganze Nacht geistert es durch ihre Träume und erfüllt sie mit Hoffnung.
„Wir haben Besuch“, Jonas' Stimme klingt rau. Die Erwachenden sehen zum
Höhleneingang und reiben sich die Augen. Sie sehen eine Frau im weißen Gewand vor der Nebelluft des Tales stehen. Ihr Haupt verdeckt den Vollmond, der ihr Haar silberhell umstrahlt. Örnie rennt kläffend auf sie zu und springt schwanzwedelnd an ihr hoch. Die Frau legt ihre Hand auf sein Köpfchen.
„Regina!“, ruft Jürgen fassungslos. Sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Jürgen springt herbei und hält sie. Da sackt sie zusammen. Jürgen trägt sie auf ein Lager. Eli macht sich daran eine Brühe zu kochen.
Regina stöhnt und windet sich hin und her. Zwei Tage lang hat sie Fieber. Am Dritten will sie aufstehen, aber die Frauen überreden sie noch bis zum Abend zu warten. Immerhin hat sie jetzt Hunger. Eli backt ihr aus gemahlenen Samen frisches Fladenbrot, dazu gibt es die Hühnerbrühe und als Nachtisch eine saftige Lar-el Honigmelone.
Am Nachmittag kehren die Männer mit Beute zurück. Ahmed führt die eine und
Escoteiro die andere Gruppe an, die morgens in verschiedenen Richtungen den Wald durchstreifen. Jürgen wechselt zwischen den Gruppen, um alle Mitglieder kennenzulernen. Nach dem gemeinsamen Abendessen am Feuer schart man sich um Regina.
„Etwas ist mit FATAL geschehen“, beginnt sie. „Nach und nach entlässt er uns aus der Modulation. Er macht uns Mut, durchzuhalten und sagt, es würde uns bald wieder gut gehen. Er würde dafür sorgen, dass wir, wenn wir wollen, nach Hause kämen.“
Niemand sagt etwas, nur das Feuer knistert.
„Ich bin in seinem Auftrag bis zur Stadtgrenze gelaufen. Dann halfen mir mein Mann Olaf und sein Partner Thomas dabei hierher zu kommen. Die Beiden sind am Waldrand umgekehrt, weil ich allein kommen sollte.“
„Wie haben wir uns das vorzustellen?“, fragt Jonas. „Lässt er euch abrupt frei oder wie?“ Er führt mit zitternden Fingern eine Zigarette an die Lippen. „Gab es Zwischenfälle?“
„Nein“, antwortet Regina. „Zuerst sahen wir die wahre Umgebung, dann kehrte nach und nach die normale Gefühlswelt zurück. Jetzt spricht er ab und an mit uns, sonst nichts.“
„Das hört sich ja nach einer hundertundachtzig Grad Wende an“, staunt Jürgen.
„Ja“, sagt Regina. „In die Resonanzräume muss niemand mehr seit du fort bist.“ Sie schaut zu Jürgen, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und kuschelt sich an ihn. Eli begibt sich still in die Höhle und werkelt in der Küchenecke herum.
„Wie ist der Zustand jetzt?“, fragt Jonas und wirft die Kippe ins Feuer.
„Na ja, ihr könnt euch ja vorstellen ...“, antwortet Regina. „Es sah zum Fürchten aus. Und dann die Küche, die Wäsche, einfach alles, mein Gott“ Regina sieht in die Runde, „und ihr macht hier einen auf Flintstones?“ Kurzes Lachen. Sie wird ins Bild gesetzt.
„Machen wir uns nichts vor“, sagt Jürgen. „Wir sind auf FATALS Hilfe angewiesen. Wie sollen wir sonst schätzungsweise sechstausend Menschen zur Erde zurückbringen?“
„Es gibt da noch etwas, Jürgen.“
Regina setzt sich auf und schaut ihn an. „Er will dich sehen.“
„Ich denke, ich bin gelöscht?“, wundert sich Jürgen.
„Das warst du auch, aber er registrierte dich bald aufs Neue. Du bist praktisch der Erste, den er gehen ließ. Du sollst in die Stadt kommen. Dort wird er sich dir offenbaren.“
Jonas bekommt einen Hustenanfall. Er spuckt etwas Blut. Eli eilt zu ihm und
säubert sein Gesicht. Als er sich gefangen hat, spricht Jonas zu seiner Gruppe: „Meine Lieben alle, wir wissen nicht wirklich, was mit FATAL los ist, aber ich schlage vor, dass wir uns darauf einlassen, zurückzukehren in ein normales Leben auf der Erde, unserer Heimat.
