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Die dritte Chance
„Hast du mit ihm geschlafen?“
„Darum geht es nicht. Ich sagte doch, dass ich dich liebe.“
„Ach so. Und deshalb kommst du hierher, um mit mir zu reden. Weil du mich liebst. Und um mir zu erzählen, du hättest jemand anderen kennengelernt. Meinst du, dass ich nur darauf gewartet hab? Vielleicht hast du recht, ich hab damit gerechnet.“
Max legte den Kopf in die Hände und wischte sich einmal kräftig über die Augen, wie sie es so gut von ihm kannte. Diese Geste, bei der sie sich jedes Mal fragte, ob er sich irgendwann die Augen in die Höhlen zurückdrücken würde.
„Max, ich meinte damit nicht, dass ich jemand kennengelernt habe, in den ich mich verliebt hätte. Er sich vielleicht in mich. Aber das spielt keine Rolle. Es war nur eine Nacht. Es ist passiert, weil ich zu viel allein bin, weil ich verwirrt bin, und er mir gefiel. Aber mehr als alles andere hat es mir gezeigt, dass ich immer noch nur dich will.“
Ein Seufzer entfuhr Max Kehle, der nach leidendem Tier klang und Helen in der Brust nachhallte. Es tat ihr weh, als hätte man ihrem Lieblingskätzchen auf den Schwanz getreten.
Er tat ihr leid. Was passiert war, tat ihr leid und was sie getan hatte, ebenfalls. Auch, wenn sie sich nicht wirklich einer Schuld bewusst war. Sie hatte es nicht getan, um ihm weh zu tun, auch nicht, um sich zu rächen oder weil sie auf der Suche nach jemand anderem gewesen wäre, obwohl Max und sie gerade „vorübergehend getrennt“ waren.
Daniel war ihr über den Weg gelaufen, auf der Arbeit, hatte sich um sie bemüht und sie umworben, sie zum Lachen gebracht, als ihr nicht danach war und sie sich endlich wieder wie eine begehrenswerte Frau fühlen lassen. Es hatte ihr gut getan. Und ihr die Augen geöffnet – denn so attraktiv dieser Daniel auch war, so sympathisch und witzig er auch sein mochte – sie hatte am Morgen danach seinen kindisch-liebevollen Blick nicht ertragen und ihn rausgeschmissen. Weil sie sich Max an seine Stelle wünschte.
Max und sie waren gebrannte Kinder. Als sie sich kennenlernten, hatten sie beide lange Beziehungen hinter sich, hatten beide Kinder, um die sie sich kümmerten und ließen sich nur vorsichtig auf eine neue Partnerschaft ein, mit der Erfahrung im Rücken, dass Verliebtheit nicht ewig dauert und Freundschaft wichtiger ist. Und sie hatten sich nicht nur leidenschaftlich verliebt, und erfuhren gemeinsam neu erweckte Freude am Leben - sie waren auch Freunde geworden. Freunde, die sich alles sagen konnten, die ehrlich miteinander waren und Helen hatte das Gefühl gehabt, zuhause angekommen zu sein – endlich mit jemandem zusammen zu sein, bei dem sie doch sie selbst bleiben konnte.
Sechs Jahre waren sie zusammen durch dick und dünn gegangen, die Kinder waren inzwischen selbstständig und die kleinen Quengeleien zwischen ihnen und den Exen nicht mehr wichtig, die sie immer vorsichtig hatten umschiffen müssen. Sie waren glücklich, aber da sie ehrlich miteinander umgingen, hatten sie sich nach einer Weile auch gegenseitig zugegeben, dass der Alltag sich eingeschlichen hatte und Probleme aufgetaucht waren, die nicht mehr mit „nur“ dem von beiden tiefempfundenen Gefühl der Seelenverwandtschaft zu lösen waren.
