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Die dunkle Fuge oder Eine kleine Nachtmusik
Die dunkle Fuge oder Eine kleine Nachtmusik
1. Stimme (dolcemente)
Tante Rosi sitzt in ihrem Sessel vor unseren Betten. Ihre Gestalt sticht dunkel gegen das glühende Rot des Abendhimmels hinter dem Fenster ab. Wir, mein Zwillingsbruder Jürgen und ich, kuscheln uns gemütlich in unsere Decken.
„Und was war dann?“, fragt Jürgen.
„Dann“, wiederholt Tante Rosi mit ihrer knarrigen uralten Stimme, „dann holte Herr Denker den Feuerhaken.“
Sie schaukelt in ihrem Sessel langsam hin und her, ein nickender schwarzer Schatten. Eine Wespe surrt durch das Zimmer, setzt sich auf die Scheibe, krabbelt darauf herum. Tante Rosi beachtet sie nicht und fährt fort:
„Und der Gast saß da, satt und zufrieden, ein bisschen schläfrig schon von dem guten Essen und dem Wein. Vielleicht war in dem Wein auch ein Pülverchen drin. Niemand weiß das so genau.“
Tante Rosi kichert ein wenig. Es hört sich an, wie das Quietschen unserer Badezimmertür.
„Was denn für ein Pulver, Tante Rosi?“, fragt Jürgen.
„Na was schon, Dumbo“, sage ich, „natürlich ein Schlafmittel.“
„Selber Dumbo.“ Mein Bruder boxt mich in die Seite.
„Pass auf, du.“ Ich will mich gerade revanchieren und ihn an den Haaren ziehen, da meldet sich Tante Rosi wieder.
„Hört auf, euch zu zanken, sonst erzähle ich die Geschichte nicht weiter. Damit ihr's wisst.“
Sofort kehrt wieder Ruhe ein. Die nächste Stelle der Geschichte ist nämlich die beste. Doch Tante Rosi zögert noch. Sie ist eine gute Erzählerin, weiß, wie man die Spannung steigert und lässt die Stille sich ausdehnen.
Ich halte es nicht mehr aus.
„Erzähl weiter, Tante Rosi“, platze ich heraus.
Sie lächelt und fährt fort:
„Herr Denker schlich sich hinter den Gast, ganz leise, gaaanz vorsichtig auftretend, damit die Dielen nicht knarren. Dabei sein Opfer nicht beachtend, nicht zu ihm hinsehend. Das war sein Trick. Man kann es nämlich spüren, wenn man angesehen wird.“
Wie um die Vorsicht Herrn Denkers zu demonstrieren, senkt Tante Rosi ihre Stimme zu einem Flüstern herab.
„Den Feuerhaken hatte er schon in der Hand.“ Tante Rosi greift sich, da sie keinen Feuerhaken hat, eine auf dem Tisch liegende Zeitschrift.
„Er holte damit weit aus.“ Ihr Arm beschreibt einen großen Bogen.
„Und dann – zack – schlug er dem Gast den Haken an die Schläfe.“
Tante Rosi lässt den erhobenen Arm mit der Zeitschrift gegen das Fenster sausen. Es gibt ein klatschendes Geräusch. Mein Zwillingsbruder und ich zucken zusammen. Die Wespe auf der Scheibe ist nur noch gelber, breitgeschmierter Matsch.
Ein meckerndes Lachen kommt von dem Rosi-Schatten.
Jedesmal, wenn Tante Rosi bis hierher gekommen ist, durchläuft mich ein wohliger Schauer. Irgendwie ist mein ganzer Körper wie elektrisiert, wenn ich mir die Szene in allen Einzelheiten ausmale, jedesmal ein klein wenig anders. Dieses Mal saust mein Feuerhaken nicht gegen die Schläfe sondern gegen den Hals des Opfers und Blut strömt heraus. Und dann...
Da ist er wieder, der rote Traum. Ein zuckender rosa gefärbter Berg, aus dessen Spitze wie bei einem Springbrunnen eine Fontäne spritzt, Tropfen so rot wie Kirschsirup um sich herum versprühend. Ich bin auf dem Gipfel und beobachte das Schauspiel aus nächster Nähe. Dann presse ich meinen Mund auf die Spitze des Berges, schmecke die Süße des Blutes und sauge trunken vor Wonne den roten Saft in mich hinein.
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllt mich und ich lächle selig. Derweil erzählt die zittrige Stimme weiter.
