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Die Dummheit ist die Energiequelle der Cleveren
Ihm war heiß. Verdammt heiß. War es nur das Wetter, diese sommerliche Hitze, die ihm die Schweißtropfen auf die Stirn trieb? Oder war es wegen der anderen Sache, seines Auftrags? Sein erster Auftrag. Mein Gott, warum war es nicht schon vorbei? Wieso konnte es nicht schon Abend sein, beruhigend dunkel und ruhig? Wie gerne wäre er jetzt schon allein. So, wie er es gerne war. Nicht einsam, nein, nur allein. Das war etwas völlig anderes. Viele verstanden das vielleicht nicht, konnten es nicht begreifen, diesen kleinen, aber doch so bedeutenden Unterschied.
Er bog in die Uferstraße ein, die zum Fluss hinunter führte. Dort würde der Mann heute, in einer halben Stunde, sein. Pünktlich, wie ein Uhrwerk. Er wusste, dass er auch heute da sein würde, so wie er immer alles wusste. Er hatte halt gründlich recherchiert. Das gehörte zu seinem Job dazu. Seinem neuen Job, seinem Scheißjob. Doch Job war Job, oder?
Seine Schritte waren ruhig, nicht zu schnell, nicht zu langsam, unauffällig. Auch seine Erscheinung war gewöhnlich, nicht hervorstechend. Sein dunkler Mantel bauschte sich leicht im Wind und seine braunen Haare waren kurz und langweilig geschnitten. So wollte es sein Auftraggeber. Er hatte es hingenommen, so wie alles in seinem Leben.
Ein stärkerer Wind kam auf, es fing an zu nieseln. Er hielt den Kopf tiefer und schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem Nass zu schützen. Unbewusst beschleunigte er seinen Schritt.
Der Himmel hatte sich verdunkelt, massige, dunkelgraue Wolkenberge türmten sich am Horizont und ließen den Himmel lilaschwarz erscheinen. Es roch leicht nach Fisch und verfaultem Seetang, als er sich dem Fluss, der sich jetzt wie eine dunkle, aufgewühlte Schlange durch die Landschaft fraß, näherte. Fast wurde ihm übel von dem durchdringenden Geruch, der alles überdeckte. Er schloss kurz die Augen, versuchte sich zu konzentrieren und atmete ruhig ein und aus. Ein- aus – ein – aus. Fast sofort stellte sich der gewünschte Erfolg ein, Ruhe breitete sich aus, fast fühlte er sich wie ein Vogel, der alles von oben betrachtete. Ja, so ging es. Er setzte seinen Weg fort, erreichte das Ufer und lief auf einem gras bewachsenen Pfad den Fluss entlang. Ein flüchtiger Blick auf seine Automatik sagte ihm, dass er noch fünf Minuten Zeit hatte. Ein plötzlicher Adrenalinstoß schoß durch seinen schlanken Körper. Er fühlte sich wie im Rausch, wie nach einer starken Droge, aber auf wundersame Art klar und im Vollbesitz seiner Kräfte.
Er fuhr sich mit der Hand in den Mantel, spürte das noch ungewohnte Gefühl des kalten, glatten Metalls und schauderte unwillkürlich. Tat er das Richtige? Und woher wusste er, dass er das Richtige oder Falsche tat? Wusste es überhaupt ein Mensch? Die meisten Leute sahen doch sowieso nur schwarz oder weiß, grau war ihnen vollkommen unbekannt. Eine erneute Welle der Unsicherheit zog über ihn hinweg. Er hatte nie gelernt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, wieso konnten es denn andere Menschen? Oder taten die nur so? Der Mann, sein Auftraggeber und gleichzeitig sein Lehrer, hatte ihm immer wieder eingeschärft, dass es nicht schlecht war, was er tat, oder besser, bald tun würde. Im Gegenteil, er würde der Menschheit einen Gefallen tun, indem er schlechte und böse Menschen umbrachte. Welche Menschen sind denn böse und schlecht, hatte er ihn gefragt. Da lachte der Mann, den er Johnny nennen durfte, tätschelte ihm den Kopf und sagte, dass er das getrost ihm überlassen könne. Er werde sich um alles kümmern, er wisse Bescheid und Charlie, so hieß er selbst, brauche nur zu tun, was er ihm auftrage. Dann würde alles gut werden. Charlie glaubte ihm. Johnny würde schon wissen, was gut für ihn war.
Er lächelte.
In einiger Entfernung konnte er die Weide sehen, deren ausladende Äste in den Himmel zeigten. Dort würde er sitzen. Beim Angeln. Jeden Sonntagmorgen saß er hier. Pünktlich, wie ein Uhrwerk. Ab heute würde er nicht mehr hier sitzen. Nie mehr. An keinem Sonntag. Komisch eigentlich. Würde es eigentlich einem anderen Menschen auffallen, dass er nicht mehr hier saß? Oder würde der Mann vielleicht sogar selber traurig sein, dass er in Zukunft nicht mehr hier sitzen und angeln konnte? Doch das Wort „traurig“ gab es nicht in Johnny`s Sprachschatz. Er konnte mit dem Wort nichts verbinden. Die Gedanken waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren.
So, gleich konnte er sein Opfer sehen. Willy Barsch. Direktor und Vorstandsmitglied der West Bank. Gleich. Er näherte sich den dichten, grünen Zweigen. Gleich. Er zog seine Waffe aus dem Mantel, entsicherte sie geschickt. Er schob das Gehölz zur Seite, ein kleiner Platz. Gleich.
Doch er sah nichts. Der Platz war leer. Kein Willy Barsch. Keine Angel. Nichts. Er war nicht da. Willy Barsch war nicht gekommen. Zum ersten Mal.
Sein Herzschlag setzte kurzzeitig aus. Eine Welle durchflutete ihn. Was war es? Was fühlte er?
Nichts. Er würde nächsten Sonntag wieder kommen.