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Die dunkelste Nacht

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19.03.2002
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Die dunkelste Nacht

Die dunkelste Nacht

Da ist Blut auf meinen Schuhen, doch es ist nicht mein Blut.
Ich sehe keine klaren Bilder mehr, alles ist unscharf, wie ein schlecht belichtetes Foto, die Bewegungen sind zu schnell, um sie als solche wahrzunehmen. Blitze schießen vorbei, verschmelzen mit den verschwommenen Figuren, die an mir vorbeiziehen. Es ist sehr schwül, die Hitze scheint mich zu erdrücken, der Mond sieht heute sehr schön aus, und er schaut zu.
Ich falle, ich weiß nicht, ob ich schon gelandet bin, oder immer noch falle, doch jetzt spüre ich den frischen Rasen unter mir. Ich greife nach ihm, als gäbe er mir Halt, und spüre etwas in meinem Gesicht, es macht sich der Geschmack von Eisen in meinem Mund breit. Gleich darauf spüre ich etwas auf meinem Kopf zerbrechen, ich fasse mit der Hand an die Stelle, ich fühle Blut, meine Haare sind verschmiert.
Irgendwo neben mir, höre ich eine vertraute Stimme, sie scheint ganz nah zu sein, doch die Worte dringen nicht zu mir durch, als würden sie gefiltert, als dürfte ich sie nicht hören. Jetzt sind mehrere Stimmen wahrzunehmen, doch ich vermisse die vertraute Stimme, sie ist nicht mehr da. Ich öffne meinen Mund, in dem sich eine Pfütze von Blut gebildet hat, will schreien, doch ich bleibe stumm, ich sehe mich selber vor mir sitzen, mit weit aufgerissenem Mund, und die ganze Welt lacht mich aus.
Mein Gesicht muss blutüberströmt sein, es fühlt sich kalt an, irgendwie fremd, als wäre es nicht mein Gesicht, als wäre das nicht mein Blut, nicht mein Leben.
Ich sehe Bilder von Urlauben in der Sonne vor meinen Augen, meine Familie lachen, und all die Dinge, die ich mag, doch sie sind weit entfernt.
Zeitweise werden die Stimmen lauter, klingen dann wieder für kurze Zeit ab, doch sie sind stets unverständlich. Ich höre meinen Herzschlag, ich spüre ihn in jedem Körperteil, meine Brust scheint zu zerbersten, die Luft wird knapp.
Eine kühle Brise huscht an mir vorbei, und ich versuche ihre Luft einzuatmen, doch etwas hindert mich daran.
Dann krampft sich mein Magen zusammen, ich muss mich übergeben, ich hoffe nicht daran zu ersticken.
Für einen kurzen Moment herrscht Stille, einzelne Wortfetzen sind noch zu vernehmen, doch sie verlieren sich in der wachsenden Entfernung.
Dann ist alles vorbei, die Umrisse werden sauberer, es ist eine klare Nacht, keine Stimme mehr zu hören, es wird ruhig.
Der Mond scheint noch immer hell herab, und jetzt kann ich das Blut auch an meinen Händen sehen. Es kommt von meinem Kopf, meinem Gesicht und meinen Armen, doch ich spüre nichts, nichts außer einem tauben Gefühl, sowohl innerlich, als auch äußerlich.
Ich liege auf dem feuchten Rasen, und erhebe mich langsam, meine Beine sind völlig kraftlos, es ist mühsam aufzustehen. Ich versuche mich zu erinnern, und schaue mich um, wo mein Freund geblieben ist, wir haben doch vorhin so herzlich gelacht, wieso ist das Lachen verstummt?
Er liegt ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ich lag, doch er steht nicht auf. „Hey, komm schon, was ist los mit Dir, steh auf, mach schon.“, rufe ich, noch nicht im vollen Besitz meiner Stimme, die Worte klingen dünn, nahezu zerbrechlich, er reagiert nicht. Ich wiederhole den Satz, diesmal etwas lauter, einmal, zweimal, nichts. Ich gehe auf ihn zu, wische mir das Blut mit dem Ärmel von der Stirn, und beuge mich zu ihm runter. Seine schwarze Haut ist vom Blut rotgefärbt, er wirkt nicht echt, ich reibe mir die Augen, das Blut an meiner Hand bildet einen roten Schleier in meinem Blickfeld. Ich wische es mit dem Ärmel erneut weg, und fange an, ihn zu schütteln, und ihm leichte Ohrfeigen zu verpassen, nichts.
Ich schaue noch mal zum Mond herauf, und hole tief Luft, er strahlt mich an, als wolle er mir etwas sagen, doch er schweigt. Schweigen ist schmerzhaft, denke ich.
Ich drehe seinen Körper zur Seite, und dann wird mir klar, warum er nicht auf mich reagiert.
Die lange Klinge, ist bis zum Anschlag in seinen Rücken gebohrt, unter ihm eine Lache aus warmem Blut.
Erneut versagt meine Stimme. Ich schaue mich um, doch es ist niemand zu sehen.
Erst auf den zweiten Blick nehme ich den Taxifahrer wahr, der an der Straße steht. Er lehnt sich an sein Taxi, und raucht ein Zigarette, er wirkt wie aus einem Film geschnitten, so auffällig, und doch so wertlos und unwirklich. Er ist nur ein paar Meter entfernt, und nicht gerade erst gekommen, er hatte sich den besten Platz reserviert. Mit erhobenem Kopf sieht er zu mir rüber, als wolle er gleich applaudieren. „Brauchst Du Hilfe, oder warum starrst du mich so an, sag doch was, oder kannst Du nicht sprechen?“, ruft er mir zu, sein Tonfall, seine Stimme, es durchfährt mich wie ein Schlag.
Ich schließe die Augen, und denke wieder an den schönen Urlaub in Italien, an die zauberhaften Gerüche, das Essen, und das blaue Meer. Für einen Moment, wünsche ich mir, sie nie wieder zu öffnen.

