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Die eigensinnige Steineiche
Weitab jeglicher Zivilisation bargen die Wälder zahlreiche Geheimnisse. Eines davon war die Existenz des Elfenvolkes. Wem kraftvolle Rösser und edel gewandete Wesen beeindrucken, würde in diesem Wald das höchste seiner Gefühle erleben.
Dort wohnte man zwar nur in Holzhütten, doch waren sie liebevoll verziert. Man ritt auf schneeweißen Löwen, die sich im Walde so heimisch fühlten, als wären sie schon immer dort gewesen. Gewänder wurden von Schneidern genäht, die jahrhundertelange Erfahrung hatten. Obwohl das Elfenvolk mit seiner extravaganten Lebensweise einen Einschnitt in die Natur geschaffen hatte, wirkte alles wie im Einklang.
Die optimale Anpassung der Elfen lag daran, dass sie mit ihrer hohen Lebenserwartung sich deutlich besser spezialisieren konnten als gewöhnliche Sterbliche.
Die hohe Lebenserfahrung erkannte man an ihrem ruhigen, nachdenklichen Gemüt. Obwohl dies nach außen oft eher eine abweisende und ernste Wirkung erzielte, verstanden die Elfen sehr wohl zu feiern.
Das hübsche Paar Thalion und Samfalie ritten an einem sonnenhellen Tag zu einem der schönsten Festlichkeiten des Jahres: dem Frühlingsfest.
Kaum zu glauben, welch drastische Änderung dieser vielversprechende Frühlingsmorgen noch mit sich bringen sollte.
„Ob Belthadi auch anwesend ist?“, fragte Thalion seine Gemahlin.
Thalion hatte diesen alten Griesgram persönlich dazu aufgefordert, wieder einmal vorbei zu schauen. Man konnte Belthadi nur noch schwer beeindrucken. Seit dem tödlichen Unfall seines Sohnes zog er sich immer mehr zurück.
„Wäre mir eine Freude“, antwortete sie nachdenklich.
Dann geschah es. Selbst die Löwen reagierten zu spät, als ein gewaltiger Arm einer Steineiche unnatürlich schnell auf den Boden zuraste, direkt auf die Reitenden.
Sie starben innerhalb von sieben Sekunden, drei Zehntel und zwei Hundertstel.
Überrascht runzelt Herr Krams die Stirn. Welcher Autor schreibt solch ein seltsames Buch? Nach solch einer märchenhaften Einleitung erschafft man doch kein abruptes Ende dieser Art. Sonderlich umfangreich ist diese Geschichte wahrlich nicht.
Unglücklicherweise ist der Autor Krams selbst.
Das kann nicht sein Werk sein! Niemals würde er so etwas Miserables verfassen. Kaum zu glauben. Jedoch ist es sein Laptop mit dem von ihm selbst erstellten Dokument, welcher diesen reichlich merkwürdigen Text auf dem Bildschirm anzeigt. Krams rückt seine Brille zurecht.
Eine liebevolle und zugleich gewaltverherrlichende Geschichte über das Elfenvolk sollte ihn zum Erfolg bringen und keine hundsmiserable Kurzgeschichte. Verwirrt löscht er den neuen Text bis zu ‚nachdenklich‘, dann greift er nach seinem Burgunder.
Eigentlich sollte er an diesem Tag lieber keinen Wein mehr trinken, ehe er nicht seine täglichen schriftstellerischen Arbeitsstunden hinter sich gebracht hat. Eigentlich sollte er überhaupt nichts Alkoholisches mehr anrühren. Das würde jedenfalls seine Frau sagen. Wenn er eine hätte.
Er erhebt sich, holt eine neue Flasche und stellt sie auf den Arbeitstisch. Nur für morgen. Damit er das dann nicht mehr erledigen muss. Er setzt sich. Da der Wein nun schon einmal da steht, kann er ja auch gleich für morgen trinken.
