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Die Dose

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02.05.2003
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Die Dose

Aus einem Fernseher schaut ein Mensch. Mit traurigen Augen, eingefallenen Wangenknochen und einem grossen Tuch auf dem Kopf. Ein kleiner Mensch schaut in die Kamera, dreht sich nach allen Seiten um, so als sei er etwas scheu oder habe sich in einer fremden Welt verlaufen.
Die Kamera filmt. Hinten am Horizont, da zeigt das Mädchen hin, ganz dort hinten, wo die Berge anfangen, da wohnen ihre Grosseltern, die sind schon ganz alt und wohnen ganz weit oben auf einem der Gipfel auf einem Bauernhof. Ja, ja, etwas unsicher blickt sie in die Kamera, dieses grosse schwarze Gebilde, das sie hier in letzter Zeit öfter gesehen hat. Sie hat ein wenig Angst davor, die Alten sagen, wenn dich einer damit anschaut, dann besitzt er deine Seele. Deswegen blickt sie auch nie genau in die Linse, immer ein Stückchen weiter nach oben, da, wo der komische Pelz ist, der so lustig im Wind flattert, da, wo einem niemand die Seele klauen kann.
Fünf Jahre ist es her, sagt sie, und ihre Stimme wird leiser als sie spricht. Fünf Jahre seit sie ihre Grosseltern gesehen hat. Damals war sie noch ganz klein gewesen, fast noch ein Baby, aber sie kann sich noch gut daran erinnern.
Wieder geht ihr Blick zu dem Horizont, zu den Bergen, über denen jetzt Nebel hängt.
Oder ist es überhaupt Nebel? Das Mädchen kneift die Augen ganz fest zusammen, hebt die Hand als Schutz vor der Sonne über die Augen, aber sie scheint wohl nichts erkennen zu können.
Im Hintergrund spielen Kinder mit einer alten Coladose Fussball. Es scheint ihnen Spass zu machen, denn sie lachen, trotz ihrer wunden Füsse, die vom ganzen Staub und Dreck ganz braun geworden sind.
Das kleine Mädchen nickt etwas steif. Ihren Grosseltern geht es bestimmt gut, denen tut keiner was, und wenn sie ihre Gebete spricht, wird Gott schon auf ihre Grosseltern aufpassen.
Sie lächelt. Nur einmal, nur ganz kurz, aber sie lächelt. Dann ist das Stirnrunzeln wieder auf ihre Augen zurückgekehrt.
Die Kinder aus dem Hintergrund kommen dazu und fangen an, Kunststücke mit der Coladose vorzuführen. Ein kleiner Junge zeigt stolz, wie er die alte läpprige Dose mehr als zwanzig Sekunden auf dem Fuss balancieren kann. Er grinst, Fussballer will er mal werden und viel Geld verdienen.
Alle lachen.
Ein Junge steht ganz allein, am Rand der Gruppe. Er ist grösser als die anderen, er weiss, was dort oben passiert. Die bösen Männer kommen um sie alle zu töten, das sagt er, aber er sagt es nicht laut, er flüstert fast schon, weil die „Kinder“ es nicht hören sollen.
Die Kamera filmt.

Sie filmt. Ein Mann mit grauem Haar kommt ins Bild. Es wid kurz unscharf, der Kameramann sucht, dann ist es wieder scharf.
Der Mann mit dem grauen Haar lehnt sich an sein Pult, ordnet seine Papiere und spricht. Er spricht sehr laut und deutlich, so dass alle verstehen können, was er sagt. Er spricht nicht viel, nur ein paar Sätze, aber keiner versteht ihn. Er spricht über Krieg, Angst und Bosheit. Er spricht über Gut und Böse, über den entscheidenden Kampf, über Leben und Tod. Er spricht über Kinder und Eltern, über Himmel und Hölle.
Und als er fertig ist geht er weg, mit ernstem Gesicht und festem Schritt.
Keiner versteht ihn.

