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Die Dichterlesung
Die Dichterlesung
Eine Bekannte schleppte mich gestern zu einer Dichterlesung von diesem, ja, wie hieß er noch – ja also äh – Marcel Dumot oder so ähnlich. Eigentlich wollte ich anfänglich nicht, aber die Bekannte ist sehr nett – na ja, und was tut man nicht alles für die Frauen... Erst war ich ja sehr skeptisch , denn wenn mir jemand was vorliest – ich kann selbst lesen, müssen Sie wissen.
Wir nahmen in dem kleinen Saal Platz. Vor den Stuhlreihen stand ein kleines Podium, darauf ein Stuhl und ein kleiner eckiger Tisch. Nach ungefähr drei Minuten wurde das Saallicht gedämpft, ein großer, hagerer Mann ging auf das Podium zu und setzte sich an den Tisch.
"Das ist er!" flüsterte mir meine Bekannte ehrfürchtig zu.
"Wer?"
"Ja da vorne, der Dichter, Marcel Dumot."
"Ach so. Sag mal", fragte ich, "ist das ein Franzose?"
"Nee – er ist eigentlich Sachse – Dumot ist nur sein Künstlername."
"Aha".
Der Mann auf dem Podest begann feierlich mit unüberhörbarem sächsischem Akzent zu sprechen: "Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu meiner Lesung und beginne mit dem Gedicht >Der Frühling – kommt und läßt mich wieder leben<."
"Eines seiner schönsten Werke", flüsterte meine Bekannte entzückt.
"Dieses Gedicht entstammt dem Zyklus >Im Wandel der Zeiten< fuhr der Dichter fort. "Es entstand vor zwei Jahren, als mich meine Frau verlassen hatte, ich seelisch und körperlich am Boden war und gerade damit begann, bedingt durch den Frühling neue Hoffnung und Kraft zu schöpfen."
"Mein Gott – der arme Mann!" seufzte meine Bekannte.
"Der soll doch froh sein, dass er sie los ist, jetzt hat er endlich seine Ruhe", entgegnete ich leise. Meine Begleiterin sah mich strafend an. "Du bist so, so – unsensibel. Ja, genau – unsensibel bist du!"
"Der Frühling – kommt und läßt mich wieder leben", las der Dichter vor. Theatralisch fuhr er fort:
"Geliebter Frühling, du!
Vertreibst die Kälte des Winters,
Die Dunkelheit der Kälte
Und gibst mir neue Kraft!"
Meine Bekannte saß mit leuchtenden Augen neben mir und starrte den Mann auf dem Podium an. "Ist seine Lyrik nicht herrlich!?", fragte sie und zupfte mich dabei am Arm.
"Das ist doch kein Gedicht – das reimt sich doch überhaupt nicht!" zischte ich.
"Aber die Aussage dieser Worte ist gewaltig!", zischte meine Bekannte zurück
Ich schwieg. Der Dichter las weiter:
"Frühling – ach, ich liebe dich,
wenn der gelbe Löwenzahn
und auch die Anemonen
aus dem Grund der Wiesen blühn."
Meine Bekannte lächelte verzückt. Ich schüttelte den Kopf. In mir verstärkte sich immer mehr der Eindruck, ich sei im falschen Film...
Der Mann vorne am Podium las weiter:
"Die Schmetterlinge hüpfen auf und ab,
immer immer wieder,
und die Vögel singen froh,
ihre frohen Lieder..."
"Ich glaube eher, der spinnt", flüsterte ich meiner Bekannten zu. "Seit wann hüpfen Schmetterlinge?"
"Das ist doch symbolisch gemeint!"
"Was?"
"Im übertragenen Sinne".
"Schmetterlinge flattern normalerweise – aber wenigstens reimt es sich jetzt einigermaßen", meinte ich lakonisch.
"Du verstehst einfach nichts von Kunst", raunzte mich meine Bekannte an. "Du bist ein Kulturbanause!".
Ich schwieg abermals. Der Mann las weiter:
"Die weißen Wolken ziehen
am blauen Himmel –
Und mir zu Füßen,
der Ameisen Gewimmel."
"Ich glaube, der ist beim Dichten in einen Ameisenhaufen getreten", meinte ich und grinste.
"Du begreifst überhaupt nichts, aber schon gar nichts", schimpfte meine Bekannte nun etwas lauter. "Der Dichter will damit den Zusammenhang zwischen der grenzenlosen Weite seiner Gedanken und seiner Bodenständigkeit symbolisieren – sozusagen einen Bezug zwischen Himmel und Erde schaffen..."
"Aber muss er dazu ausgerechnet in einem Ameisenhaufen stehen?" fragte ich sie. Meine Bekannte stand abrupt auf. "Wir gehen! – Du bist einfach nicht reif genug für solch ein sensibles Werk – und jetzt hast Du mir den Abend gründlich verdorben. Ich möchte nach Hause!"
"Entschuldige, aber ich meine, es ist doch so...." stammelte ich.
"Wir gehen!" befahl sie barsch.
Wir standen auf und verließen den Saal. Meine Bekannte verabschiedete sich nicht gerade herzlich von mir – na ja.
Aber eine Frage: Kennen SIE den Dichter Marcel Dumot?