Mit zufriedenem Gaumen wendet er sich erneut seinem Text zu. Da steht die Szene wieder. Hat er sie nicht gelöscht? Nun gut, doppelt hält besser. Kaum beendet er den Löschvorgang, bildet sich ein neuer Text. Von ganz allein. Buchstabe für Buchstabe, als würden sie von fremden Händen eingetippt werden. Ein Hacker? Die Neugier lässt Krams lesen.
Werter Autor,
so langsam habe ich genug Elfen, Löwen und dergleichen gesehen. Das ist sehr bedauerlich, weil die Bäume dadurch wieder nur eine unbedeutende Nebenrolle spielen. Nicht einmal die Art der Bäume wurde erwähnt. Ich bin übrigens die Steineiche und trage die Verantwortung für den Unfall. Offensichtlich ist es mir gelungen, damit ausreichend Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Es wäre ratsam, genauer auf den Punkt einzugehen, welch elementare Rolle die Bäume für die Existenz allen Seins spielen. Tiere, somit auch alle menschenähnlichen Wesen, benötigen nun einmal den von uns bereitgestellten Sauerstoff. Zudem haben auch Bäume Differenzierung verdient. Keiner gleicht dem anderen und auch wir haben besonders schöne Exemplare, die Lobpreisung wert sind. Des Weiteren
verdient mein 287. Geburtstag mehr Beachtung als solch ein Frühlingsfest. Im Gegensatz zu einem Frühlingsfest erlebt man den 287ten ganz sicher nur ein einziges Mal im Leben.
Krams schickt Norton auf die Suche nach dem rätselhaften Fremden, dann antwortet er besorgt und amüsiert zugleich:
Sehr geehrte Steineiche,
mit Bedauern stelle ich fest, dass ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann. Zwar muss ich für Ihre Augen einem Sprössling gleichkommen, doch für einen Menschen bin ich nicht mehr der Jüngste. Da mir Luft und Wasser zum Leben nicht ausreichen, muss ich meine Finanzen fördern. Dies ermöglicht mir der Verkauf meiner Bücher.
Den Leser interessiert es bedauerlicherweise nur am Rande, ob eine Steineiche besonders schön oder hässlich ist, geschweige denn ihr Alter. Lieber sollte ich brutale Gewalthandlungen und möglichst außergewöhnlichen Geschlechtsverkehr einbauen, da dies nun einmal gern gelesen wird. Das sind sehr unflätige Handlungen, weshalb ich mit der Erschaffung nahezu perfekter und herrlicher Wesen einen Kontrast herstellen möchte.
Kaum hat Krams zu Ende getippt, entsteht eine neue Nachricht auf seinem Bildschirm. Wer auch immer die Worte verfasst, kann immerhin nicht so schnell Tippen wie Krams. Also handelt es sich beim Fremden schon einmal um jemanden, der … der eben langsamer tippt als Krams. Vielleicht würde er das Wissen ja noch benötigen.
Werter Autor,
der Zufall hat uns wohl zusammengeführt, da ich bereits eine Gewalthandlung ausgelöst habe. Weil nun keine Elfen mehr übrig sind, können Sie gerne detailliert auf meine Persönlichkeit eingehen.
Verblüfft antwortet Krams ‚wem auch immer‘:
Sehr geehrte Steineiche,
wie der Zufall es will, habe ich die Möglichkeit nach Belieben jederzeit neue Wesen zu erschaffen. Da der Leser sich lieber mit seinesgleichen oder Wesen, die seinem eigenen sehr ähnlich sind, identifiziert, wird mich daran auch nichts hindern.
‚Steineiche‘ entgegnet forsch:
Werter Autor,
ich sehe vermutlich die Ursache ihres Problems. Könnte ihre finanziell missliche Lage etwas damit zu tun haben, dass Sie ihre Werke unter Umständen nicht originell genug sind? Wie wäre es mit etwas Seltenem oder völlig Neuem?