„Unten im Keller standen lauter Fässer. Die waren voll mit eingepökeltem Fleisch, Menschenfleisch. Lecker! Alles Gäste von...“
Tante Rosi sieht mich an und gerät ins Stocken. Was ist los? Dann durchzuckt mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag: Tante Rosi hat Angst. Sie hat mein Lächeln gesehen. Schuldbewusst glätte ich meine Miene. Sie, Mutti und Vati, überhaupt niemand, darf wissen, dass ich solche Gedanken habe. Irgendwie... anders. Pfui, so was darf man nicht denken, genauso wenig, wie man jemandem die falsche, die linke Hand zur Begrüßung hingibt.
Tante Rosi hat sich wieder beruhigt.
„Ja, so war das mit Herrn Denker. Aber erzählt euren Eltern nichts davon. Denkt daran. Sonst holt euch der Schwarze Mann. Ihr wisst schon, der mit den glühenden Augen.“
Sie macht „Buuuuh!“ und wir verkriechen uns laut kreischend vor Entzücken unter unsere Decken.
2. Stimme (lugubre)
Ich steige aus dem Auto und gehe nach vorn. Die Scheinwerfer, strahlende Zwillinge, durchfluten die Nacht mit ihrem Licht. Verzogen, verzerrt, zerrissen zu einem hässlichen Grinsen ist der Kühler. Was ist so komisch? Maschinenhumor. Am Straßenrand, von den Scheinwerfern nicht beachtet, eine dunkle Masse. (Man darf seine Opfer nicht beachten, das ist der Trick.) Vor Sekunden noch als Reh über die Straße laufend, ein flüchtiger Schatten mit leuchtenden Augen. Falscher Zeitpunkt, falscher Ort. Dann, ein Ruck, ein dumpfer Knall, das Quietschen der Reifen auf dem nassen Asphalt. Nun liegt es still, bereit für den langen Schlaf. An der Seite tropft es heraus, sammelt sich auf der Straße zu einem Rinnsal.
Der Damm biegt sich.
Ich kniee mich auf die Straße vor die dunkle Masse.
Der Damm bekommt erste Risse, bröckelt..., jetzt bricht er und die rote Flut meines Traumes, so lange angestaut in meinem tiefsten Inneren, all die Jahre, stürzt donnernd zu Tal, mit weißen Schaumkronen, auf ihrem Weg Häuser, Straßen, Brücken, alle Zeichen der Zivilisation hinweg fegend und zermalmend, bis nur noch eine brodelnde Wassermasse übrig bleibt. Frei! Endlich, endlich frei.
Ich...beuge mich nach vorn, presse meinen Mund auf das Fell. Ganz weich und warm ist es. Warm, wie das Blut, das langsam meinen Mund ausfüllt. Ich kann nicht anders, ich sauge an der Wunde, sauge und schlucke, so lange ich kann, möchte am liebsten gar nicht mehr aufhören, sauge die Flüssigkeit ganz tief in mich hinein. Aaah! Könnte ich doch diesen Moment ausdehnen bis ins Unendliche. Es geht nicht. Ich muss Luft holen. Jetzt! Ich richte mich auf und schöpfe Atem.
Die Scheinwerferzwillinge ziehen meinen Blick magisch an.
Was ist das? Ein hohes Geräusch, ein Schreien, ein widerwärtiges Kreischen tönt aus dem Auto. Ach ja. Meine Frau.
3. Stimme (con molto esspressione)
Zwei Männer in Weiß. Ein Weiß, dass in die Augen sticht. Ihre Schuhe quietschen auf dem glänzenden Linoleum. Sie fassen, zerren, schieben mich. Ich beachte sie nicht. Das ist der Trick dabei. Man darf seine Opfer nicht beachten. Ein rascher Ruck meines Kopfes, ein Vorstrecken des Halses, ein Schnappen der Zähne – der eine flucht, und hält sich das Ohr. Ich reiße mich los, hetze durch den Gang. An seinem Ende ein Fenster, davor sitzen zwei kahl geschorene Zwillinge. Ich schreie. Niemand hört mich. Niemand, außer den Zwillingen. Aber sie beachten mich nicht. Das ist der Trick dabei. Sie sehen mich nicht an, mich nicht und niemand sonst. Nur sich selbst sehen sie, immer nur sich selbst und das genügt ihnen.
Die Schneemänner schnappen mich. Ganz fest packen sie mich jetzt. Auf wird die Tür gerissen, das Zimmer - ein dunkles Maul, das mich verschlucken will. Ich weiß Bescheid, bin ich erst hindurch, geht es hinab. Rutschend, schlitternd, sich überkugelnd auf der gigantischen rosa Zunge, die sich zuckend wölbt, dann fallend meerestief tausend Jahre lang in die endgültige Schwärze.