Helen machte, nun, da sie sich nicht mehr um die Kinder an erster Stelle kümmern musste, mit Anfang 50 einen Neuanfang in ihrer Karriere, während sich Max Arbeit unverändert auf die Rente zu bewegte. Er war nur fünf Jahre älter, hatte aber nicht mehr den Ehrgeiz, großartig etwas zu ändern an dem, was ihm Spaß machte. Dass Helen nun plötzlich Erfolge feierte, reiste, sich engagierte und immer weniger Zeit für ihn hatte, war nicht förderlich für ihre Beziehung.
Sie waren erst vor zwei Jahren, als die Kinder aus dem Haus waren, endlich zusammengezogen und genossen nach Jahren der Fernbeziehung das ungestörte Miteinander noch ein Mal wie Frischverliebte. Aber seinen Gleichmut, den sie immer bewundert hatte, seine Leichtfertigkeit mit Dingen, die sie als wichtig empfand und seine stoische, etwas rebellische und manchmal ungesellig individualistische Art stand immer mehr im Gegensatz zu dem, was sie für sich als Aufblühen empfand. Er beteiligte sich nicht, stand ihr zwar im Hintergrund bei und half bei allen Schwierigkeiten, aber es schien ihr, als könne er sich nicht mit ihr freuen über die Erfolgserlebnisse, die sie ohne ihn genoss.
Darum hatten sie sich eine Auszeit genommen, und er war in seine studentenartige Junggesellenbude zurückgezogen, die er zwischenzeitlich untervermietet hatte. Sie hielten Kontakt, telefonierten, redeten oft miteinander, wie früher, zu Anfang, aber sie sahen sich wochenlang nicht, um sich darüber klar zu werden, ob sie wirklich geschaffen waren fürs Zusammenleben, oder ob es vielleicht doch besser sei, nicht Alles miteinander zu teilen.
Das lief seit nun mehr als vier Monaten so, und sie hatten schon davon geredet, dass sie doch nicht ohne einander sein könnten, dass diese Pause ihnen beiden Einsichten gebracht hätte und geplant, bald wieder zusammen zu sein, für immer. Aber bei ihren letzten Gesprächen hatte Max gespürt, dass etwas sich geändert hatte.
Seine fröhliche, immer positive und so schmerzlich vermisste Helen verheimlichte ihm etwas. Als er das zum ersten Mal während eines kurzen Telefonats dachte, hatte es ihm weher getan, als er es sich hätte vorstellen können. Er wusste, dass er Helen niemals etwas vorschreiben, sie nie anbinden könnte, dass sie nur tat, was sie für richtig hielt. Und oft hatte er sie darin unterstützt, er liebte und bewunderte sie dafür. Aber Geheimnisse hatten sie nie voreinander gehabt. Bis jetzt. War jetzt alles aus?
Eifersucht hatte bei ihnen nie eine Rolle gespielt. Es war aber auch nie etwas geschehen, weder von ihm aus, noch bei ihr, dass ihn zweifeln ließ.
Bis jetzt. Gerade jetzt. Er vermisste sie so schrecklich. Er hatte sich eingestehen müssen, dass seine Selbstständigkeit, sein geliebtes Alleinsein mit sich, seinen Büchern, Ideen, Projekten, ihm nicht mehr wichtig waren. Dass er all das liebend gern dafür aufgegeben hätte, wenn er nur bei ihr sein könnte – ja, auch bei ihren Freunden und Freundinnen, sogar ihrer Familie, die er immer nur mit leichtem Widerwillen besucht hatte.
Die unangekündigten Besuche von Freundinnen waren ihm auf die Nerven gegangen, all die lieben Menschen, die Helens Rat brauchten und ihr ihr Herz ausschütteten, und deren Auftauchen oft genug damit endete, dass er allein aufwachte und Helen im Wohnzimmer oder neben dem ins Gästebett verfrachteten Eindringling fand, nach zwei Flaschen Wein und getrockneten Tränen eingeschlafen, ohne an ihn zu denken. Jetzt fehlte ihm sogar das.