Zum Beispiel Steineichen im Unterschied zu anderen Baumarten. Doch sollte es kein gewöhnliches Sachbuch sein, sondern eines, das auch auf unsere Gefühle eingeht. In beiden Punkten könnte ich behilflich sein.
Wer oder was auch immer diese ‚Steineiche‘ ist, wird Krams langsam etwas frech.
Norton hat seine Arbeit beendet und bemängelt nichts. Also wohl doch kein Hacker?
Sehr geehrte Steineiche,
ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Sie nichts anderes als eine unfreiwillige Ausgeburt meiner Phantasie sind, die vermutlich auf meinen leicht erhöhten Alkoholkonsum zurückzuführen ist. Darum werde ich auf weitere lieb gemeinte Ratschläge und dergleichen nicht eingehen.
Krams überlegt. Ein wenig Recht hat seine außergewöhnliche Ausgeburt der Phantasie ja schon. Sonderlich originell ist die Geschichte nicht.
Einst hat er tiefsinnige Gedichte und Liedertexte geschrieben. Doch da diese mit nur wenig Erfolg gesegnet waren, hat er sich auf Trivialromane spezialisiert, die ihm immerhin ein bisschen Geld gebracht haben. So langsam wird es jedoch Zeit für etwas Neues: Etwas so schlechtes, das noch keiner verfasst hat. Das ist die Idee! Er würde jedes Niveau unterbieten! Das Werk würde einschlagen! Mitten in die Presse! Jeder Verriss sollte nur ihm gewidmet werden! Die Leute würden sein Werk lesen nur um sich darüber aufzuregen. Im Fernsehen funktioniert diese Vorgehensweise ja bereits. Welch herrliche Idee!
Dann geschieht es schon wieder. Eine weitere Antwort:
Werter Autor,
…
Nein, jetzt möchte Krams nicht weiter diskutieren. Er muss doch in Ruhe sein Werk beginnen.
Ja, Steineiche? Was ist denn nun noch? Habe ich nicht gesagt, … geschrieben, dass ich jegliche Ratschläge von nun an ignorieren werde?
… mir ist eine Eichel heruntergefallen. Ich dachte, falls Sie nach dem Geschlechtsverkehr noch auf das Thema Fortpflanzung …
Ehe ‚Steineiche‘ zu Ende schreiben kann, löscht Krams die Zeile und fügt seinen eigenen Text ein:
Reichlich wenig geehrte Steineiche,
im Moment wünsche ich, du wärest nicht erschaffen worden!
Ha! Welch Ironie. Hat er die Steineiche nicht selbst erschaffen?
Das ist es! Das ist die Idee, wie er alle Probleme auf einmal lösen kann.
Munter leitet er seinen neuen Roman ein:
Weitab jeglicher Zivilisation lebten einst die Wüstenelfen. Den Namen trugen sie aus einem einfachen Grund: Sie lebten in der Wüste. Dort gab es keine Bäume und schon gar keine Steineichen, nicht einmal Gräser.
Die Wüstenelfen lebten nicht nur in der Wüste, sondern waren auch noch sehr wüste Gesellen. Deshalb lag die Bezeichnung wüste Wüstenelfen sehr nahe. Auf gepanzerten Kamelen zogen sie in die nächste Schlacht.
An der Spitze ritt das schöne Paar Thalion und Samfalie. Schön waren sie aber nur, weil alle anderen Wüstenelfen furchtbar hässlich waren. Dabei wollten sie doch unvergleichlich schön sein! Wie konnte man das bloß erreichen, wenn man in der Schönheitsskala weit unten lag? Genau! Man eliminierte lediglich jedes Wesen, mit dem man sich vergleichen konnte. So zogen die wüsten Wüstenelfen durch die Wüste, um eine wüste Schlacht gegen andere, nicht ganz so wüste Kreaturen zu führen …
Werter Autor,
ich möchte Ihnen gratulieren. Solch ein schlechtes Werk ist mir wirklich noch nicht untergekommen. Herzlichen Dank dafür, dass ich in diesem wahrlich grässlichen Roman keine Hauptrolle spiele. Können Sie die Nebenrolle auch noch streichen?
