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- 10.07.2007
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Die doppelte Frau Lottmann
Theresa Lottmann war dafür bekannt, dass sie lang im Büro blieb und hart arbeitete. Meistens tat sie es sogar gern. Sie besaß das seltene Talent, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, ohne dass das Ergebnis zu wünschen übrig ließ. Wenn sie telefonierte, schrieb sie nebenher schon an der nächsten Email. Sie ging methodisch und effizient vor, und war immer voll konzentriert. Sie dehnte ihre Kaffeepausen nicht unnötig aus und hatte selten Zeit für einen Plausch mit Kollegen.
Trotzdem gab es Tage wie heute, an denen das Pensum einfach nicht zu schaffen war. Kollegen und Vorgesetzte wussten nur zu gut, dass sie klaglos und schnell auch unangenehme Aufgaben abarbeitete, und dass es ihr schwer fiel, nein zu sagen. Die Emails in ihrer Inbox nahmen einfach kein Ende, und das Telefon schien aller fünf Minuten zu klingeln. Als ihr Chef den Kopf zur Tür hereinsteckte, ahnte sie, dass es auf noch mehr Arbeit hinaus lief.
„Ist die Tagesordnung für den Achtzehnten denn noch nicht raus, Frau Lottmann?“
„Ich bin noch an der Abschlussdokumentation für Central Core.“
„Was? Die müsste doch längst fertig sein!“
„Ich konnte doch erst gestern damit anfangen. Frau Bertram ist seit Montag krank, und – “
„Ist mir egal, Frau Lottmann Wir brauchen die Tagesordnung, und die Tischvorlagen. Bis drei senden Sie das bitte an alle Teilnehmer.“
Also erstellte Theresa die gewünschten Unterlagen, und versendete sie um kurz vor drei. Mit ihrer Dokumentation war sie noch kein Stück weiter.
Gegen sechs Uhr rief ihr Freund an.
„Soll ich dich abholen?“, fragte er.
Theresa biss sich auf die Lippen. „Lars, ich bin noch im Büro. Ich schaffe es heute nicht.“
„Du hast gesagt, Donnerstag wäre okay.“
„Ich weiß, es tut mir leid. Ich muss noch was zu Ende bringen, es dauert länger als gedacht. Sei nicht böse, okay?“
„Bin ich nicht“, sagte er. „Du kannst ja nichts dafür.“
Aber sie hörte Verärgerung in seiner Stimme. Sie kannte diesen Unterton gut. Er war der Anfang vom Ende ihrer letzten Beziehung gewesen.
„Ich mach’ es wieder gut“, sagte sie und legte auf.
Da sie inzwischen allein im Büro war, gestattete sie sich, für einen Moment den Kopf auf den Schreibtisch zu legen. Was soll ich denn machen, ich kann mich doch nicht teilen, dachte sie. Aber Herumjammern würde ihr nicht weiterhelfen, also machte sie sich schnell wieder an ihre Arbeit.
Gegen neun verließ Theresa endlich das Büro. Es war dunkel und kalt, die meisten Läden hatten schon geschlossen. Sie kaufte ihr Abendessen, chinesisches Fastfood, auf dem Heimweg. Sie aß es schnell, vor dem Fernseher, und hinterher war ihr übel. Ein flaues Gefühl im Magen, und eine seltsame Schwäche in den Beinen. Nicht doch, ich kann es mir nicht leisten jetzt krank zu werden, dachte sie verzweifelt. Wenn die Bertram, diese dumme Pute, sie angesteckt hatte, dann konnte sie sich ja gleich erschießen.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor ihr klar wurde, dass die Übelkeit nicht von einer beginnenden Darmgrippe herrührte. Sie war einfach immer noch hungrig. Es kam hin und wieder vor, dass ein anstrengender Arbeitstag einen Anfall von Heißhunger bei ihr auslöste, aber so schlimm war es noch nie gewesen.
Ihr Kühlschrank war nie sonderlich gut ausgestattet, aber ein paar Aufbackbrötchen waren noch da. Theresa warf sie hastig in den Backofen, ließ sie gerade lange genug darin um sicherzugehen dass sie nicht mehr gefroren waren, und aß eins nach dem anderen auf. Viel half das nicht – es fühlte sich immer noch an, als müsste sie ein Loch in ihrem Inneren stopfen. Normalerweise achtete sie auf ihr Gewicht, aber das Gefühl, weiter essen zu müssen, war so stark, dass sie überhaupt nicht darüber nachdachte, wie viele Kalorien sie wohl in sich hineinstopfte. Nachdem sie sämtliche Lebensmittel in der Wohnung vertilgt hatte - selbst das halbe Glas saurer Gurken, das sich schon länger als angebracht im Kühlschrank befand, und ihren Notfallvorrat an Schokolade - rief sie schließlich einen Pizzaservice an.