Am Horizont ist es dunkel. Die Regenwolken ziehen auf. Sie kommen aus Richtung der Berge, von dort wo einst der Nebel war. Der Nebel ist jetzt hier, da wo das kleine Mädchen steht, auf diesem Hügel und Richtung Horizont guckt. Der Hügel, auf dem sie steht, besteht aus Trümmern, aus Scherben und zerbrochenen Häusern. Aus Bildern, die nicht mehr da sind, aus Tränen, aus Liebe, die Hass ist, aus Leid, das Freude ist. Es liegt alles um sie herum.
Nichts blieb übrig, als die grossen Kämpfer kamen, nichts konnte dem standhalten, was der Himmel brachte.
Es krachte und war laut und schrecklich und dann war es vorbei.
Das Mädchen schaut zu den Bergen. Wo ihre Grosseltern jetzt wohl sein mögen?
Die Coladose ruht in ihrer Hand. Sie ist etwas verrußt geworden vom Schutt, aber sie sieht noch ganz gut aus. Sie wird sie mitnehmen, da wo sie hingeht.
Langsam dreht sie sich um. Die Soldaten warten schon, mit ihren grossen mächtige Panzern. „US- Army“ steht darauf und sie sind sehr freundlich.
Als sie Richtung Norden fahren, fängt es an zu regnen. Erst langsam und sachte. Dann härter und schliesslich hat es richtig angefangen zu schütten.
Die Kamera filmt. Das Mädchen blickt nach oben, dann dreht sie sich um und schaut noch einmal zurück auf was nicht mehr da ist. Auf ihr zerstörtes Heim, auf die Trümmer, auf die Leichen.
Die Coladose in ihrer Hand wird schwerer. Sie drückt förmlich gegen ihre kleine Hand, scheint zu glühen.
Sie lässt sie fallen. Scheppernd rollt sie im Wagen nach vorne. Dort hebt sie jemand auf, schaut sie prüfend and und wirft sie dann achtlos aus dem Fenster.
Es regnet immer noch und das Mädchen blickt aus dem Fenster, der Coladose nach, die im Regen liegt. Ganz schmutzig wird sie jetzt, viel schmutziger als sie jemals vom Fussballspielen war.
Der Wagen fährt um eine Kurve und mit einem Mal ist die Dose weg. Das Mädchen dreht sich um sitzt still.
Wenn es regnet, so sagt sie, sagt man, dass dann Gott im Himmel weint, weil er traurig ist, über die Menschen.
Ein Amerikaner nickt.
Alle nicken. Keiner sagt ein Wort.
Und es regnet.
Gott weint.

 

Hallo Ben,
mir hat deine Geschichte gut gefallen.
Gerade Kinder, die am allerwenigsten etwas für Kriege können, leiden wohl am meisten.
Die Geschichte lässt sich sehr flüssig lesen und deine Formulierungen haben mir gut gefallen.
Ebenso der Konflikt, der sich in Kleinigkeiten widerspiegelt. Die Kamera, mit der die Seele geraubt wird, der Glaube, dass Gott weint, sowas hat keinen Platz in den Köpfen der "westlichen Welt", deutlich gemacht durch das Wegwerfen der Dose. Das Wegwerfen der Hoffnung des Mädchens.
Als Abschluss das Nicken der Amerikaner. Das schlechte Gewissen? Oder einfach nur ein "Ruhigstellen" des Mädchens, damit diese nicht mehr erzählt?

""Das Gute" habe nun gegen "das Böse" zu kämpfen, hat Bush die Welt wissen lassen, und diese Denkweise ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung."

