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Die diebische Elster
Der Wecker klingelte laut im Schlafsaal der Kleinbuchstaben. Schichtwechsel. Die arbeitenden Kollegen mussten abgelöst werden.
Hier und da raschelte das Bettzeug und die ersten Buchstaben waren schon so wach, dass sie sich bereits ihre Traumgeschichten erzählten. Nach und nach verschwanden die Kleinen im Waschraum.
Nur das kleine ü hatte keine Lust aufzustehen. Es zog sich die Bettdecke über den Kopf und versuchte weiterzuschlafen. Doch es fand keine Ruhe mehr. Da streckte es sich, gähnte herzhaft und steckte ein Bein nach dem anderen aus dem Bett.
„Brr, ist das kalt“, bibberte es noch ganz schlaftrunken. Aber es half alles nichts, Klein-ü musste aufstehen. Die Augen noch halb geschlossen, tapste es auf nackten Füßen in den Waschraum, der inzwischen frei war. Alle anderen Buchstaben saßen wahrscheinlich schon beim Frühstück.
Ü ging zu einem der Waschbecken, nahm sein Zahnputzzeug und begann sich die Zähne zu putzen. Erst die Kauflächen, dann die Außenflächen und dann innen. Endlich spülte es aus und stellte Becher und Bürste wieder auf das Sideboard zurück. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel, der über dem Becken hing.
„Oh mein Gott!“, schrie es auf. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Ungläubig rieb es sich die Augen und schaute noch mal sein Spiegelbild an.
Aber es hatte sich nichts geändert. Ihm blickte ein verstümmeltes ü entgegen. Über Nacht war der eine ü-Punkt verschwunden.
„Du liebe Güte!“, rief ü entsetzt. „So kann ich doch nicht zum Frühstücken gehen. Was werden die anderen Buchstaben sagen?“
Aber hier im Badezimmer konnte es auch nicht ewig bleiben. So nahm es allen Mut zusammen und trottete mit hängendem Kopf in den Speisesaal. Dort herrschte ein lautes Tohuwabohu und Klein-ü konnte zunächst ungesehen an seinen Platz gelangen. Doch kaum hatte es sich auf den Stuhl gesetzt und nach einem der letzten Brötchen gegriffen, als sein Nachbar laut loslachte.
„Was ist denn mit dir passiert?“, prustete f los. „Wo hast du denn deinen zweiten Punkt gelassen? Oder ist das jetzt die neue Mode, nur mit einem Pünktchen durch die Gegend zu laufen?“
Da war es nun passiert, was ü verhindern wollte. Alle im Saal schauten zu ihm herüber und lachten lauthals.
„Ich weiß auch nicht“, verteidigte sich Klein-ü. „Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war der eine Punkt verschwunden.“
„Hast du schon mal in deinem Bett nachgeschaut?“, fragte ö, das sich seinem Buchstabenfreund genähert hatte.
„Nein, da habe ich überhaupt nicht dran gedacht“, gab ü zur Antwort und marschierte geradewegs in den Schlafsaal zurück, verfolgt von ä und ö.
Bei seinem Bett angekommen, schüttelte es die Kissen und Decken auf, schaute unter die Schlafstätte, aber nirgends war ein Pünktchen zu finden.
„Weißt du was“, schlug m vor, das inzwischen in den Schlafraum gekommen war. „Leih dir einfach einen Punkt vom ö oder vom ä. Die sind doch nur sehr selten in einem Wort enthalten.“ Und schwupps klaute es dem verdutzten ö einen Punkt und setzte ihn ü-Pünktchen auf den Kopf. „So, jetzt bist du wieder komplett.“
Ö fasste sich auf seinen Kopf und konnte nur noch einen Punkt ertasten. „Das ist gemein, mir einfach einen Punkt zu klauen.“ Trotzig zog es die Unterlippe vor.
„Wenn ihr flink seid, dann fällt es überhaupt nicht auf, dass einem von euch ein Tupfen fehlt. Denn habt ihr schon mal ein Wort gesehen, in dem ihr beide vorkommt?“
„Im Notfall bin ich ja auch noch da“, meldete sich ä zu Wort. „Ich kann auch mal aushelfen.“
Kaum hatte ä seinen Satz beendet, da machte es schwuppdiwupp und ö hatte sich einen seiner Punkte geholt.
