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Die Drückebergergasse

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06.11.2013
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Die Drückebergergasse

Käsebleiche Zombies trinken im Starbucks ihren Kaffee und starren auf ihre Laptops. Männer und Frauen laufen gehetzt vorbei, schauen nicht nach links oder rechts. Autofahrer hupen. Eine Fremdenführerin erzählt einer Gruppe Touristen die immer gleichen, alten Geschichten. Schnell knipsen sie ein paar Fotos.
Ein alter Mann spielt Cello. Ich lausche. Halte inne, bleibe stehen. Die Melodie berührt mich, lässt meine Gedanken in die Ferne schweifen. Ein Stück Menschlichkeit in einer Welt, in der es keine Menschlichkeit gibt.
Nur Grauen. Krieg, Zerstörung, Hunger und Angst. Und Zombies. Überall diese Zombies, die nichts sehen und nichts hören. Nur funktionieren, immerzu funktionieren.
Warum?
Das kleine Gässchen dort hinten, erklärt die Fremdenführerin, trägt im Volksmund den Namen Drückebergergasse. Ich kenne die Geschichte. Damals, als die Nazis an der Macht waren, haben sie Mahnwachen vor der Feldherrnhalle aufgestellt. Als Erinnerung an den gescheiterten Putsch von 1923. Jeder, der vorbeikam, musste stehenbleiben und den Hitlergruß machen. Aber die Leute, die das nicht wollten, waren schlau - und gingen einfach hinten rum.
Das Cello spielt weiter.
Nichts sehen und nichts hören. Einfach hinten rum gehen. Ich bin ja nicht so.

 

Hallo Sunchelle,

ich stolpere gerade über einen – in meinen Augen – ambivalenten Aspekt in Deinem Text. Der Begriff "Drückeberger" ist negativ besetzt. Er ist in Deiner Geschichte auf Leute bezogen, die sich weigern, den Hitlergruß vor der Feldherrnhalle zu machen und lieber die hintere Straße lang gehen. Dieses Verhalten fasst Du dann unter "Nichts sehen und nichts hören. Einfach hinten rum gehen." zusammen.

Ich finde, es ist eine Art passiver Widerstand oder sogar ziviler Ungehorsam, den Gruß zu verweigern, indem man einen anderen Weg geht. Vor allem im Gegensatz zu denjenigen, die (möglicherweise entgegen ihrer Überzeugung) den Gruß gemacht haben, um in Ruhe gelassen zu werden.

Mit anderen Worten, ich verstehe den Punkt Deines Urteils nicht ganz, aber vielleicht verstehe ich auch nicht, was Du sagen willst.

Gruß Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Achillus,

es geht in dem Text um die Frage, was Widerstand ist. Einen anderen Weg zu wählen, in dem Rahmen, in dem das möglich ist, ist das wirklich schon ziviler Ungehorsam? Oder doch nur ein Weg, das eigene Gewissen zu beruhigen?
Der Text ist auch eine Kritik an der Legende vom "guten Deutschen", der ja "eigentlich auch dagegen" war. An der Idealisierung derjenigen, die sich ihre Nischen gesucht haben, in denen sie "soweit es eben ging" unbehelligt vom System weiterleben konnten. An einer Erinnerungskultur, die den "guten Deutschen" in den Vordergrund stellt, und den Widerstand derjenigen, die auch heute nicht genehm wären, in Vergessenheit geraten lässt.
Und er soll eine Parallele ziehen zur heutigen Gesellschaft, in der die Idealisierung der Nischen weiterhin mit vollem Erfolg betrieben wird. In der es als Widerstand begriffen wird, sich die Haare bunt zu färben, keine Milch mehr zu trinken, oder nur noch Fair-Trade zu kaufen, in der das "Ich bin ja nicht so, ich kann ja nichts dafür" das "Was kann ich dagegen tun?" ersetzt. Die davon lebt, dass die Menschen sich über die Zombies beschweren, die nichts sehen und nichts hören, und sich dann einreden, dass sie selbst anders sind. Natürlich ohne irgendetwas gleichsetzen zu wollen.
Zuletzt: Er soll provozieren.

Liebe Grüße

 

Hallo Sunchelle,

vielen Dank für Deine Antwort. Jetzt verstehe ich den Text besser.

