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Die Dunkelkammer

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15.10.2002
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Die Dunkelkammer

Die Dunkelkammer

Ich habe mir immer ausgemalt, wie es sein würde, und habe mir alles Mögliche vorgestellt, jedes Wort, jede Bewegung. Alles, alles habe ich mir eingebildet, nur nicht das, was wirklich passierte. Und das war besser so. Nicht, dass es mir so wichtig gewesen wäre, doch, das schon, aber ich habe diesem Ereignis nicht entgegengestrebt, ich war noch nicht bereit, ich sagte mir am Anfang jedes Schuljahres, „nächstes Jahr.“ Denn wenn man sagt, in einem Jahr, kommt das einem wie eine Ewigkeit vor, in der sich alles verändern wird, auch man selbst, aber wenn man sagt, vor einem Jahr, kommt es einem vor, als sei es vor einem Monat gewesen.
Es passierte auf einer Faschingsfeier, an einem Tag, der mich, wie alle Februartage, ein bisschen an eine leere U-Bahn erinnerte, trostlos, unsinnig und doch irgendwie wunderbar. Ich war zwölfeinhalb und was Jungen angeht, total unerfahren. Ich war überhaupt ziemlich schüchtern. Aber ich war lang nicht die Einzige, damals, die wenigen Mädchen, die mal mit einem Buben gegangen sind, wurden irgendwie - im Unterbewusstsein - anders behandelt. Niemand merkte es, und niemand würde es zugeben, aber immer, wenn man mit diesem Mädchen redete oder nur über es sprach, flüsterte das Hinterbewusstsein: „Sie ist gegangen sie ist gegangen sie-ist-gegangen“. Es war kein Wunder, dass es so wenige waren, denn es war schwer, einen netten Jungen zu finden. Die ja alle darauf abfuhren Mädchen zu verarschen und ihnen Heiratsanträge zu machen. Und so. Also - es war eine Besonderheit, mit jemandem zu gehen, ein Ereignis, von jemandem gefragt zu werden, ein Gesprächsthema mit den besten Freunden im engen Kreis, wo niemand deine Ansichten über dieses Thema verraten würde. Denn diese waren auch Gesprächsthema, jawohl.

Unser KV, die Finsi, veranstaltete ein paar mal im Jahr Klassenpartys, zu Fasching, zu Weihnachten und eine Massengeburtstagsfeier. Mit für die Finsi typischen Spiele wie Flaschendrehen, welche sie immer mit ihrem Hi-hi-Intimitäten-Grinsen beobachtete. Sie war ein Flaschendrehentyp, mit 28 ist man noch nicht aus dem Alter heraus... Also, sie veranstaltete eine Faschingsparty. Ich ging klarerweise hin, alle gingen hin, nicht weil diese Partys in waren, nein, sie waren nicht in, aber auch nicht out, sie waren so neutral und einander so ähnlich wie zwei Wasserstoffatome, ich ging hin, und es passierte.

Nachdem alle nach und nach vom Buffet abgelassen hatten, verkündete die Finsi mit ihrem Hi-hi-Lächeln, wir würden jetzt „Sieben Minuten Im Himmel“ spielen, und das erste Paar wären - Lisa, also ich, und Thomas. Er schaute gelassen drein, machte einen Scherz. Seine Freunde lachten, alle anderen schauten mich an und grinsten. Ich grinste auch, mein Mittel gegen Rotwerden, und ging mit der ganzen Menge, die Finsi voraus, quer über den Flur in die Dunkelkammer des Fotolabors. „Bitteschön, nehmt Platz“, sagte die Finsi und zeigte auf zwei Stühle, die nebeneinander standen. Wir setzten uns brav hin, ich sah Finsis Geschicht, sie grinste ihr Ihr-süßen-Kleinen-in-der-Pubertät-seid-ja-noch-so-unreif-aber-das-werde-ich-noch-ändern-Grinsen. „Viel Spaß, ihr beiden“, sagte die Finsi noch. Wumm, machte die Tür, und dann war nur noch Dunkelheit da. Haha. Ich war also von der Finsi knutschzweckens eingesperrt worden. Nein, eingesperrt kann man nicht sagen. Aber ich konnte nicht einfach aufstehen und hinausgehen. Ich hörte ein paar verdächtige Geräusche, wie draußen einer nach dem anderen ein Ohr an die Tür legte, wie die Finsi danebenstand, ich konnte mir sie alle gut vorstellen, ich hörte, wie die Finsi sagte, „Geh Bitte - lauschen!“, aber ich wusste, dass sie brannte vor Neugier, dass sie sich auch so wie alle anderen benehmen wollte, ein Ohr an die Tür legen... aber das war offenbar unter ihrem Lehrerniveau.