Er kannte sie so gut, dachte er. Oder bildete er sich das nur ein? Da saß sie ihm nun gegenüber, und erzählte ihm, dass etwas passiert sei, dass es aber nichts ändern würde. Dass sie ihn liebte. Das hatte er hören wollen, nur das. Doch es wollte ihm nicht aus dem Kopf, dass sie es tatsächlich gemacht hatte – dass jemand anderer sie geküsst und geliebt hatte. Dass sie ihn vergessen hatte, wenn auch nur für eine Nacht, wenige Stunden. Er hatte den Sex mit ihr vermisst, aber mehr noch ihre Zärtlichkeit, eine Umarmung, eine flüchtige Berührung, ihr Lächeln.
Max hatte andere Frauen betrachtet, mit einigen sogar geflirtet, weil er es konnte, weil es passierte, weil es interessant war, zu sehen, wie sie reagieren würden, ob er es noch drauf hatte und er etwas damit erreichen könnte. Aber er hatte dabei kein Ziel vor Augen, denn wirklich zusammen sein, merkte er, wollte er nur mit ihr.
Helen sah ihn an. Mit diesen dunklen Augen, denen nichts zu entgehen schien, als ob sie durch ihn durch bis in die tiefsten seiner Geheimnisse sehen könnte. Sie sah ihm an, dass er verletzt war, auch wenn er mit einer großspurigen Handbewegung seinen Seufzer von vorhin vergessen machen wollte.
Es traf Max tiefer, als sie befürchtet hatte. Wieso hatte sie es nur erzählt? Sie hätte es besser für sich behalten, dachte Helen. Aber das konnte sie nicht. Wirklich erzählt hatte sie es ja nicht, aber er hatte schnell kapiert, dass es darauf hinauslief. Sie hatte nur einen Mann erwähnt, mit dem sie aus Essen gegangen war. Warum?
Wollte sie etwa, dass er eifersüchtig würde? Dass er Angst bekäme, er könne sie verlieren und anfangen würde, um sie zu kämpfen? Sie war sich nicht sicher. Dass es gar nicht nötig war zu kämpfen, das wollte sie ihm zu verstehen geben. Weil sie wusste, sie liebte nur ihn. Alle Problemchen, die ihr vor Monaten so unüberbrückbar erschienen, waren Kleinigkeiten, lächerlich. Denn sie wusste jetzt, was wirklich zählte.
Eine Weile verlief das weitere Gespräch zäh, gequält und gezwungen, sie wollte nicht mehr darüber sagen, wozu? Er gab auf, sie zu fragen und entschied, dass sie das Wichtigste gesagt hatte, das, was er hören wollte, den Rest versuchte er nicht zu beachten. Sie hätte nicht zu ihm kommen sollen, dachte sie die erste Stunde. Ihm gegenüber zu sitzen, seine Anziehungskraft zu spüren, seine Hände zu sehen, die sie sich jede Nacht auf sich gewünscht hatte, seine Augen auf sich zu spüren und das wohlbekannte Kribbeln zu spüren, wenn sie lächelten, war fast zu viel. Doch dann sagte sie sich, dass das doch mehr sagte als all die Worte, nach denen sie suchen musste.
Und das hatte sie nicht am Telefon sagen wollen:
„Komm nach Hause. Lass uns weiter machen, wo wir aufgehört haben. Es bringt nichts, dass du hier sitzt und ich bei mir, und wir beide uns so viel sagen wollen. Bitte.“
Damit hatte Max nicht gerechnet. Mit einem Schlussstrich auch nicht – dafür spielte sich zu viel zwischen ihnen ab, aber wieso war gerade der erste Seitensprung in ihrer Geschichte nun auf einmal der Anlass dazu, dass sie ihn wieder bei sich haben wollte? Er wunderte sich, aber tief drinnen war er auch stolz und froh, dass sie ihn nicht aufgab und nicht vorhatte, ihn einfach auszuwechseln. Er bat sich Bedenkzeit aus, aber das war pro forma, er wollte, er musste bei ihr sein, etwas anderes war gar nicht möglich.