Die Tür fällt zu. Ich bin allein. Der Fall beginnt. Ich rutsche in den Schlund der Vergangenheit...
1. Stimme (amabile)
Ich sitze in meinem Sessel vor dem Fenster und schaue auf die Zwillinge in ihren Betten.
Süß, die kleinen Bälger, wie sie da unter ihren Bettdecken hervorsehen. Zum Anbeißen. Niemand, nicht einmal ihre Eltern, könnten sie wahrscheinlich auseinander halten. Ihre Augen hängen an meinen Lippen, um jedes Wort der Geschichte aufzusaugen. Ja, ja, ich höre sie ja selber gern. Die guten alten Zeiten. Wie lange das jetzt alles her ist...
Jürgen, nein Robert, platzt heraus: „Erzähl weiter, Tante Rosi.“
Also, wo war ich stehen geblieben. Ach ja.
Und ich erzähle die beste Stelle der Geschichte und erledige nebenbei die Wespe. Hi hi, wie sich die Kleinen erschrocken haben. Wenn die erst wüssten, wie es wirklich gewesen ist. Aber weiter. Ich muss mich konzentrieren, was mir mit den Jahren immer schwerer fällt. Ich fahre fort:
„Unten im Keller standen lauter Fässer. Die waren voll mit eingepökeltem Fleisch, Menschenfleisch. Lecker! Alles Gäste von...“
Mein Blick fällt auf Robert, und eine kalte Hand greift nach meinem Herzen. Dieses Lächeln! So was hab ich noch nicht gesehen. Monströs! Kleine Mausezähnchen lugen zwischen den Lippen hervor und die Augen glänzen und blicken mich starr an, so, als würden sie meine Gedanken kennen. Ob er etwas ahnt? Wie kann ich auch nur immer wieder davon anfangen. Ich muss vollkommen verrückt sein. Es ist als wollte ich, dass es endlich jemand herausfindet. Schrei es doch gleich laut heraus. Schreib es an deine Wohnungstür. Ich...
Ach Unsinn, das alles ist jetzt so lange her, und er ist nur ein kleiner Junge.
2. Stimme (con anima)
Mein Mann steigt aus dem Auto und geht nach vorn.
Dieser Idiot! Dabei hab ich ihm noch gesagt, fahr langsamer. Aber nein. Herr Oberschlau hat ja alles unter Kontrolle. Seit sein Bruder tot ist, wird er immer sturer. Ob das schon Altersstarrsinn ist? Und nun? Guckt ganz schön blöd auf den Kühler. Das gibt bestimmt ne saftige Werkstattrechnung. Er geht zu dem Reh rüber. Will wohl nachsehen, ob dem armen Tier noch zu helfen ist. Die Mühe kann er sich sparen. Was macht er denn? Er kniet sich vor das Reh in den Dreck. Ja, ist der jetzt völlig durchgeknallt. Die neue Hose. Er... beugt sich runter. Was soll das denn... Mein Gott. Das... kann nur ein Traum sein. Ich glaub's nicht. Jetzt... richtet er sich auf. Sieht zu mir rüber. Das ganze Gesicht blutverschmiert... Ein schrilles Kreischen füllt das Innere des Autos aus. Bin ich das? Er greift sich einen Steinbrocken, kommt auf mich zu...
3. Stimme (con fuoco)
Der Wärter in seiner weißen Anstaltskleidung schnauft.
Dieses Schwein! Jetzt macht er sich wieder schwer, lässt sich von uns tragen. Na ja, da hinten ist schon die Zellentür. Wenn’s nach mir ginge, würde man sich nicht so viel Umstände mit solchen Typen machen. Ab die Rübe und das wars. Möchte mal wissen, was in den Hirnen dieser Irren abgeht... Seiner Frau einen Stein an die Schläfe zu donnern und ihr dann das Blut auszusaugen wie ein verdammter Vampir. Da hinten, die autistischen Zwillinge, die sind friedlich, die geht das alles nichts an. So, jetzt läuft er wieder. Na also, geht doch. „Au! Scheiße! Das Schwein hat mich ins Ohr gebissen.“
Finale (furioso)
Das Metall schlägt, das Auto bohrt sich, die Zähne graben sich, in den Knochen, in die Flanke, ins Ohr.
Man darf seine Opfer nicht beachten, das ist der Trick dabei.
Anmerkung:
Fuge – eine musikalische Form vergleichbar mit dem Canon, nur, dass in der Fuge die einzelnen Stimmen eine viel größere Freiheit haben. Alles entwickelt sich aus einem Thema, welches in verschiedener Weise variiert werden kann.