Was die Schilderung Deiner Eindrücke von den Zombies betrifft, kann ich gut nachvollziehen, was in Dir vorgeht, glaube ich. In den Großstädten sind Laptops, Tablet-PCs, Smartphones, IPods usw. allgegenwärtig und wirken wie Aufmerksamkeitsmagneten. Die Leute sind nie da wo sie sind, ihre Körper scheinen ihnen sinnlose Hüllen geworden zu sein.

Das kann man sicher kritisieren. Ebenso ist offensichtlich, wie kurzsichtig das Gerangel um den besten Job, das beste Produkt, den besten Urlaub, den besten Parkplatz etc. eigentlich ist. Das Studium "normalen Verhaltens und Denkens" ist eine Lektion in mangelnder Einsicht und Weisheit.

Aber die Verbindung zu den Deutschen, die sich im dritten Reich nicht offen gegen Hitler gestellt haben, wirkt auf mich etwas weit hergeholt. Ich weiß nicht, ob das eine geschickte Analogie ist, insbesondere wenn es mit einem moralischen Urteil verknüpft wird.

Außerdem ist zu bedenken, dass z.B. jemand, der äußerlich wie ein Laptop-Zombie aussieht, ein virtueller Aktivist sein könnte, also jemand, der auf seine Weise im Netz Widerstand leistet.

Alles in allem scheint mir das Problem Deines Textes das grundsätzliche Problem von jeder Art Kampfschrift zu sein. Der Tonfall verhindert, dass die Menschen, die sich angesprochen fühlen könnten, damit auseinandersetzen. Das moralische Urteil ("Ihr seid alle Zombies, die keine Verantwortung für die Welt übernehmen") ist beleidigend und wirft die Frage auf, woher der Autor das Recht ableitet, so urteilen zu dürfen.

Der Text ist nicht schlecht geschrieben. Doch wenn es Deine Idee ist, zu provozieren, musst Du Dich auch fragen, ob sich durch Provokation die Art von Einsicht erzielen lässt, die Dir am Herzen liegt.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo,

dieser Text provoziert nicht, dafür fehlt es an Identifikationspotential, an Konflikt, an einem Protagonisten, eigentlich an allem.

Im Endeffekt ist dies ein kruder, zeitgeistlicher Betroffenheitsmix, der weder eine Alternative im Text verortet, noch zu einem echten Beispiel, einer Anschauung führt. Da werden 'Zombies' vorgeführt, ein wenig Nazi hier, Nazi da, Gewissen, so die schweren Themen, 'Empört euch!' in low key.

Du sagst: Widerstand, bzw fragst du das. Leute, die sich ihre Haare färben, keine tierischen Produkte mehr konsumieren, lieber ehrliche Produkte aus der Region kaufen, die treffen für sich ethisch vertretbare Entscheidungen. Würden das mehr Menschen tuen, würde die Welt sicher ein Stück besser. Was wäre denn echter Widerstand? Wie Che Guevara ordentlich Bambule machen? Das hätte der Text erläutern können, eine Meinung verteten, nicht nur laut schreien und mit dem moralinsauren Finger zeigen.

Der Text funktioniert für mich leider null.

Gruss, Jimmy

 

Hey,

die Kritiken von Achillus und Jimmy gehen ja schon sehr in die Tiefe. Ich denke der grundsätzliche Schwachpunkt dieser Geschicht liegt darin, dass verallgemeinert gesagt wird: Wir leben in einer Welt ohne Menschlichkeit, niemand interessiert sich für den anderen. Und das ist ein Satz, der in dieser Absolutheit nicht zu halten ist. Es gibt ja so Hug-Flashmobs und Kissenschlachten. Es gibt in Familien und Freundeskreisen noch so viel Aufmerksamkeit füreinander wie eh und je. Es gibt auch im Internet Plätze und Ecken in denen die Menschen viel Aufmerksamkeit und Menschlichkeit füreinander haben. Deshalb scheint mir die Aussage "Alles Zombies" ohne eine nähere Erläuterung naiv und arrogant zu sein. Der Vergleich mit den Nazis ist unappetitlich. Was durch dieses Handys passiert ist, dass der "öffentliche reale Raum" - das außerhalb der Tür, lokale Gemeinschaften - das bröckelt. Die Leute sitzen im Restaurant und im Park und interessieren sich nicht mehr für das, was um sie herum geschehen ist. Ob das nun "Menschlichkeit" immer war - ist eine andere Frage. Wenn ich im Restaurant sitze und neben mir stillt eine Frau ihr Baby und ich guck da hin, weil ich sonst nix zu tun hab, und mein Nachbar schüttelt den Kopf und sagt: "Das find ich nicht gut" - dann hab ich Teil am "öffentlichen Raum", aber das ist ja jetzt keine "Menschlichkeit". Die Polizei rät, glaub ich, wenn man beobachtet, dass sich in einem öffentlichen Raum (Bahnhöfen, S-Bahnen usw.) Gewalt angekündigt, dass dann mehrere ihre Handys zücken und das ganze protokollieren. Da wird also das dann böse Handy tatsächlich zum Instrument einer Zivilcourage und Menschlichkeit.