Dann war es leise. Ich hörte jemanden "Flaschendrehen" sagen. Da ist Dunkelkammer noch besser, dachte ich mir. Meine Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt, ich sah Richtung Tür, aber ich spürte, dass Thomas mich ansah.
„Die Finsi glaubt, wir wären ein Paar“,
sagte ich schließlich.
„Mhm.“
„Sie hat dich mit diesem Mädchen mit den Zöpfen gesehen, vor der Schule. Sag nichts. Ich hab euch auch gesehen. Wie die Finsi mir nachher begegnet ist, hat sie mich so angeschaut, als hätte sie gerade mein Liebespannentagebuch gelesen.“
„Das war meine Schwester!“
„Aha, und wieso hast du sie dann umarmt?“
„Aus Geschwisterliebe?“
Er sagte es in diesem ironischen und fragenden Ton, der einem sofort klar macht, dass es gar nicht anders sein kann.
Ich grinste in die Dunkelheit und sagte dann,
„Die Finsi denkt also, es wäre so .“
Wir schwiegen eine Weile, dann hörte ich seine Stimme:
„Du, ich hab eine Frage an dich ...“
„Ja?“
An seiner Stimme hörte ich, dass es etwas Persönliches war. Solche Sachen spüre ich leicht, es ist nahezu unheimlich.
„Willst du, dass es so wird zwischen uns?"
Ich weiß nicht, was ich gedacht habe und ich weiß auch nicht, wie lange es gedauert hat, bis er hinzufügte:
"... Ich nämlich schon.“
Es war passiert. Mich hatte jemand gefragt.
„War das ernst gemeint?“
„Ich weiß. Ich weiß, dass du nicht ja sagen wirst. Aber es ist wichtig für mich, es dir zu sagen. Ich weiß genau, dass wir nicht mal Freunde sein werden. Ich ...“
„Doch, das werden wir“, unterbrach ich ihn, „das werden wir ganz bestimmt sein.“
Ich konnte fast spüren, wie er lächelte. Er rückte noch näher an mich.
Wir hörten Stimmen und Schritte. „Pssst, leise! Ich will sie erwischen!“ das war die Finsi. „Frau Professor, darf ich dann mit ihr? Darf sie zwei mal drankommen? Ich find sie nämlich so schön!“ Trottel. Hat eine Stimme wie eine Tunte an ihrem Hochzeitstag. „Jetzt macht sie die Tür auf und sagt, na, wie war´s denn“, flüsterte ich. Die Finsi machte die Tür auf, hinter ihr die neugierigen Gesichter, und fragte: „Na, wie war´s denn?“. Thomas und ich grinsten uns an. Die Neonröhren an der Decke blendeten mich, es war ein grelles, schreiendes Licht, und ich wusste, dass ich einen wunderbaren Freund gefunden hatte.

 

Also, ich finde die Geschichte heutzutage irgendwie surreal. Ich versuche mir gerade so eine Szene in unserer puritanischen, amerikanisierten Welt der Doppelmoral vorzustellen und sehe schon die pharisäerhaften Gesichter der Ed Fagans, der politisch korrekten Väter und Mütter, wie sie die Lehrerin ans Kreuz nageln, mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns, aber leider, das Wohl der Kinder ...

Aber lassen wir das mal beiseite, tun wir so, als lebten wir noch in den Siebizgern. Dann gefällt sie mir spontan, in ihrem ungeschminkten Realismus, in ihrer Zeichnung der kleinen Gesten für die großen Gefühle (subjektiv erlebt, zumindest), als Antithese zur hohlen Gefühlstheatralik der Erwachsenenwelt.

So läuft es in Wirklichkeit, fühlt man sich versucht zu sagen. Wohl jeder hatte in dieser Lebensphase so ein "unspektakuläres", aber prägendes Erlebnis, und wohl jeder war oder ist enttäuscht darüber, dass es nicht "viel toller" war.

Mir gefällt die Geschichte ganz einfach.

 

Im Moment verlasse ich mich, was die erste Auswahl guter Geschichten betrifft, noch ein bißchen auf das Gespür meines kleinen Prinzen, und auch mit dieser hat er nicht falsch gelegen :).

Deine Geschichte hinterläßt ein sehr schönes, entspanntes Gefühl bei mir, und Du zauberst ein Lächeln auf mein Gesicht.

LG!
Tanja

 

Hi!
Ist schon komisch, dass mir nicht aufgefallen ist, dass JEMAND auf diese Geschichte geantwortet hat ... ich freu mich, dass sie euch so gefallen hat!
@ Strider: naja, ich kenne eine Lehrerin an einem Gymnasium, die ist nicht viel anders ... alle Personen, die ich erwähnt habe, sind sozusagen aus dem Leben gegriffen ... auch wenn ich manchmal ´n klitzekleines Bisschen übertrieben habe :smile:
@ Art Of Sin: hurra, genau das ist eine der Wirkungen, die ich erzielen wollte :bounce: die Geschichte sollte nicht erotisch wirken (was sie - hoffentlich - auch nicht tut), eher ... ein bisschen nachdenklich vielleicht. Und entspannend.
Happy about it - Avril

 

Hi,
Ich bin beim Kramen auf deine Geschichte gestoßen. Und ich muss sagen, wow! Gut geschrieben , erfrischend. und leicht zu lesen, sie hat bei mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Trotzdem hat Strider recht: es ist irgendwie unreal dass heute sowas passieren würde. Überlge dir das doch mal.
LG
Stacy

 

Hi Stacy!
Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Aber wie gesagt, ich kenne eine Lehrerin an einem Gymnasium, die spielt jedes jahr mit ihrer Klasse (zur Zeit die vierte, also 8. Schulstufe) Flaschendrehen! Also ist das nichts besonderes.
Ciao
Stacy

 

Hi Stacy!
Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Aber wie gesagt, ich kenne eine Lehrerin an einem Gymnasium, die spielt jedes jahr mit ihrer Klasse (zur Zeit die vierte, also 8. Schulstufe) Flaschendrehen! Also ist das nichts besonderes.
Ciao
Avril

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich fand die Geschichte toll. Hat mich zum Lächeln gebracht. Und so eine Lehrerin hatten wir auch mal - die hat bis zur Zehnten immer noch Daumendrücken gespielt *sich übergeb*

 

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