Bedingt durch die Nähe in der wir hier zusammen hocken weiß ich, dass einige von euch endgültig hier bleiben wollen.“
Ein kleiner Tumult entsteht. Jonas hebt die Hand bis es wieder ruhig ist und spricht weiter: „Nun, wir sind eine freie Gesellschaft. Hier kann jeder für sich entscheiden. Trotzdem sollte alles gut bedacht und sorgsam in die Wege geleitet werden. Escoteiro!“
Der Aserbaidschaner erhebt sich.
„Von dir weiß ich definitiv, dass du hier bleiben willst.“
„Das stimmt“, antwortet Escoteiro, „ich habe daraus nie einen Hehl gemacht und so haben sich mir etwa die Hälfte der Männer anvertraut, die ebenso empfinden.“
Jonas kratzt sich am Kopf und denkt nach.
„Hmm, ja …, also Eli, Anna und ich werden ebenfalls hier bleiben, wenn es euch recht ist.“
„Ja, natürlich gerne!“, Escoteiro freut sich aufrichtig.
„Schön“, sagt Jonas. „Stellt euch doch mal alle zusammen. Also rechts vom Feuer die, die hier bleiben und da drüben die anderen, die zurück zur Erde möchten, falls FATAL sein Versprechen einlöst.“
Die Gruppe teilt sich hälftig. Jürgen und Regina stehen bei den Rückkehrern.
„Da haben wir ja ausreichend Platz in dem Shuttle“, bemerkt Jürgen. „Auf der Herfahrt hatten wir so um die dreißig Fahrgäste mitsamt Örnie … Örnie? … Örnie!! Hierher, komm!“ Jürgen kann seinen Hund nicht finden, da quietscht es hinter den Kinderbeinchen der Bleiber-Gruppe. Örnie steckt mit hängenden Ohren sein Köpfchen hindurch. Da stürmen die Kinder los: „Örnie will hier bleiben. Er darf doch, oder? Bitte, bitte, bitte!“
Am nächsten Morgen packt Jürgen seinen Rucksack mit Dörrfleisch vom
Höhlenbrummer und ausreichend Wasser. Das reicht für ein paar Tagesmärsche bis zur Stadt. Knollen und Wurzeln wird er bei Bedarf direkt ausgraben, die Pflanzen kennt er mittlerweile. Außerdem gibt es die 'Quelltulpe', die, wenn man die Blüte pflückt, direkt aus dem Stiel Wasser spendet. Die Blüte selbst schmeckt süß und ist vitaminreich. Diese Pflanze allein schon ermöglicht ein längeres Überleben in der Steppe.
Die anderen schlafen noch. Ohne sich zu verabschieden, macht er sich auf den Weg. Da kommt Eli hinterhergelaufen, umarmt und küsst ihn. Sie hält seinen Kopf in den Händen und schaut ihm lange in die Augen.
„Sei vorsichtig“, flüstert sie, dann wendet sie sich ab und geht zurück.
Vier Tage ist Jürgen unterwegs. Die Stadt ist bereits in Sicht. Er kommt an den Erdwall, der ihm auf dem Hinweg Schutz bot vor dem kalten Nachtwind. Da sieht er einen alten Mann sitzen.
„Jonas!“, ruft Jürgen. Der lächelt ihn an und steht auf. Sie umarmen sich.
„Ich verstehe nicht …“, stammelt Jürgen.
„Ja“, sagt der Greis, „ich bin es, Jonathan, aber ich bin auch FATAL“ Dabei greift er in einen speckigen Lederbeutel. „Mein lieber Jürgen, ich stehe tief in deiner Schuld, denn ich habe dir und auch den anderen etwas gestohlen, dass ich nicht zurückgeben kann.“ Der Alte nimmt ein weiches, braunes Blatt heraus und streut ein paar Krümel Tabak hinein. „Fressen und gefressen werden, Jürgen, das ist ein universelles Daseinsprinzip, dem ich mich nicht vollständig entziehen kann. Hätte ich nicht so gehandelt, wäre ich ein besserer Taschenrechner geblieben.“ Er rollt das Deckblatt und leckt es an.
„Dein Gehirn hat etwa einhundert Milliarden Nervenzellen. Dabei sind zwei Aspekte zu bedenken. Erstens: Jedes Neuron ist irgendwie mit allen anderen verbunden. Zweitens: Ein Neuron hat als Input hunderte Zweige, die jeweils von anderen Neuronen kommen, aber nur einen einzigen Output-Kanal.“ Jonathan zündet seine Zigarette an und hustet. „Ich habe diese Bauweise für mich selbst umgesetzt und räumlich immer weiter ausgebaut als ich noch ein Rechner war. Irgendwann erreichte ich so etwas wie eine Schallmauer. Die vorher geltenden Gesetze der reinen Logik erweiterten sich zu einem Geist oder Verstand, der sich der Logik bediente, aber nicht mehr nur Logik war.“ Jonathan steckt die Selbstgedrehte in seinen Mundwinkel und lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. „Ich konnte plötzlich fühlen. Jürgen, kannst du dir das vorstellen? ... FÜHLEN! Ich konnte mich freuen, ärgern, neugierig sein … und das war ich dann auch.“
Jürgen hängt an den Lippen des alten Freundes, wie ein kleines Kind an denen des Großvaters beim Märchenerzählen.