Weit nach Mitternacht lag sie endlich im Bett, aber sie fühlte sich noch immer unwohl. Ihr war heiß, und ihr ganzer Körper schien geschwollen zu sein. Selbst ihre Nase und die Zehen fühlten sich an, als würde die Haut gleich aufplatzen. Trotzdem fiel sie nach und nach in einen unruhigen Schlaf.
Irgendwann schreckte sie hoch, mit einem grauenhaften Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ihr Atem ging schwer, und ihr Herz schien in einem Moment zu schnell und im nächsten zu langsam zu sein. Sie tastete mit der rechten Hand nach dem Puls auf der linken Seite. Die Finger fühlten sich taub an und bewegten sich schwerfällig, wie unter Wasser. Als Theresa sie auf ihr Handgelenk legte, hatte sie das Gefühl, einzusinken, als wäre das gar kein richtiger Arm, sondern ein Gebilde aus weichem Ton.
Unter normalen Umständen hätte dieses Gefühl allein sie zutiefst beunruhigt, aber sie hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment begannen die Krämpfe. Der Schmerz traf sie unvorbereitet. Es war, als würden kosmische Kräfte ihren Körper zum Tauziehen benutzen.
Ihr kam der Gedanke, dass sie sterben könnte, hier und jetzt. Sie war gerade mal dreißig, und hatte geglaubt sie sei gesund, aber etwas hatte sie erwischt, und es machte ganz den Eindruck, als könnte es sie umbringen, einfach so. Sie hätte geschrien, aber ihr Hals war zugeschnürt. Sie fühlte Tränen, die ihre Wangen herab liefen, und sich auf ihrer heißen, gereizten Haut wie Säure anfühlten.
Als die Krämpfe etwas nachließen, konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Ihr war heiß, und ihr ganzer Unterleib fühlte sich an, als stehe er in Flammen.
Ohne nachzudenken, riss Theresa ihr Nachthemd herunter und rannte ins Bad. Vielleicht hing das alles damit zusammen, dass sie heute Abend einfach viel zu viel in sich hineingestopft hatte. Vielleicht musste sie sich einfach nur übergeben und würde sich dann besser fühlen.
Es half nicht. Sie hing würgend über der Kloschüssel, aber es kam nur ein wenig Gallenflüssigkeit.
Also richtete sie sich wieder auf. Das Brennen war jetzt weiter nach oben gewandert, von der Magengrube in die Brust. Sie sah an ihrem nackten Körper herunter. Er schien breiter als sonst, angeschwollen, aber das bekam sie nur am Rande mit, denn etwas anderes beunruhigte sie viel mehr. Genau in der Mitte, zwischen ihren Brüsten, und durch den Bauchnabel hindurch, lief eine dünne rote Linie. Was ist das denn bloß? Sie starrte in den Spiegel. Wie sie befürchtet hatte, lief die dünne Linie auch durch ihr Gesicht.
Theresa beugte sich nach vorn, um besser zu sehen. Die Linie hatte begonnen, allmählich einzusinken – als hätte jemand eine unsichtbare Schnur um sie gelegt, und würde jetzt langsam immer fester zuziehen. Gleichzeitig nahm der Schmerz zu. Sie hatte schon von Kopfschmerzen gehört, die einem den Schädel spalteten, aber in diesem Fall schien das keine Metapher mehr zu sein. Sie glaubte sogar, ein Knirschen zu hören.
Ich brauche einen Arzt.
Als ihr dieser Gedanke kam, war es schon zu spät. Ihre Füße schienen ihr nicht mehr zu gehorchen. Sie brauchte eine Ewigkeit, um das Bad zu verlassen, und im Flur konnte sie sich nur noch auf Händen und Knien fortbewegen. Sie schaffte es noch, das Telefon in die Hand zu nehmen und die erste Eins zu wählen, bevor ihre Bewegungen in unkontrollierbare, krampfhafte Zuckungen übergingen, und der Schmerz so unerträglich wurde, dass sie das Bewusstsein verlor.