„Äh, ja. So habe ich das nicht meint. Jetzt brauchen wir doch alle unsere Punkte nicht, erst wenn wir zur Arbeit gehen. Also gib mir gefälligst mein Tüpfelchen wieder zurück.“ Ä war sauer und schnappte nach dem kleinen ö, das sich flink hinter dem ü versteckt hatte.
Im Nu war eine riesige Balgerei unter den Kleinbuchstaben entstanden, die so weit ging, dass am Ende alle Pünktchen durcheinander flogen und kein ä, ö oder ü mehr existierte. Völlig außer Puste setzten sich die Buchstaben auf das Bett und a, o und u sammelten die Tupfen wieder ein, setzten sie auf und wurden wieder zu ä, ö und zu einem halben ü.
Plötzlich kam ö ein grausamer Gedanke.
„Warum lachen wir das ü eigentlich aus. Was ist, wenn es sich um eine Krankheit handelt? Und noch schlimmer, wenn diese Krankheit ansteckend ist, wie Windpocken, Röteln oder Masern?“
„Aber da ist es doch umgekehrt“, widerspricht ä. „Da bekommt man doch mehr Punkte im Gesicht und es verschwinden keine.“
„Wir sollten den Fall nicht auf die leichte Schulter nehmen“, bestimmte m, das die Vermutung gehört hatte. „Ich würde vorschlagen, dass ü erst einmal zum Arzt geht und sich untersuchen lässt. Dann wissen wir genau, ob es sich um eine ansteckende oder eine harmlose Krankheit handelt.“
„Wenn es sich um die Pünktchen-Verlust-Krankheit handelt, dann kann sie uns vielleicht auch befallen?“ Zaghaft stellte ö diese Frage und entfernte sich zusammen mit ä von seinem Buchstabenfreund ü.
„Wir brauchen gar nicht so viel herumreden“, befahl m. „Klein-ü muss zum Arzt. Da hilft alles nichts.“
In diesem Moment betrat das ü von der Nachtschicht den Raum und gähnte herzhaft. „Ach, was freue ich mich jetzt auf mein weiches gemütliches Bettchen.“
„Daraus wird nichts. Du musst noch eine Schicht übernehmen“, befahl m. „Die Tagschicht hat einen Punkt verloren und wir wissen nicht, ob es eine Krankheit ist, die eventuell alle Buchstaben mit Punkten befallen kann.“
„Ach du meine Güte, auch das noch! Wo ich so müde bin heute. Es war eine anstrengende Nacht. Aber frühstücken kann ich doch erst noch, oder?“
M willigte ein und brachte ihm sogar noch einen extrastarken Kaffee, damit es wieder munter werden sollte.
Inzwischen hatte sich Klein-ü aus dem Saal geschlichen. Der Appetit war ihm vergangen und so wollte es den Arztbesuch schnell hinter sich bringen. Vor ihm saßen schon das w und auch das e im Wartezimmer des Arztes.
„Wow, wo ist denn dein zweiter Punkt geblieben?“, fragte e erstaunt.
„Ich weiß es nicht. Als ich heute früh in den Spiegel gesehen habe, war es weg“, antwortete ü. „Nun muss ich den Doktor fragen, ob es eine ansteckende Krankheit ist.“
Nach einer Stunde, in der w und e von ihren Erschöpfungsbeschwerden erzählten, da sie tagtäglich im Stress arbeiten mussten, kam Klein-ü endlich ins Sprechzimmer des Arztes. Dieser untersuchte den kleinen Buchstaben gründlich.
„Tut mir Leid“, sagte er schließlich. „Ich bin ratlos. So einen Fall hatte ich in meiner ganzen Praxiszeit noch nicht. Ratsam wäre es, wenn du ein bis zwei Tage im Bett verbringst. Vielleicht wächst dir der zweite Punkt wieder nach, wenn du Ruhe hast.“
Er gab ü ein kleines Fläschchen mit Tropfen mit, die eine beruhigende Wirkung hatten.