Krams ist verblüfft. Entweder hat er nicht einmal ein bisschen Kontrolle über seine Phantasie oder er ist doch nicht der Erschaffer dieser seltsamen Steineiche.
Nebenrolle streichen? Oh nein! Diesen Gefallen wird er der eigensinnigen Steineiche nicht tun!
Werter Autor,
zudem möchte ich erwähnen, dass die einzig passende Zielgruppe dieses Textes vermutlich gar keine Bücher liest. Das Problem an der Sache sind die zahlreichen Buchstaben.
Krams hält inne. Ganz unwahr ist diese Behauptung nicht. Bilderbücher wären eine Möglichkeit, doch da fehlen die Spezialeffekte. Nun gut dann eben doch etwas Originelleres. Sollte er wirklich über Steineichen schreiben? Ein außergewöhnlicher Handlungscharakter ist das wahrlich. Seine schmalen Finger fahren über die Tastatur …
Weitab jeglicher Zivilisation bargen die Wälder zahlreiche Geheimnisse. Eines davon wurde von einer 287-jährigen Steineiche gehütet. Natürlich dachte sie nicht im entferntesten Sinne daran es preiszugeben, dann wäre es ja kein Geheimnis mehr.
Manch einer würde vielleicht behaupten es wäre langweilig immer am selben Ort zu leben. Aber warum sollte man sich fortbewegen, wenn die Ereignisse von ganz alleine zu Gast kamen? Weil man in Gefahr geriet. Ja, die Steineiche war in ihrem langen Leben noch nie solch einem großen Risiko ausgesetzt wie heute. Es war hoffnungslos. Selbst mit hoher Lebenserfahrung lernen Steineichen das Laufen nicht.
Beinahe drei Jahrhunderte lang hatte sie sich durchs Leben gekämpft und nun sollte innerhalb eines kurzen Tages sterben?
Dieser kleine, freche Goblin konnte ihr zwar nichts anhaben, aber die reichlich größeren Gestalten hinter ihm schon.
Anhand der Beobachtungen wusste die Steineiche, was sie erwartete. Wehrlos würde ihr Körper auf den Boden stürzen, dann würden die Kreaturen ihr die Arme abhacken, sie köpfen und in kleine Stücke zerlegen.
Wie sich das wohl anfühlte? Sehr schmerzhaft oder wie ein gnädiger Tod? Ihre Leidensgenossen hatten keine Worte verloren. Nur die leblosen Überreste erzählten ihre Geschichte.
Die Kreaturen kamen immer näher.
Nein, die Steineiche wollte heute noch nicht sterben. Also wurde es wohl Zeit. Zeit für die Preisgabe ihres ganz besonderen Geheimnisses. Selbst die Steineiche wusste nichts von den verheerenden Auswirkungen, die sie sogleich verursachen sollte …
Zufrieden schaut Krams auf und gönnt sich einen Schluck.
Da meldet sich auch schon sein seltsamer Ratgeber:
Werter Autor,
guter Anfang! Das könnte ein Meisterwerk werden. Doch welch Geheimnis verberge ich … Verzeihung! Verbirgt einer meinesgleichen denn?
Krams schmunzelt.
Sehr geehrte Steineiche,
es ist mir eine Freude mit meiner fesselnden Einleitung Ihre Neugier zu wecken.
Leider habe ich gewisse Zweifel, was Ihre Identität betrifft und es wäre reichlich unratsam das Werk vor der Veröffentlichung mit anderen zu teilen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf mein finanzielles Problem hinweisen. Wer mehr erfahren möchte, kann den vollständigen Roman gerne käuflich erwerben. In diesem Sinne, mein Freund, darf ich bitten?