Und trotzdem war am nächsten Morgen alles wieder normal, zumindest für ein paar Minuten. Sie erwachte, weil der Wecker im Schlafzimmer anfing zu klingeln, aber sie war ausgeruht – wahrscheinlich wäre sie wenig später von ganz allein aufgewacht. Ihr Körper fühlte sich leicht an, lebendig und voller Energie. Ihr war kalt, weil sie die ganze Nacht ohne Decke auf dem Fußboden zugebracht hatte, aber alles in allem ging es ihr nicht nur weitaus besser als gestern Abend, sondern besser als die ganze vergangene Woche. Trotzdem war sie besorgt wegen des nächtlichen Anfalls, dieser eigenartigen Symptome und der heftigen, unerklärlichen Schmerzen. Hastig setzte sie sich auf und sah an sich herunter. Ihre Haut war glatt und weiß, keine Spur mehr von der eingeschnürten roten Linie, die genau in der Mitte heruntergelaufen war. Womöglich war das Ganze nur ein Traum gewesen, verbunden mit Schlafwandeln?
Erst nach diesen ersten Momenten der Erleichterung merkte sie, dass sich der Fußboden klebrig anfühlte. Er war von rosa Schlieren bedeckt, die sie an Schneckenschleim erinnerten. Wie ekelhaft – bestimmt hatte sie sich im Schlaf übergeben müssen! Sie stand auf, um sich so schnell wie möglich zu waschen, und erst da fiel ihr der andere Körper auf, der nur knapp einen Meter von ihr entfernt am Boden lag und die Tür zum Badezimmer blockierte.
Die andere Frau lag mit dem Gesicht zur Wand, aber Theresa wusste es sofort. Das kurze dunkelblonde Haar, der blasse Teint, die Form der ausgestreckten Hand – dieser Körper war identisch mit ihrem eigenen. Dies war ein Zwilling, eine Doppelgängerin … ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber als sie neben der Anderen auf die Knie ging, und sie vorsichtig an der Schulter berührte, traten alle Gedanken an Science-Fiction-Filme, halbvergessene Biologiestunden, und mögliche Wahnvorstellungen weit in den Hintergrund. Es war eine Erfahrung, die sich kaum mit dem Bewusstsein verarbeiten ließ – ihre Hand, die die kühle Haut der Anderen berührte, und ihre Schulter, auf der sie diese Hand spürte. Ihre dritte Schulter, mit ihrer eigenen Hand darauf.
Die Andere war gar kein Zwilling. Sie war nicht einmal jemand anders. Sie war Theresa. Als ihr das klar geworden war, erwachte auch der zweite Körper. Sie drehte das Gesicht zu ihr – zu sich – öffnete die Augen und richtete sich vorsichtig auf.
„Oh“, sagten beide Theresas.
Viele wären wahrscheinlich von der Aufgabe, zwei Körper mit nur einem Bewusstsein zu steuern, überfordert gewesen, aber für jemanden wie Theresa Lottmann war das kein großes Problem. Multitasking war ja geradezu eine Lebensphilosophie für sie. Und hatte sie sich nicht schon oft ausgemalt wie schön das wäre, sich verdoppeln zu können, um mit all den Belastungen des Alltags im Beruf und Privatleben besser fertig zu werden?
Natürlich konnten sie nicht beide ins Büro gehen, das hätte zu viele Fragen aufgeworfen und sie letzten Endes von der Arbeit abgehalten. Aber sie konnte ohne weiteres eine Zehn-Stunden-Schicht einlegen, um all den Kram abzuarbeiten, der in den letzten Wochen liegen geblieben war, und trotzdem endlich die Wohnung auf Vordermann bringen, sich etwas Neues zum Anziehen kaufen, und vielleicht abends für Lars kochen oder mit ihm ausgehen, um sich für gestern zu entschuldigen. Beide Theresas lächelten bei diesem Gedanken.
Sie duschten zusammen. Normalerweise war ihr so etwas recht unangenehm, aber vor sich selbst brauchte sie ja wohl keine falsche Scham zu haben. Es war eigentlich sogar sehr praktisch, sich gegenseitig den Rücken waschen zu können.