Es gibt vom Comedian Louis C.K. eine schöne Nummer, in der er etwas ähnliches kritisiert. Er sagt, dass wenn der Herr Jesus Christus auf Erden erschienen und allen das ewige Leben verkünde, würde er vor einer Masse an Menschen stehen, die alle auf ihr Handy starren, und "Omg, i can't believe it, Jesus is here" twittern. Das ist ein toller Punkt, dass diese Handy-Fixierung dafür sorgt, dass einige das Leben nur noch "indirekt" wahrnehmen.
Zu sagen: Damit scheide man völlig aus der menschlichen Gesellschaft aus und ziehe sich aus dem "öffentlichen Raum" zurück in eine Art innere Emigration: Das ist eine schwierige Frage. Wir haben ja keine Nazis in unserem "öffentlichen Raum", die es jetzt zu bekämpfen gilt.

Der Text ist zu naiv für einen literarischen Text, finde ich, und tut der Sache, für die er kämpfen will, keinen Gefallen. Das Thema müsste im Kopf des Autors erstmal Wurzeln schlagen und Früchte tragen, das müsste durchdacht werden und neue Seiten müssten an dem Thema gefunden werden, bevor der Stoff reif für eine Verarbeitung ist.

Gruß
Quinn

 

Wir haben ja keine Nazis in unserem "öffentlichen Raum", die es jetzt zu bekämpfen gilt.

Das sehen die linksgrünen Gutmenschen bestimmt anders :D

lieber ehrliche Produkte aus der Region kaufen

Würde von den linksgrünen Gutmenschen als rechtsradikal eingestuft werden

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich würde gerne klar stellen, dass sich meine Kritik nicht gegen Handys oder Laptops richtet. Die sind nur Attribute der heutigen Zeit, die für das eine oder das andere verwendet werden können.

 

Hallo Sunchelle!

Zwischen Laptop-Zombies und mahnwachenden Nazis vor der Feldherrnhalle fehlt mir jegliche Leidenschaft und auch Wertung der angeprangerten Zustände. In einer reinen Erzähler Erzählung darf auch mal deutlich Flagge gezeigt werden und vor allem ironisiert werden!

Ein Beispiel aus einer anderen Zeit:


Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest unserer deutschen Jugend opfern? Nimmermehr!
Ein Auszug aus dem sechsten Flugblatt der Weißen Rose. Nach einem Entwurf von Kurt Huber mit Korrekturen von Hans Scholl und Alexander Schmorell, Februar 1943.

Wenigstens ein wenig von diesem ungestümen Schwung und von der Ironie und auch dem konkreten Benennen hätte deinem Text gut getan.
Gib deinem Erzähler eine Stimme!

Lieben Gruß

Asterix

 

Hi Sunchelle,

es wäre eine richtig klasse Geschichte gewesen, wenn sich der Erzähler, der sich über alles mögliche echauffiert und sich somit als der bessere Mensch gegenüber den Zombies sieht, diese historisch bedeutsame Gasse nutzt, um sich letztlich davor zu drücken dem alten Cellisten einen Obolus für dessen Spiel zu entrichten, dem er so intensiv gelauscht hat. Das hätte ihn in der Profanheit als den gleichen Zombie entlarvt. Sprachlich gefällt es mir aber recht gut.


Grüße

E.

 

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