Dieses Zitat hast du meiner Meinung nach gut verdeutlicht. Ich habe die Geschichte gern gelesen.

kleine Nacht

 

Hallo Ben,

deine Geschichte hat mir super gut gefallen. Sie hat mein Herz berührt. Das ist es, was meiner Meinung nach eine gute Geschichte ausmacht: Sie berührt das Herz und lässt aus Worten Bilder entstehen.
Sie erinnert wieder mich an das schreckliche, was da wirklich passiert: Es geht nicht um Macht, zumindest nicht nur, es geht nicht um Geld, es geht um das Leben unschldiger Kinder.
Wenn solche Geschichten wie Deine im Deutschunterricht in den Schulen gelesen würden, wer weiß, vielleicht würde eine nächste Generation andere Entscheidungen treffen, als unsere es tat. Darin liegt die Hoffnung deiner Geschichte.

puregold

 

Hallo Ben,

schön, wie du sanft die Eindrücke der Kamera wieder gibst, die diese Kinder in ihren Hoffnungen und Ängsten verfolgt.
Natürlich ist es ein Paradoxon, dass wir diese Eindrücke ohne diese Seelenfänger nicht hätten, dass wir Teil des Voyeurismus werden müssen, um uns von solchen Bildern erschrecken zu lassen.
Die Coladose als Zeichen der Hoffnung, aber auch als verdeckender Abfall der westlichen Zivilisation ist ein zweites dieser in sich widersprüchlichen Bilder.
So ist es leider. Die Hoffnung ruht in den Aggressoren, die Rettung kommt mit den Zerstörern.
Das hast du wirklich schön erzählt.
Ein Ausdruck gefällt mir allerdings nicht so, nämlich die Coladose, die russig aussieht. Du meintest sicher, sie ist verrußt.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo an alle
vielen lieben Dank für die gute Kritik. Endlich wird eine meiner Geschichten mal nicht in Fetzen gerissen ;-).
Ich möchte ganz kurz noch was dazu sagen. Diese Gschichte ist ohne große Vorplanung entstanden und ich habe mich dabei einfach hingesetzt und versucht, mich von meinen Gefühlen leiten zu lassen, was mir glaube ich auch recht gelungen ist. Das Ganze ist, wie man sich wahrscheinlich denken kann, zur Zeit des Irakkrieges passiert und obwohl der Gedanke der Geschichte wahrscheinlich auch allgemein für Krisengebiete überall auf der Welt gelten könnte ist die Geschichte natürlich stark von den Ereignissen im Irak geprägt. Ich habe mir einfach überlegt, wie es wirklich aussieht in solchen Gebieten und aus welcher Sicht das Ganze wohl am echtesten und ehrlichsten vermittelt werden kann. Natürlich ist es die Sicht eines Kindes, weil ein Kind nicht einordnet, es ist noch nicht verdorben von den Meinungen und Ansichten der Welt und sieht Dinge einfach so, wie sie sind. Das war für mich der Hauptgedanke, ohne dass ich mir dies allerdings die ganze Zeit vor Augen gehalten habe. Solche Gedanken kommen einem eher unbewusst während dem Schreiben, davon kann hier wahrscheinlich jeder ein Lied singen.
Puregold, ich denke das ist was Wahres dran, wenn wir wirklich im Unterricht solche Dinge lesen lassen würden, sähe es bestimmt anders in der Welt aus. Ich mache mir da allerdings gar keine Illusionen, sondern hoffe einfach, dass durch meine Geschichte vielleicht wenigstens ein paar Menschen zum Nachdenken kommen und das Ganze, was in der Welt vorgeht mal aus einem anderen Winkel betrachten. Die Menschen sollen wegen mir nicht ihre Ansichten ändern, aber wenn sie nachdenken, dann habe ich schon viel erreicht (ich glaube, das hat auch mal irgendein Autor gesagt ;-)).
Zu Sim noch kurz etwas: Das mit dem rußig stimmt schon, werde ich ändern. Die Kamera als Metapher anzusehen... auf die Idee bin ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht gekommen... Der Gedanke kam mir nur hoch, weil ich aus Erzählungen meines Vaters gehört hatte, das Muslimische Völker oftmals denken, Kameras und Photoapparate könnten ihre Seelen einfangen. Mein Vater hat diese Erfahrung in Algerien gemacht. Aber es ist interressant, dass das so auf dich gewirkt hat. Danke für die Anregung :-).
So, jetzt hab ich schon wieder viel zu viel geschrieben. Ich möchte euch jedenfalls danken und wünsch euch noch ein schönes Wochenende.
Gruss b

 

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