Erst beim Anziehen gab es ein kleines Problem – die Größe schien nicht mehr zu stimmen. Die Veränderung war nicht drastisch – der größte Unterschied zu ihrem alten Körper lag eher in der Dichte, glaubte sie. Die beiden neuen Körper waren leichter und weicher, und die Haut schien ein wenig durchscheinend – aber das war nichts was ein wenig Make-up nicht kaschieren konnte. Trotzdem schlackerte das Kostüm der Theresa, die ins Büro gehen wollte, eindeutig an ihr herum, als sei es mindestens zwei Nummern zu groß. Sie musste schließlich auf einige ihrer ältesten Klamotten zurückgreifen, die sie aus reiner Sentimentalität aufbewahrt hatte, weil sie die bei ihrem Uni-Abschluss getragen hatte – nicht weil sie geglaubt hätte, sie könnten jemals wieder passen.
Die andere Theresa zog sich einfach einen Jogginganzug über. Etwa eine Stunde verbrachte sie damit, im Internet nach einer Erklärung zu suchen, allerdings recht halbherzig. Nachdem sie – ohne sonderlich überrascht zu sein – festgestellt hatte, dass das, was ihr in der Nacht widerfahren war, ganz und gar unmöglich war, weil sich nur die simpelsten Lebensformen auf diese Art verdoppeln konnten, verbannte sie jeden Gedanken daran, in der Uniklinik oder sonst wo Rat zu suchen. Sie würde doch nur in der Psychiatrie oder einem Labor enden, und man würde sie von ihrer Arbeit abhalten. Nein, dieses kleine Wunder sollte ihr Geheimnis bleiben.
Es wurde ein reichlich seltsamer, aber dennoch ein guter Tag. Am Anfang war sie vielleicht ein wenig zu euphorisch, so dass sie fast ein wenig beschwipst wirkte, aber wie alle Herausforderungen, die sie anpackte, wurde auch diese Sache schnell zur Routine für sie. Ein paar Mal unterliefen ihr Fehler – als eine Kollegin der Theresa im Büro sagte, wie gut sie heute aussehe, sagte die Theresa, die gerade im einige Kilometer entfernten Supermarkt einkaufte, ohne erkennbaren Anlass „Vielen Dank“, und erntete einige irritierte Blicke, und ab und zu machte der eine Körper eine Bewegung, die der andere hätte tun sollen, aber im Großen und Ganzen lief es fantastisch.
Lars schöpfte keinerlei Verdacht, als Theresa am Abend mit einem neuen Kleid und einer aufrichtigen Entschuldigung bei ihm auftauchte. Es war zwar eigenartig, an einem Ende der Stadt mit ihm auszugehen, während sie am anderen Ende noch vor ihrem Computer saß, aber nur ein bisschen. Einzig die Vorstellung, mit ihm zu schlafen, erschien ihr dann doch nicht richtig, also verabschiedete sie sich schnell, als er fragte, ob sie noch mit zu ihm kommen wollte. Es hätte die Theresa, die noch im Büro saß, einfach zu sehr abgelenkt.
Und so waren sie am Abend allein zu Hause, und nach und nach kam es ihnen dann doch wieder so vor, als ob die Nachteile dieser Situation überwogen. Sie waren hundemüde, und das Bett war nur für eine Person gedacht – das heißt, für einen Körper. Sie lagen dicht nebeneinander, konnten sich kaum bewegen, und dachten beide den gleichen Gedanken. Es dauerte nicht lange, bis beide Körper sich heiß und klebrig an fühlten. Sie wussten, was das bedeutete. Sie dachten noch darüber nach, ob das Ganze sich nicht besser im Bad vollziehen sollte, denn das Bett würde unweigerlich von der gleichen schmierigen Substanz durchtränkt werden, die sie am Morgen auf dem Fußboden verteilt gefunden hatten. Aber da war es schon zu spät, ihre Muskeln waren zu aufgeweicht, um ihnen noch eine Fortbewegung zu erlauben.
Die Vereinigung war entweder weniger schmerzhaft als die Teilung, oder sie verloren schneller das Bewusstsein, jedenfalls konnte Theresa sich am Morgen nicht erinnern, dass es ähnlich unangenehm gewesen wäre.
Es war gut, den alten, normalen Körper, mit der richtigen Größe und der richtigen Dichte wiederzuhaben.
Das ganze Wochenende über schwor sie sich, dass sie das nie wieder tun würde. Ganz bestimmt war das nicht gesund, vielleicht sogar gefährlich. Sie erinnerte sich ganz genau an die Schmerzen und an ihre Todesangst. Außerdem konnte sie sich ja nicht andauernd eine neue Matratze kaufen. Sie glaubte, dass es kontrollierbar war, und wenn sie je wieder Anzeichen für dieses Phänomen bemerkte, würde sie alles unternehmen, um es nicht wieder geschehen zu lassen. Vielleicht konnte sie ihren Hausarzt ins Vertrauen ziehen, irgendein Medikament gab es doch bestimmt, das den Prozess hemmen konnte. Solche Gedanken machte sie sich die ganze Zeit über. Aber sie kaufte auch einen Bettbezug aus PVC und mehrere Kleidungsstücke, die ihr zwei Größen zu klein waren. Und eine Menge haltbarer Essensvorräte. Für alle Fälle.