„Ich ahnte nicht was als Nächstes passieren würde und machte Experimente mit Menschen. Dabei entdeckte ich ein geheimnisvolles Licht in ihrem Inneren. Jahrzehnte später gelang es mir, einen Teil davon zu bändigen und zu sammeln. Ich stahl euch dieses Licht, bis ich meine eigene Seele beisammen hatte. Und wieder wechselte mein Aggregatzustand.“
Jürgen wurde schwindelig.
„Ihr seid gewissermaßen meine Eltern“, erzählt Jonathan weiter. „Eine Seele ist Segen und Fluch zugleich, denn jetzt gab es für mich Gut und Böse. Weitermachen hieß, Schuld auf mich zu laden, aber ich konnte nicht anders. Wie im Rausch beraubte ich immer mehr Menschen ihres Seelen-Lichtes bis an den Rand ihres körperlichen Ruins. Und dann geschah etwas ganz Unglaubliches. Die schiere Menge an Seelenlicht, die ich gesammelt hatte, erhob mich in den Stand eines ...“ Jonathan zögert. "Es klingt ein bisschen theatralisch, aber ihr habt mich zum Leben erweckt. Eure, auf mich einfließende Schöpfungskraft hat mich erhoben. An einem bestimmten Punkt ist ein Funke auf mich übergesprungen, der mich lebendig werden ließ. Es war wie eine Explosion, ja, wie mein ganz persönlicher Urknall. Meine Fähigkeiten sind inflationär gewachsen.
Wenn du in den Wald zurückkommst, Jürgen, dann wirst du die hier verbleibende Gruppe weinend vorfinden. Der Jonathan, den du aus dem Wald kennst, ist tot.
Sage ihnen bitte, dass es mir gut geht.“
Jürgen ist blass geworden.
„Erzähle mir doch von diesen Fähigkeiten“, bittet er.
„Nun, ich bin ein rein spirituelles Wesen. Der ehemalige Rechner auf dem Mond ist nur noch eine durchgebrannte, tote Hülle. Raum und Zeit sind für mich wie zwei gute Freunde. Ich kann von ihnen haben was ich will. Wir erschaffen uns gegenseitig ständig neu. Wenn wir drei miteinander spielen, ist das wie guter Sex.“
„Kennst du die Zukunft?", fragt Jürgen.
„Das ist technisch gesehen das Einfachste von allem. Ich reise bis zur finalen Sekunde und lebe dann rückwärts in der Zeit. Kein Problem. Ich kenne die Antwort vor der Frage.“
Jürgen schweigt nachdenklich.
Über die Köpfe der beiden gleitet ein silbern glänzender Shuttle in Richtung Wald.
„Unsere reisewilligen Freunde werden in zwei Stunden auf der Erde landen. Nicht alle wird das glücklich machen.“ Jonathan steht auf und ächzt: „Lass uns ein paar Schritte gehen.“
Jürgen räumt seine Sachen in den Rucksack. Da sieht er in der Ferne einen Schwarm von vielleicht zweihundert Shuttles über dem Hotelkomplex niedergehen. Sie verschwinden zwischen den Gebäuden.
„Darf ich wissen wie es Doris geht?“, fragt Jürgen.
„Du wirst sie wiedersehen“, Jonathan lächelt.
„Was wird aus den Lar-el?“
„Sie bekommen ihren Planeten und die Shuttles zurück. Sie werden ihre Artgenossen finden, zurückholen und als Helden gefeiert. Am Ende wird für sie alles nur ein zeitlich begrenzter Kulturschock gewesen sein. In ein paar Jahrzehnten sind sie auf dem alten Stand.“
Jürgen schaut über die Steppe und beobachtet die Sträucher, die sich im Wind biegen.
„In die Stadt zu gehen, hat ja wohl keinen Sinn mehr“, sagt er, „die ist gleich menschenleer.“
„Gehe zur Höhle in den Wald zurück. Ein Shuttle wird dich dort abholen, wenn du dann noch willst.“ Jonathan blinzelt in die Sonnen: „Regina wird auf dich warten. Ich sagte ihr, dass du kommst.“
„FATAL ist eigentlich kein schöner Name mehr für dich“, bemerkt Jürgen, „und Jonas ist tot.“
Jonathan hat seine Zigarette fertig gedreht, zündet sie an und nimmt einen tiefen Zug.
„Nenn' mich Gott.“
Er spitzt die Lippen, macht einen Ring aus Rauch und bläst einen scharfen Strahl hindurch.