Sie wohnten seit zwei Wochen wieder zusammen. Regeln wurden aufgestellt, dass man getrennte Betten benutzen würde, wenn einer von beiden sich irgendwie nicht wohl fühlen würde, jeder hatte ein Recht darauf und die Möglichkeit dazu, sich jederzeit zurückziehen zu dürfen, ohne Erklärung.
Und doch hatten sie jede Nacht die Nähe des anderen bevorzugt und genossen. Sie hatten diskutiert, geweint, geschrien, aber auch wieder zusammen gelacht und sich in den Arm genommen. Es war schwierig, immer noch, und sie gaben sich beide Mühe, unter Aufwand all ihrer Kräfte, es irgendwie hinzubiegen.
Insgeheim gestand sich Max nach ein paar Tagen ein, dass er - der tolerante, vernünftige und verständnisvolle Kopfmensch - darunter litt, dass ein anderer seine Frau besessen hatte. Doch nur er konnte sie verstehen und so lieben, wie sie es verdiente. Daher tat er weiterhin, als wäre alles verziehen und vergessen.
Helen dagegen bereute jeden Tag mehr, diese Schwäche gezeigt zu haben, dieser Verführung erlegen zu sein, und spielte wie einen alten Film immer wieder diese Nacht vor ihrem inneren Auge ab, in der sie mit Daniel geschlafen, und dabei an Max gedacht hatte. Wie sie entzückt erlebt hatte, wie ein anderer als Max sie zum Beben hatte bringen können, so anders, so aufregend, dass es im Nachhinein fast abstoßend auf sie wirkte. Wie unvernünftig, kindisch, neugierig, gedankenlos sie gewesen war. Nicht frei. Und das alles, während sie Max gegenüber immer wieder ihre freien Ansichten vertrat und ihn damit aufzog, dass Kopfmenschen doch wohl Sex und Liebe trennen könnten.
Sie waren wieder glücklich miteinander, vielleicht gerade, weil sie sich jeder für sich eingestanden, dass man auch als Seelenverwandte und Freunde in einer Beziehung nicht über Alles sprechen sollte und jeder seine kleinen Geheimnisse für sich bewahren sollte. Und weil sie mehr denn je spürten, dass sie trotz allem zusammengehörten.
Bis… Daniel auf einmal vor der Tür stand.
Helen war noch arbeiten – sie machte mal wieder Überstunden, während Max ausnahmsweise, weil er einen solchen Hunger gehabt hatte und nicht ohne Helen einfach naschen wollte, ein ausgiebiges Abendessen vorbereitete.
Der Fremde an der Tür, dem Max freundlich die Tür öffnete, stellte sich als Arbeitskollege von Helen vor.
„Daniel Werther. Ich weiß, dass Helen noch arbeitet, ich wollte mit Ihnen sprechen“
Max hielt die Tür wortlos weiter offen, obwohl er sich zurückhalten musste, ihn nicht am Kragen zu packen und die Treppe runterzuwerfen. Er war vernünftig und würde sich anhören, was dieser Hanswurst ihm zu sagen hatte.
Er musterte ihn, als der berüchtigte Daniel ihm vor ins Wohnzimmer ging. War ja schon mal hier gewesen, dachte Max grimmig.
Der Fremde, der seit Wochen die Stimmung in dieser Wohnung beherrscht hatte, blieb vor dem Fenster stehen und drehte sich mit einem Räuspern zu Max um, der, ein Küchenhandtuch in den Händen wringend, an der Tür stehen blieb.
„Also, ich werde gleich mit der Tür ins Haus fallen. Ich weiß, dass Sie alles wissen. Ich meine, Helen hat mir gesagt, dass Sie ihnen von uns, … von unserer gemeinsam verbrachten Nacht erzählt hat. Und dass Sie ihr verziehen hätten.“
Max konnte nur mit Mühe ein Schnauben verhindern und sah diesen unverschämten Kerl nur äußerlich gefasst ruhig an.