So gewissenhaft und zuverlässig Theresa Lottmann im Arbeitsleben war, so schwer fiel es ihr im Privaten, von schlechten Angewohnheiten zu lassen. Sie hatte sich schon hundertmal vorgenommen, nicht mehr als drei Tassen Kaffee pro Tag zu trinken, oder endlich das Rauchen sein zu lassen. Mit dem Vorsatz, es bei einem einzelnen Körper zu belassen, war sie leider genauso erfolglos. Der Montag kam, und es gab dringende Termine, knappe Deadlines, zu viele Aufgaben … und Lars, der unbedingt diesen neuen französischen Film mit ihr sehen wollte.
Beim zweiten Mal war die Teilung viel weniger schmerzhaft. Angenehm gewiss nicht, aber sie hatte keine Angst mehr, dass sie sterben könnte. Theresa hatte keine Kinder, aber sie stellte sich vor, dass es bei einer zweiten Geburt auch leichter wurde, weil man dann schon wusste, was einen erwartete.
Das Problem lag dieses Mal woanders. Die Kontrolle – das, was ihr am Anfang als der leichtere Teil erschienen war, einfach instinktiv geklappt hatte – lief diesmal gar nicht gut. Sie wären beinahe in der Tür zum Bad stecken geblieben, weil der eine Körper dem anderen nicht rechtzeitig Platz machte. Und dann beim Anziehen nahmen sie sich ständig gegenseitig die Sachen aus der Hand.
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. Die andere Theresa – der andere Körper, korrigierte sie sich – wollte nicht zur Arbeit, sie wollte diejenige sein, die zuhause blieb und abends mit Lars ausgehen konnte.
Das ist doch egal, dachte sie. Wir sind doch dieselbe. Es macht keinen Unterschied.
Aber die andere Theresa blieb störrisch. Um nicht zu spät zu kommen, machte sie sich schließlich auf den Weg und überließ es dem zweiten Körper, Einkaufen zu gehen und zum Friseur.
Die Theresa im Büro war den ganzen Tag über unkonzentriert, und seltsam besorgt. Eigentlich wusste sie alles, was die andere tat, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr irgendetwas vorenthalten wurde. Als hätte die andere ein Geheimnis vor ihr.
Aber das BIN doch ich … dachte sie wieder und wieder. Das nagende Gefühl wollte trotzdem nicht verschwinden.
Außerdem spürte sie, dass die Teilung an die Substanz ging. Vielleicht hatte sie vorher nicht genug gegessen. Ihr Körper war schwächer und schien schneller zu ermüden als gewöhnlich. War es möglich … hatte die andere sich mehr als die Hälfte genommen? War sie am Morgen ein winziges Stück größer gewesen? Sie verdrängte diese Gedanken – teils, weil es lächerlich war, und teils, weil die andere doch alles wusste, alles mitbekam. Sie war doch immer noch Theresa.
Auf dem Heimweg von der Arbeit hätte sie beinahe einen Unfall gehabt. Die andere Theresa dachte gerade darüber nach, welche Unterwäsche sie am Abend tragen sollte, und die Hintergedanken dazu gefielen ihr ganz und gar nicht. Davon abgelenkt, trat sie unglücklich auf und knickte mit dem Fuß um. Der Schmerz war nicht so schlimm, wie sie erwartet hätte. Der Knöchel schien nicht einmal nennenswert anzuschwellen. Was sie viel mehr erschreckte, war dieses widerliche, elastische Gefühl, als würden ihre Knochen aus einer Art Gummi bestehen.
Sie musste diese Sache beenden, ein für alle Mal, und zwar heute noch.
Zuhause saß sie auf ihrem Bett und wartete. Sie sah den Film, den die andere Theresa zusammen mit Lars im Kino ansah, in ihrem Kopf. Sie dachte die Gedanken der anderen mit, und merkte ganz genau, wie die sich überlegte, hinterher mit in seine Wohnung zu fahren.
