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Die Dose
Aus einem Fernseher schaut ein Mensch. Mit traurigen Augen, eingefallenen Wangenknochen und einem grossen Tuch auf dem Kopf. Ein kleiner Mensch schaut in die Kamera, dreht sich nach allen Seiten um, so als sei er etwas scheu oder habe sich in einer fremden Welt verlaufen.
Die Kamera filmt. Hinten am Horizont, da zeigt das Mädchen hin, ganz dort hinten, wo die Berge anfangen, da wohnen ihre Grosseltern, die sind schon ganz alt und wohnen ganz weit oben auf einem der Gipfel auf einem Bauernhof. Ja, ja, etwas unsicher blickt sie in die Kamera, dieses grosse schwarze Gebilde, das sie hier in letzter Zeit öfter gesehen hat. Sie hat ein wenig Angst davor, die Alten sagen, wenn dich einer damit anschaut, dann besitzt er deine Seele. Deswegen blickt sie auch nie genau in die Linse, immer ein Stückchen weiter nach oben, da, wo der komische Pelz ist, der so lustig im Wind flattert, da, wo einem niemand die Seele klauen kann.
Fünf Jahre ist es her, sagt sie, und ihre Stimme wird leiser als sie spricht. Fünf Jahre seit sie ihre Grosseltern gesehen hat. Damals war sie noch ganz klein gewesen, fast noch ein Baby, aber sie kann sich noch gut daran erinnern.
Wieder geht ihr Blick zu dem Horizont, zu den Bergen, über denen jetzt Nebel hängt.
Oder ist es überhaupt Nebel? Das Mädchen kneift die Augen ganz fest zusammen, hebt die Hand als Schutz vor der Sonne über die Augen, aber sie scheint wohl nichts erkennen zu können.
Im Hintergrund spielen Kinder mit einer alten Coladose Fussball. Es scheint ihnen Spass zu machen, denn sie lachen, trotz ihrer wunden Füsse, die vom ganzen Staub und Dreck ganz braun geworden sind.
Das kleine Mädchen nickt etwas steif. Ihren Grosseltern geht es bestimmt gut, denen tut keiner was, und wenn sie ihre Gebete spricht, wird Gott schon auf ihre Grosseltern aufpassen.
Sie lächelt. Nur einmal, nur ganz kurz, aber sie lächelt. Dann ist das Stirnrunzeln wieder auf ihre Augen zurückgekehrt.
Die Kinder aus dem Hintergrund kommen dazu und fangen an, Kunststücke mit der Coladose vorzuführen. Ein kleiner Junge zeigt stolz, wie er die alte läpprige Dose mehr als zwanzig Sekunden auf dem Fuss balancieren kann. Er grinst, Fussballer will er mal werden und viel Geld verdienen.
Alle lachen.
Ein Junge steht ganz allein, am Rand der Gruppe. Er ist grösser als die anderen, er weiss, was dort oben passiert. Die bösen Männer kommen um sie alle zu töten, das sagt er, aber er sagt es nicht laut, er flüstert fast schon, weil die „Kinder“ es nicht hören sollen.
Die Kamera filmt.
Sie filmt. Ein Mann mit grauem Haar kommt ins Bild. Es wid kurz unscharf, der Kameramann sucht, dann ist es wieder scharf.
Der Mann mit dem grauen Haar lehnt sich an sein Pult, ordnet seine Papiere und spricht. Er spricht sehr laut und deutlich, so dass alle verstehen können, was er sagt. Er spricht nicht viel, nur ein paar Sätze, aber keiner versteht ihn. Er spricht über Krieg, Angst und Bosheit. Er spricht über Gut und Böse, über den entscheidenden Kampf, über Leben und Tod. Er spricht über Kinder und Eltern, über Himmel und Hölle.
Und als er fertig ist geht er weg, mit ernstem Gesicht und festem Schritt.
Keiner versteht ihn.
Am Horizont ist es dunkel. Die Regenwolken ziehen auf. Sie kommen aus Richtung der Berge, von dort wo einst der Nebel war. Der Nebel ist jetzt hier, da wo das kleine Mädchen steht, auf diesem Hügel und Richtung Horizont guckt. Der Hügel, auf dem sie steht, besteht aus Trümmern, aus Scherben und zerbrochenen Häusern. Aus Bildern, die nicht mehr da sind, aus Tränen, aus Liebe, die Hass ist, aus Leid, das Freude ist. Es liegt alles um sie herum.
Nichts blieb übrig, als die grossen Kämpfer kamen, nichts konnte dem standhalten, was der Himmel brachte.
Es krachte und war laut und schrecklich und dann war es vorbei.
Das Mädchen schaut zu den Bergen. Wo ihre Grosseltern jetzt wohl sein mögen?
Die Coladose ruht in ihrer Hand. Sie ist etwas verrußt geworden vom Schutt, aber sie sieht noch ganz gut aus. Sie wird sie mitnehmen, da wo sie hingeht.
Langsam dreht sie sich um. Die Soldaten warten schon, mit ihren grossen mächtige Panzern. „US- Army“ steht darauf und sie sind sehr freundlich.
Als sie Richtung Norden fahren, fängt es an zu regnen. Erst langsam und sachte. Dann härter und schliesslich hat es richtig angefangen zu schütten.
Die Kamera filmt. Das Mädchen blickt nach oben, dann dreht sie sich um und schaut noch einmal zurück auf was nicht mehr da ist. Auf ihr zerstörtes Heim, auf die Trümmer, auf die Leichen.
Die Coladose in ihrer Hand wird schwerer. Sie drückt förmlich gegen ihre kleine Hand, scheint zu glühen.
Sie lässt sie fallen. Scheppernd rollt sie im Wagen nach vorne. Dort hebt sie jemand auf, schaut sie prüfend and und wirft sie dann achtlos aus dem Fenster.
Es regnet immer noch und das Mädchen blickt aus dem Fenster, der Coladose nach, die im Regen liegt. Ganz schmutzig wird sie jetzt, viel schmutziger als sie jemals vom Fussballspielen war.
Der Wagen fährt um eine Kurve und mit einem Mal ist die Dose weg. Das Mädchen dreht sich um sitzt still.
Wenn es regnet, so sagt sie, sagt man, dass dann Gott im Himmel weint, weil er traurig ist, über die Menschen.
Ein Amerikaner nickt.
Alle nicken. Keiner sagt ein Wort.
Und es regnet.
Gott weint.