„So? Und? Was wollen Sie hier?“
„Ich akzeptiere es nicht.“
„Wie bitte?“
„Ich will Helen nicht so einfach aufgeben. Ich liebe sie. Und ich werde um sie kämpfen. Das wollte ich Ihnen sagen.“
Max war sprachlos. Er wurde auch wütend, aber ihn rauszuschmeißen wäre zu einfach gewesen. Er setzte sich in den nächsten Sessel. Der in ruhigem Ton artikulierte Satz, den er dann aussprach, wunderte ihn mehr als diesen Mann da vor ihm, der sichtlich nervös war, sich aber dennoch erdreistete, zu ihm zu kommen, mit dem ruhigen Gewissen, Helen würde eine Weile nicht da sein.
„Hat meine Frau .., ich meine, hat Helen Ihnen Anlass dazu gegeben, zu glauben, Sie hätten eine Chance bei ihr?“
Der Kerl stammelte, und bestimmt war ihm jetzt der kalte Schweiß ausgebrochen, denn Max legte jeden ihm möglichen, gefährlich wirkenden Nachdruck in den Blick, mit dem er ihn abmaß:
„N… nein, sie behauptet, Sie beide hätten, wie sagt man, wieder zueinandergefunden und unsere Nacht hätte … nichts … nichts zu bedeuten gehabt."
„Aha. Und Sie zweifeln daran?“, warf Max mit kalter Miene ein.
„Ja. Ja, das tue ich. Es war nicht unbedeutend. Es war etwas ganz Besonderes. Und ich werde das nicht einfach vergessen, nur weil sie sich wieder in ihr Leben einmischen. Sie hatten sich getrennt von ihr, Sie waren verschwunden und hatten sie allein gelassen. Sie wissen gar nicht, was für eine tolle Frau Helen ist, Sie haben sie nicht verdient. Sie haben sie allein gelassen und sie litt darunter – aber sie wäre schon drüber hinweggekommen, sie hätte Sie vergessen, wenn Sie sich nicht plötzlich wieder gemeldet hätten …“
Was bildete der Kerl sich eigentlich ein?
„Mich plötzlich wieder gemeldet? Was soll das denn heißen? Helen und ich hatten niemals den Kontakt abgebrochen, wir haben jeden Abend miteinander telefoniert, ich war immer da für sie. Was glauben sie denn, was diese Nacht zwischen ihnen beiden passiert ist? Das war ein Ausrutscher, nicht mehr, für Helen.“
„Ein Ausrutscher. Ha. Dass ich nicht lache. Das hätten Sie wohl gern. Oh, nein, das war etwas ganz anderes. Ob Sie das verstehen, weiß ich nicht, ich glaube nicht, dass Sie das jemals verstehen können. Das kann nur Helen ihnen erklären.“
„Ja, genau, mein Lieber. Und das hat sie – sie hat es selbst einen Ausrutscher genannt.“
Das traf. Fast amüsiert sah Max zu, wie der Kerl sich jetzt auch setzen musste. Er trug einen Anzug und lockerte sich die dunkle Krawatte, um mehr Luft zu kriegen. Max hatte Männer in Anzügen noch nie ausstehen können. Was hatte Helen nur an dem Lackaffen gefunden? Er sah oberflächlich gut aus, das sagte ja wohl alles. Unter ihrem Niveau. Für ihn war Helen etwas ganz Besonderes, na klar, weil sie in einer ganz anderen Liga spielte. Fast tat ihm der Typ leid, wie er da in sich zusammensank und nach Luft schnappte.
„Wollen Sie vielleicht was trinken?“
„Äh, was? Ja, danke, ein Glas Wasser vielleicht.“
„Ach, kommen Sie, wir brauchen beide etwas Stärkeres jetzt.“
Max holte die Whiskey-Flasche und zwei Gläser aus der Küche, schenkte zwei Doppelte ein und hielt Daniel das Glas hin. So von Nahem sah er trotz des feinen Anzugs erstaunlich jung aus. Stand Helen etwa neuerdings auf Jüngere? Oder war das nur ein Hinweis dafür, dass es nur Sex gewesen war? Wenn er sich die jungen Frauen in seiner Firma oder auf der Straße so ansah, würde er, wenn es dazu kommen musste, sich ja schließlich für ein bisschen Spaß auch keine seiner eigenen Generation aussuchen. Interessiert beobachtete er, wie Daniel darum kämpfte, die Fassung zurück zu erlangen.