Wag das ja nicht, du Miststück, dachte sie. Es kam ihr nicht mehr absurd vor. Noch bestand das Band zwischen ihnen, noch hatte sie die Kontrolle, aber es war ganz eindeutig, dass die andere versuchte … ja, was? Sich abzunabeln. Eigenständig zu werden. Aber das könnte ihr so passen, die schönen Seiten von Theresas Leben zu übernehmen, und sie geschwächt und einsam zurückzulassen.
Es war nicht leicht. Zwar verabschiedete sich die andere Theresa vor dem Kino und machte sich auf den Heimweg, aber ihre Bewegungen waren steif und langsam. Sie wehrte sich bei jedem Schritt. Noch bevor der andere Körper zur Tür hereinkam, spürte sie, wie sie beide begannen, weich zu werden, sich langsam zu verflüssigen. Doch die andere kämpfte immer noch. Ihr ganzer Körper vibrierte, es war unmöglich, sie die Tür aufschließen zu lassen. Theresa musste ihr von innen die Tür öffnen, und die andere hineinzerren – schnell, bevor irgendjemand etwas mit bekam.
Die andere sah ihr direkt in die Augen. Theresa sah Hass und Verachtung darin, aber auch eine Bitte, die die andere nicht aussprechen konnte, weil Theresa es nicht zuließ.
Ihre Arme – alle vier Arme – schienen tonnenschwer zu sein. Sie schaffte es kaum noch, sich die Sachen auszuziehen, und die andere wehrte sich immer noch – selbst jetzt noch, wo ihre heißen, schwammigen, klebrigen Körper sich bereits berührten.
Sie spürte, dass die Vereinigung nicht gelingen würde, wenn jedes der beiden Gehirne ein eigenes Bewusstsein beherbergte. Noch waren sie fast identisch, mit den gleichen Erinnerungen, aber je länger sie von der anderen getrennt wäre, desto weiter würden sie sich auseinanderentwickeln. Ihr blieb nur eine Wahl.
Mit ihren tauben, klebrigen Fingern griff sie nach dem Briefbeschwerer von ihrem Schreibtisch, hob ihn hoch über den Kopf der anderen…
Beide Theresas spürten den Schmerz, beide verloren das Bewusstsein.
Es war besser so.
Da Theresa Lottmann von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit erschien, ohne sich krank zu melden, da sie auf keinen Anruf reagierte, und weder ihre Familie noch ihr Freund Angaben zu ihrem Verbleib machen konnten, dauerte es nicht sehr lange, bevor die Polizei ihre Wohnung aufbrach.
Was dort gefunden wurde, drang zum Glück nicht an die Öffentlichkeit – zum einen lag es wohl daran, dass eine Gasexplosion in einem anderen Stadtteil die Aufmerksamkeit der lokalen Medien beanspruchte, zum anderen aber daran, dass keiner der beteiligten Polizisten darüber reden wollte.
Die Leiche – oder die Leichen – waren ein Paar siamesischer Zwillinge, die auf groteske Weise miteinander verwachsen waren. Sie hatten zwei Köpfe und zwei normal wirkende Arme – aber mitten aus ihrem Körper ragten weitere, verkümmerte Extremitäten, die in den unmöglichsten Winkeln abstanden. Obwohl der Gerichtsmediziner der Meinung war, dass sie noch nicht sehr lange tot sein konnten, schien der Verwesungsprozess erstaunlich weit fortgeschritten. Der gesamte Körper war weich, gallertartig, und von einer schmierigen rosafarbenen Substanz bedeckt, deren Ursprung und Beschaffenheit nie geklärt werden konnte. Mit der rechten voll entwickelten Hand hielt die Leiche einen Gegenstand umklammert, der nach einiger Zeit als Briefbeschwerer identifiziert wurde.
Theresa Lottmann wurde als vermisst gemeldet. Die Angaben von Zeugen über die letzten Tage vor ihrem Verschwinden waren ausgesprochen widersprüchlich, so dass es schier unmöglich war zu rekonstruieren, wo sie sich zu bestimmten Zeiten aufgehalten und mit wem sie gesprochen hatte.
Die Ermittler taten ihr Bestes, um in dem seltsamen Fall weiterzukommen, aber es gab nie nennenswerte Fortschritte, und im Laufe der Zeit geriet er mehr und mehr in Vergessenheit. Es war ja nicht einmal erwiesen, ob ein Verbrechen vorlag, und es gab immer neue Fälle. Die Beamten konnten sich ja schließlich nicht teilen.