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Die doppelte Berufung
"...und dann, als ich die Wunde des verunglückten Motorradfahrers verarztete, erklärte ich ihm in aller Ruhe die Vorrangregeln. Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass ich zum Fahrschullehrer geboren wurde." Diese Story hätte Peter H. inklusive theatralischer Betonung mittlerweile schon im Schlaf erzählen können. Warum er sie erzählte? Nun, es war Donnerstag, der 23.11.2003, 19 Uhr. Er unterrichtete gerade seine Fahrschüler im Modul 7, der Vorrangregelkunde.
Genau zwischen der Stop-Tafel und dem Vorrangstraßensymbol baute er jedesmal seit 4 Jahren seine heroische Tat ein. Und dann, nachdem sich die erste Flut von naiven Bewunderungsblicken junger, pickelgesichtiger 18jähriger gelegt hatte, lehnte er sich immer in gewohnter Lässigkeit auf seinem Stuhl zurück, zog die rechte Augenbraue hoch und sprach: "Jaja, die Straße lebt, es ist ein Dschungel. Und man muss verdammt gut sein, um dort durchzukommen."
Nach dieser Selbstbewusstseinsinjektion konnte er wieder getrost mit dem Unterricht fortfahren. Zumindest solange bis die Uhr im "Klassenzimmer" 21:00 Uhr anzeigte, denn dann war sein Arbeitstag zu Ende. Er nahm gelassen und cool seine braune Lederjacke vom Kleiderständer, verabschiedete sich noch von seinen Schülern und tänzelte förmlich zum Ausgang der Fahrschule. In seinem Fahrzeug sitzend streichelte er liebevoll sein Lenkrad, kurz bevor er nach Hause fuhr.
Tags darauf hielt Peter H. keinen Unterricht. Keiner der 21 Fahrschüler die sich an diesem Tag zur gewohnten Uhrzeit im Präsentationsraum einfanden, erhielt Unterricht in der Bremsweglehre. Keiner von ihnen konnte deshalb in derselben Woche zur theoretischen Führerscheinprüfung antreten. Als man sich deshalb bei der Sekretärin bezüglich der Abwesenheit Peters erkundigte, brachte man in Erfahrung, dass er sein Kündigungsschreiben bereits um 7:00 morgens per Fax geschickt hat.
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"Welches Datum haben wir denn heute? Den 8. oder gar den 9. Jänner? fragte der etwas konfuse Zivildiener seinen Vorgesetzten.
"Mensch, Frank. Was soll nur aus dir werden, wenn du nicht mal das aktuelle Datum weißt. Den 9. Jänner 2008. Zufrieden jetzt?" schnaufte er in seine Richtung.
"Ich will dir mal was sagen. Du musst schon wissen was du im Leben erreichen willst, eben immer einen klaren Kopf behalten, verstehste?" setzte er noch eins drauf und legte damit den Grundstein für eine endlos scheinende Moralpredigt, in der er es bestens verstand, sich selbst als leuchtendes Vorbild zu präsentieren.
Es erschien Frank, dem Zivildiener wie ein Wunder als der vor ihm stehende akustische Wasserfall seine letzte Story mit diesen theatralisch in Szene gesetzten Worten beendete: "...und dann, als ich die Wunde des verunglückten Motorradfahrers verarztete, erklärte ich ihm in aller Ruhe die Vorrangregeln. Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass ich zum Sanitäter geboren wurde."