Sie tranken und erzählte sich alles Mögliche. Daniel erzählte von sich und seiner Arbeit und wie Helen als Kollegin ihn schon vor langer Zeit beeindruckt habe. Aber auch, wie unnahbar sie immer gewesen sei – bis zu diesem Abend, bei einem Geschäftsessen, während dessen er erfuhr, dass sie sich getrennt hatte. Der Weg war offen, und er hatte seinen gesamten Charme eingesetzt, um sie zu erobern. Was für eine Frau!
Max hörte sich das mit gemischten Gefühlen an und hielt sich zurück, versuchte, es nicht allzu Ernst zu nehmen, vor allem, weil ja wohl deutlich war, dass dieser Typ verzweifelt war. Das bedeutete, Helen hatte tatsächlich Schluss gemacht. Dass er auch eindeutig Hals über Kopf verliebt in Helen war, konnte Max ihm nicht übel nehmen – das verstand er nur allzu gut.
Sie hörten es beide schon längst nicht mehr, als sich jemand an der Wohnungstür zu schaffen machte …
Helen schloss die Tür mit dem endlich erhaschten Schlüssel auf, mit der Plastiktüte mit Sushi zwischen den Zähnen und stieß sie mit dem Fuß auf. Max würde das Klingeln wohl doch nicht hören, und sie wollte ihn auch überraschen – der Arme aß, wenn er allein war, höchstens ein Brot. Sie rief nicht nach ihm, als sie ihre Laptop-Tasche im Flur ablegte und wunderte sich plötzlich, woher die Stimmen im Wohnzimmer kamen – Max sah nie fern.
Daniel hatte erwartet, sich prügeln zu müssen, oder zumindest streiten, aber dass er nun ein Glas nach dem anderen mit diesem Max leerte und sie gemeinsam auf die Frauen, und dass man sie nie verstehen würde, anstießen, hätte er sich nie träumen können. Er hatte seine Krawatte und sein Jackett längst abgelegt und lachte lauthals über die Anekdoten über Helen, die Max ihm erzählte.
„Hast du jemals davon gehört, warum sie so gut Französisch spricht? Und ich meine jetzt echt die Sprache, verstanden? Sie hat ein paar Jahre dort gelebt, was ihre vorher noch unbestimmte Meinung über die Franzosen sehr gefestigt hat. Sie war nie frankophil und sieht ein, dass sie leider echte Nationalisten sind. Aber sie kann es begründen, weil sie ja mitgekriegt hat, wie die so gemacht werden – so, wie sie für alle immer Verständnis zeigt. So unerträglich tolerant, finde ich. Egal, wie Scheiße sich jemand benimmt, unwichtig, was für einen Blödsinn jemand anstellt, Helen behauptet nur, dass jeder unter diesen Umständen so werden und handeln würde. Schon nervig, wie sie immer Alle in Schutz nimmt, oder?“
Daniel lachte und schüttelte den Kopf – amüsiert über Max Ausdrucksweise und seine interessanten Ansichten. Er könnte ihn glatt mögen. Doch das würde nicht gehen. Er müsste ihm klar machen, dass er zu alt für Helen war, dass sie mehr brauchte als intellektuelle Befriedigung …
„Was ist denn hier los?“
Beide Männer fuhren herum, beschwipst grinsend, schockiert, erwischt worden zu sein. Max stand auf und ging ihr entgegen, begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange und nahm ihr die Taschen ab.
„Hallo, mein Engel. Du hast was zu Essen mitgebracht? Das wäre nicht nötig gewesen, ich hab gekocht!“
Damit lief er augenzwinkernd Richtung Küche und ließ Daniel mit ihr allein.
