Die Ehrung
Da stand er nun. Nur das wässerige, reflektierende Schimmern der vielen Lichter auf der Netzhaut zeugte von seiner inneren Bewegtheit. Das Gesicht eine Maske, in Stein gemeißelt, mit allen tiefen Furchen, die das Leben geschlagen hatte. Kein Zucken der Mundwinkel, nicht einmal ein Wimpernschlag, der dem Zuschauer Einblick in seine Gefühlswelt gewähren könnte. Die schwarzen, halblangen Haare grenzten widerspenstig das hagere Oval des Gesichtes ein. Ein Drei-Tage-Bart zeugte davon, dass er offensichtlich nicht auf diesen Moment, diesen Auftritt vorbereitet war, ebenso sein Äußeres. Ein langer, schwarzer Trenchcoat mit eingerissener Tasche, der Kragen halb hoch gestellt, verschlissen. Die schwarze Hose, ohne Bügelfalte, lang auf dem Boden aufliegend, verdeckte die ausgetretenen Schuhe, die abgelaufenen Absätze.
Plötzlich wurde es still im Saal.
Die eben noch johlende Menge schien zu begreifen, dass sie Zeuge eines besonderen Momentes wurde, dass hier und jetzt etwas geschah, was nicht geplant, nicht vorhersehbar war. Die Moderation geriet ins Stocken. Flüssig und mit lachender Stimme hatte der Moderator eben noch „das Schlusslicht“ aufgerufen, zu einer Ehrung, die den meisten der Anwesenden bei geringerem Alkoholgenuss nie in den Sinn gekommen wäre: „geehrt“ werden sollte derjenige, des gesamten Jahrganges, der am wenigsten erreicht hatte, dem es nicht gelungen war mehr Statussymbole anzuhäufen als die anderen, der „Looser“, der Verlierer, das Opferlamm, das der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollte. So mancher mochte bei der arroganten, überheblichen Aufforderung des Moderators gestutzt haben, doch bevor sich das Gefühl des Widerwillens manifestieren konnte, waren sie vom Gejohle der Anderen mitgerissen worden, hatten die Schranken fallen lassen und gleichermaßen den Gang auf die Bühne gefordert.
Er hatte kurz gezögert, nicht weil er die Korrektheit seiner Ernennung bezweifelte, eher um eine Rücknahme der Ehrung möglich zu machen. Aber dann war er wortlos aufgestanden, langsam, der Hektik des Saales entgegenwirkend, war er zur Bühne geschritten, wie in Zeitlupe hatte er die vier Stufen bewältigt, war kommentarlos am Initiator dieser „Show“ vorbei gegangen und hatte sich einige Meter entfernt vor das Mikrofon platziert. Wortlos, den Blick auf die ehemaligen Kommilitonen gerichtet, zuerst umfassend, dann bei jedem Einzelnen Kontakt suchend. Keiner hatte ihm länger standgehalten, Bruchteile von Sekunden nur, bis zum Begreifen, was geschah. Dann hatte jeder die Augen gesenkt, den Kopf, oder den Nachbarn angeschaut, um die Verlegenheit zu überbrücken, moralischen Beistand erwartend.
Seine durchdringenden Augen beherrschten die Meute, geboten Schweigen und gebaren Stille.
Reglos, wie angewurzelt, stand der Moderator an der Stelle, an welcher er ignorierend passiert worden war. Schmerzhafte Bewegungslosigkeit breitete sich aus. Die Scheinwerfer beleuchteten den schwarzen Trenchcoat, unterstrichen erbarmungslos den Kontrast zerschlissenen Materials mit unbeschädigtem. Aber gleichzeitig verliehen sie den markanten Gesichtszügen noch mehr Prägnanz, eine im Wechselspiel von hell und dunkel kunstvoll geschaffene Büste, die von Äußerlichkeiten ablenkte, den Menschen - das Leben - zeigte.
Als seine Stimme in die Stille schnitt, gab es keinen, der nicht an seinen Lippen hing. Langsam, akzentuiert, kultiviert sprach er; nicht direkt in das Mikrofon, aber auch so drang seine fast geflüsterte Laudatio an das Schlusslicht in den letzten Winkel des Saales.
„Nein, ich habe keine Statussymbole, kein Haus, keinen Ferrari, keinen Pool, keine Rolex, keine Yacht, trage nicht Boss, Armani, habe keine Putzfrau, spiele nicht Golf, trinke keinen Château Lafite oder Mouton Rothschild. Hatte ich Alles einmal, und außerdem eine Frau und zwei Kinder.“
Eine Minute brauchte er für diese zwei Sätze. Trotz der leisen Stimme fuhr jedes Statussymbol wie ein Paukenschlag in die Reihen der Zuhörer, verkehrte den Stolz jeden Besitzers in Beschämung. Noch immer kein Zucken der Mundwinkel, kein Wimpernschlag. Langsam glitt eine einsame Träne aus dem Augenwinkel über die Wange, zerfiel und verfing sich in den Bartstoppeln der Oberlippe.
„Ich machte Karriere, meine Frau die Familie. Ich arbeitete hart, damit es ihnen an nichts mangele, sie sich alles leisten konnten. - Sie taten es. Ohne mich. Ich arbeitete dafür, dass sie sich noch mehr leisten konnten. -
Sie konnten. Sie verunglückten im neuen Ferrari. Meine beiden Kinder tot, meine Frau querschnittsgelähmt.“
Seine Stimme wurde dabei lauter, gebrochen, stockender. Aus dem Weg der einsamen Träne war ein Rinnsal geworden, das den Lippenbart durchdrang und von einem flüchtigen Zungenschlag und der Unterlippe gestoppte wurde.
„Meine Kinder hatten Alles, nur keinen Vater. Meine Frau hat nun Nichts, nur mich. Ich habe erkannt, was wichtig ist. Ich bin bei ihr. Tagein, tagaus. Dafür habe ich alles verkauft, damit ich nie mehr von ihr fort muss. Bis ans Ende meiner Tage. Nur heute ging ich fort, alte Freunde treffen.“
Er schwieg. Stand da, minutenlang bewegungslos im Scheinwerferlicht, Tränen rannen seine Wange herab. Atemlose, beklemmende Stille im Saal. Dann wandte er sich ab, Richtung Ausgang. Ein Mann stand auf. Klatschte in die Hände. Noch einmal. Ein weiterer erhob sich, schloss sich an, Tränen in den Augen, sprachlos. Dann wie bei einer Kettenreaktion die Anderen, Alle. Ohne Johlen, ohne Stimme, nur Klatschen, frenetisch. Stumme Ehrung.
[Beitrag editiert von: querkopp am 31.03.2002 um 19:58]