 

Hi elliott,

die Geschichte ist ziemlich heftig, Du hast die Bilder super beschrieben, alles wirkt sehr verstörend. Das Thema unterlassene Hilfeleistung, ist leider immer aktuell, genau so wie Gewaltverbrechen und Rassismus. Ich habe gerade gestern Abend noch einen Bericht über grundlose Gewaltverbrechen gesehen, und war mal wieder entsetzt, was es für seelenlose Bestien auf dieser Welt gibt. Wahrscheinlich wirkt die Geschichte auch deshalb so stark auf mich, denn es ist für mich unbegreiflich, wie man so etwas tun kann.
Du hast leider nichts über den Hintergrund erzählt, doch am Ende merkt man ja, dass der Schwerpunkt der Geschichte auf der Anwesenheit des Taxifahrers liegt.

Gruß
stillsearchin

 

Hallo Elliott!

In der Tat eine ziemlich gute Geschichte, die wirklich aus der Realität stammen könnte. Schön beschrieben. Die Gedanken und Handlungen des Protagonisten lassen sich gut nachvollziehen und auch das Verhalten des Taxifahrers ist (wenn auch leider) dem realen Verhaltensweisen vieler Menschen (unterlassene Hilfeleistung) angepasst.

Auch ich hätte gern noch mehr Einzelheiten darüber erfahren, was nun eigentlich tatsächlich geschehen ist. Aber der Kern der Sache ist ja ein anderer; da stimme ich Stillsearchin zu.
Man sollte sich bei einer Kurzgeschichte i. Allg. noch selbst ein paar Gedanken machen können. Und diese Möglichkeit lässt du ja offen.

Sprachlich ist der Text ebenfalls ganz okay und flüssig zu lesen.

Viele Grüße, Michael

 

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