„Hallo, Helen.“
„Was machst du hier?“
„Ich war gekommen, um… mit Max zu reden.“
„Worüber?“
Daniel fuhr sich durch die vollen Haare – noch etwas, das er Max voraus hatte – und versuchte, sich zu konzentrieren.
„Äh, ich wollte ... über dich reden. Über uns. Ich wollte …“
„Bist du komplett durchgedreht? Über uns? Es gibt kein uns, ich dachte, das hätte ich dir deutlich zu verstehen gegeben?"
„Helen, ich ... ich liebe dich. Ich kann dich nicht vergessen und einfach tun, als wenn nichts passiert wäre – es ist viel mehr passiert, als du zugeben willst. Und ich ... ich kann einfach nicht glauben, dass du das nicht auch spürst ...“
„Verschwinde!“
„Was?“
„Du hast mich verstanden. Ich will, dass du gehst. Sofort. Und wage es nicht noch einmal hier aufzutauchen. Es ist völlig egal, was du meinst, das passiert sei. Ich will es vergessen und ich will nicht, dass du dich noch einmal zwischen Max und mich stellst. Wir werden die Sache mit keinem Wort mehr erwähnen. Verstanden?“
„Aber Helen! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich liebe dich. Denk doch daran, was ich für dich tun könnte, und was für einen Spaß wir miteinander hatten!“
„Vergiss es, Daniel. Ich liebe Max. Ich habe einen Fehler gemacht. Tut mir leid, wenn du irgendwelche abstrusen Hoffnungen hattest. Und jetzt geh.“
Mit einem Rest von Stolz nahm Daniel seine Jacke vom Sessel und lief zur Tür, ohne sich noch einmal umzusehen. Max, der im Flur gehorcht hatte, rief ihm fröhlich „Tschüss!“ zu, bevor er ins Zimmer zu Helen ging.
Sie warf ihren Mantel auf das Sofa und sich in den Sessel, in dem sich ihr Fehltritt gerade noch gefläzt hatte. Unglaublich!
„Na, das war ein unerwarteter Besuch. Aber er ist eigentlich ein ganz netter Kerl, muss ich zugeben.“, meinte Max mit einem Grinsen auf dem Gesicht und wollte sich auf die Lehne neben sie setzen.
Mit dem kühlen Ton, in dem sich Helen an ihn wandte, hatte er nicht gerechnet.
„Du kannst gleich hinterher verschwinden. Was hast du dir nur dabei gedacht? Ihn überhaupt hier herein zu lassen. Mit ihm zu trinken, wie mit einem alten Kumpel! Und Geschichten über mich auszutauschen. Was fällt dir ein, jetzt so zu tun, als sei alles in Ordnung!“
„Aber Helen. Was hätte ich tun sollen? Du hast dem Jungen ganz schön den Kopf verdreht. Bist du sicher, dass da nichts mehr läuft? Er denkt auf jeden Fall nicht, dass es was Einmaliges war ...“
Sie sahen sich an, versuchten beide, mit ihren Gefühlen klar zu kommen und merkten, dass das gar nicht so einfach war.
Max hatte einfach Angst – Angst, dass ihr ein anderer Mann eines Tages besser gefallen würde, und er keine Chance mehr hätte. Angst, ihr nicht zu genügen und nichts richtig machen zu können. Angst, sie zu verlieren und völlig allein zu sein.
„Ich liebe dich“, sagte Helen plötzlich. „Und das meine ich ernst. Bitte glaube mir. Wenn du daran zweifelst, kannst du wirklich besser gleich gehen. Gib mir eine Chance, ich kann das Ganze nicht ungeschehen machen. Aber ich will weiter nur mit dir zusammen sein.“
Das verwirrte Max mehr, als wenn sie noch wütender geworden wäre oder sich in Ausflüchte verstrickt hätte. Er räusperte sich und versuchte dieses eine Mal genau das zu sagen, was sie hören wollte – nämlich, was er wirklich fühlte, und nicht, wovon er ausging, dass sie es wissen müsste.
„Ich liebe dich auch. Und ich will auch mit dir zusammen bleiben. Wir schaffen das schon.“