Die Diagnose
Er vermag nicht die Angst in seinen Augen zu verbergen, als ich mich von meinen Papieren abwende, meine Brille zurechtrücke und seinen Blick erwidere. Ich warte noch eine Sekunde, dann konfrontiere ich ihn mit der ganzen Härte meiner Diagnose.
"Es tut mir aufrichtig leid, aber ich muss ihnen mitteilen, dass ich nicht imstande bin, ihr Leben zu retten."
Auf meine Worte hin zuckt er in seinem Stuhl zusammen. Die Angst ist immer noch da, diesmal gepaart mit Unverständnis, als begreife er noch nicht ganz, was ich ihm soeben offenbart habe. Er versucht zu sprechen, doch mehr als ein gedämpftes, unverständliches Gebrabbel, das immer wieder von Husten unterbrochen wird, bekommt er nicht heraus.
Ich hasse diesen Teil meiner Arbeit, wirklich, aber einer muss es eben tun.
"Sie werden es mir jetzt noch nicht glauben, aber es ist so. In diesem Stadium kommt jede Hilfe zu spät. Vermutlich bereuen sie jetzt im Moment, dass sie zu mir gekommen sind. Aber das müssen sie nicht. Seien sie froh, denn wenn es unentdeckt geblieben wäre, hätten sie womöglich noch andere mit in den Tod gerissen."
Meinen tröstenden Worten zum Trotz beginnt er zu weinen. Immer heftiger wirft er sich auf dem Stuhl hin und her. Ich fühle mit ihm. Es ist furchtbar, keine Frage.
Von seinem heftigen Schluchzen begleitet stehe ich auf, umrunde den Tisch und lege meine Hand auf seine schweißnasse Stirn. Er wehrt sich gegen die trostspendende Geste, als wäre es meine Hand, die ihm den Tod bringen würde. Doch ich lasse nicht ab und drücke seinen Kopf, seinen armen, verwirrten Kopf, sanft gegen meine Brust.
"Es ist gut."
Jetzt hält er still und versucht regelmäßig Luft zu holen. Noch immer bringt er kein klares Wort heraus. Noch immer laufen Tränen und Rotz über sein Gesicht.
"Die meisten Menschen denken, sie wären sicher, und so etwas könnte ihnen nie passieren. Aber das ist eine Illusion. Keiner von uns ist davor geschützt. Und nur wer es frühzeitig erkennt und mit aller Kraft dagegen ankämpft, hat eine Chance es zu überleben."
Ich greife in meine Tasche und werde so dazu gezwungen, den Körperkontakt aufzugeben. Erneut versucht er, sich loszureißen. Doch er ist zu schwach. Nur ein letztes, verzweifeltes und hoffnungsloses Aufbäumen, so traurig mit anzusehen.
"Wissen sie, es beeinflusst nicht nur ihren Körper."
Meine freie Hand wandert erst zu seiner Magengegend und von dort aus abermals an seine Stirn.
"Es hat schon damit begonnen, auch hier die Kontrolle zu übernehmen."
Doch seine Augen folgen der anderen Hand, oder vielleicht auch dem, was ich aus der Tasche geholt habe. Irgendwie wundert es mich schon, dass ihn das mit soviel Schrecken erfüllt. Aber die meisten Leute vertrauen ihrem Arzt eben nicht.
"Auch hier. Und schließlich glauben sie, dass sie nicht krank sind, obwohl es schon längst in ihnen wächst, ihr Handeln beeinflusst, langsam ihren Körper vergiftet und damit beginnt, auch auf ihre Lieben überzugreifen. Und sie sind nicht der Einzige. Bei Gott, ich wünschte sie wären es."
Noch immer folgen diese verstörten, tränenverquollenen Augen nur meiner rechten Hand.
"Aber selbst in dem Fall hätte ich keine andere Wahl. Und glauben sie mir, auch einem Arzt tut es weh, wenn er nicht retten, sondern nur den Schaden begrenzen kann."
Als ich ihn umrunde löst sich der Knebel, und seine Worte treten zum ersten Mal klar hervor.
"Aber ich sage ihnen doch, ich bin nicht krank, was reden sie da? Sie sind doch gar kein Arzt, lassen sie mich bitte gehen, ich gebe ihnen alles was sie wollen!"
Ich kenne das. Im einen Moment zweifeln sie an dir, im nächsten flehen sie dich an, als wärst du für ihre Lage verantwortlich. Aber ich kann ihm nicht helfen, und so bleibt mir nur eine Handlungsmöglichkeit.
"Ich will nur eines von ihnen: das sie begreifen, dass ich hier etwas Gutes tue, das ich helfe so gut ich nur kann. Nicht nur ihnen, sondern der ganzen Menschheit. Und glauben sie mir, wenn ich sie gehen lassen könnte, würde ich es tun. Aber sie sind ein Überträger, und ich habe auch den Anderen Gegenüber eine Verantwortung. Es tut mir leid."
Seine Stimme geht in ein Glucksen über und verstummt dann ganz. Noch einmal, zweimal bäumt er sich auf, dann er hält er still. Sein Blut strömt über das Skalpell und die Fesseln, die ihn am Stuhl gehalten haben, tropft auf den Boden und spritzt sogar bis auf meine Tasche. Trotzdem ein sauberer Schnitt. Schließlich bin ich Mediziner, kein Unmensch.
Der arme Kerl. Er muss geahnt haben, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Warum hätte er sonst an meiner Tür klingeln und sich in so offensichtlich krankhafter Weise als Briefträger ausgeben sollen? Im Grunde wollte er wohl erlöst werden.
Die halbe Welt ist krank, und nur ich kann verhindern, dass es sich weiter ausbreitet. Wenn ich sie doch alle retten könnte, wenn doch solche Maßnahmen überflüssig währen!
Der Mann aus der Wohnung gegenüber hat sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten. Ich sollte ihn von der Dringlichkeit einer Untersuchung überzeugen.
[ 06.05.2002, 23:28: Beitrag editiert von: yann ]