Enttäuscht verließ Klein-ü die Praxis und trottete ins Heim der Buchstaben zurück. Dort war es inzwischen ruhig geworden. Die Tagschicht hatte mit der Arbeit begonnen, während die anderen in ihren Betten schlummerten. Langsam zog sich ü den Schlafanzug über und schlüpfte unter die Decke. Aber der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Da fiel ihm das Fläschchen mit der Medizin ein.
Gerade als es danach greifen wollte, öffnete sich die Tür und ein kleiner Buchstabe schlich sich in das Zimmer. Erstaunt schaute ü auf, als er sich neben sein Bett stellte. Im Lichtschein, der durch die offene Tür fiel, konnte ü Klein-i erkennen.
„Was machst du denn hier? Solltest du nicht bei der Arbeit sein?“, fragte ü.
„Ja, eigentlich schon. Aber es hat mir einfach keine Ruhe gelassen. Wie war es beim Arzt?“
„Der Doktor konnte nichts finden. Ich bin kerngesund, bis auf den fehlenden Punkt. Er hat mir zwei Tage Bettruhe verordnet und diese Tropfen auf dem Tischchen.“
„Du brauchst nicht im Bett zu bleiben und Medizin einnehmen musst du schon gar nicht“, entgegnete i.
„Ja sag mal, woher willst du das wissen? Hast du etwa heimlich Medizin studiert?“ Ü sah seinen Buchstabenfreund skeptisch an.
Dieser schüttelte den Kopf und schaute verlegen auf seinen Fuß.
„Du weißt doch etwas, Klein-i? Was verheimlichst du mir?“
„Ähm, ja“, druckste i herum. „Du kannst dich doch erinnern, dass wir kleinen i in letzter Zeit öfters unser Äußeres verändert haben.“
„Ja natürlich.“ Ü schmunzelte leicht. „Das sah sehr lustig aus, als ihr eure langweiligen Punkte gegen Herzchen, Frühlingsblumen oder Clownsgesichter ausgetauscht habt. Aber was hat das mit meiner Krankheit zu tun?“
„Na ja, wir haben am Schluss in unserem Kleiderschrank soviel Durcheinander gehabt, dass ich mein Pünktchen nicht mehr gefunden habe, als wir wieder unsere alten i-Punkte gebraucht haben.“
„Und da hast du gedacht: ‚Das ü hat ja zwei davon, da kann ich mir mal einen stibitzen’, oder wie?“ Wütend funkelte Klein-ü das ganz verstört wirkende i an.
„Ja“, gab dieses zu. „Als du heute Morgen noch so fest geschlafen hast, da kam mir diese Idee. Einfach so. Und im nächsten Moment hatte ich mir deinen Punkt geklaut und mir auf den Kopf gesetzt. Bist du mir deshalb sehr böse?“ I schaute den anderen Buchstaben treuherzig an.
„Wenn du mich so mit deinen blauen Augen anschaust? Aber eine kleine Strafe muss trotzdem sein."
"Und das wäre?" Ängstlich sah i auf.
"Na ja, ich würde sagen, du vertrittst für eine Woche das Ausrufezeichen. Was meinst du?"
"Aber da muss ich ja sieben Tage lang Kopfstand machen?", rief i erschrocken.
Klein-ü grinste schelmisch.
„Das nächste Mal fragst du halt und bestiehlst mich nicht einfach. So, und jetzt suchen wir gemeinsam in deinem Schrank nach dem verlorenen Punkt, denn irgendwo muss er sich ja versteckt haben.“
Gemeinsam durchwühlten sie den gesamten Innenraum des Schrankes, bis ü in der hintersten Ecke den kleinen Punkt entdeckte, der sich in einer winzigen Ritze verkrabbelt hatte.
Schnell gab i den ü-Punkt zurück, setzte sich den eigenen Tupfen auf den Kopf und gemeinsam gingen sie zur Arbeit.
Im Versammlungsraum der Buchstaben empfing sie ein großes Hallo, als ü wieder beide Punkte auf dem Kopf sitzen hatte. Und sein Kollege von der Nachtschicht konnte sich nun endlich in sein weiches warmes Bett verkriechen.