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Die Dame mit den roten Augen
Es war gestern Nacht. Keine Wolken bedeckten das Himmelszelt, dessen Sterne mit dem Mond um die Wette schienen. Es war spät, deshalb war ich bereits in einen tiefen Schlaf versunken. Anfangs musste ich geträumt haben. Ich fand mich in meiner Kammer wieder, auf meinem Lager genauer gesagt. Und wie ich dort lag, da hörte ich durch die namenlose Stille, die mich wie das Schwarz der Nacht eingehüllt hatte, wie die Türe zu meiner Wohnung aufgerissen wurde. Ich erschrak heftig. Sogleich hörte ich polternde Schritte die Treppe hinaufkommen. Was auch immer sie geöffnet hatte, musste die Eingangspforte geöffnet gelassen haben, dann mit einem Mal pfiff ein starker Windeshauch durch die nicht ganz verschlossene Türe in mein Gemach und schlug diese vollends auf. Die Dunkelheit, die den Gang vor meinem Zimmer in Beschlag genommen hatte, schien regelrecht hereinzukriechen und mein Umfeld in ein noch tieferes Schwarz zu tauchen. Indes war wieder Ruhe eingekehrt, der schwere Gang auf der Treppe war zum Erliegen gekommen.
Einige Zeit lag ich wie erstarrt auf meinem Lager. Als sich in mir allmählich die Erleichterung breit machte, ergriff mich ein weiterer Schauer. Aus dem Flur hörte ich ein Keuchen und Schnauben, leise erst, aber mit jeder Sekunde lauter werdend, was ich mir nur dadurch zu erklären wusste, dass dessen Urheber sich mir nähern musste. Und mit einem Male erhielt die Dunkelheit einen Dämpfer, ein kaum erfassbares, rotes Schimmern durchschnitt die sonst grenzenlose Schwärze.
Plötzlich vernahm ich ein Geräusch, das sich anhörte, als fiele etwas auf die hölzernen Dielen, und dann wieder und was immer es gewesen sein mochte, war in mein Gemach gerollt. Es strahlte einen solchen roten Schein aus, wie ich ihn zuvor aus dem Gang wahrgenommen hatte. Indes war das lautstarke Atmen auf aus dem Flur verstummt.
Mit einem Mal hatte mich die Neugier gepackt, wie eine Maschine, die stets einem nicht selbst gewählten Auftrag Folge leisten muss, setzte ich mich auf, ehe ich das Bett verließ. Mit wenigen Schritten hatte ich das schimmernde Ding erreicht.
Aus gutem Grund vermied ich es, mich in den Türrahmen zu begeben, ich verharrte so daneben, dass die Wand mich vor dem Flur abschirmte. Langsam und voller Behutsamkeit langte ich nach dem unförmigen etwas, das da auf dem kalten Boden lag. Mit jedem Blick, den ich darauf warf, schien es mehr wie eine Art Edelstein. Meine Fingerspitze hätte das Etwas just berühren müssen, als plötzlich, zu meinem größten Entsetzen, ein unbeschreibliches Ding aus dem Gang vor meinem Zimmer hervorbrach und schnurstracks zum Fenster rauschte, welches klirrend splitterte. Mit einem Herzrasen, das ich so vorher noch nie an mir beobachtet hatte, fuhr ich aus dem Schlafe hoch und fand mich auf meinem Lager wieder.
Allmählich setzte ich mich auf. Noch nie in meinem Leben war ich so zusammengefahren, wie in dem Moment, als ich mich umsah und das Fenster in dutzenden Scherben liegen sah. Mit einem Satz war ich auf den Beinen, schnell in meine Pantoffeln schlüpfend entschwand ich meinem Haus, ich fühlte mich eingeengt darin, als langte die Dunkelheit mit tausenden Tentakeln nach mir, und auf dem Weg die Stiege hinab fürchtete ich ständig, ein schwaches rotes Leuchten zu vernehmen. Endlich war ich an der Türe angelangt, zu meiner Beruhigung war sie verschlossen und zeigte keine Anzeichen eines plötzlichen Aufreißens.
Die Nacht, in die ich also hinaus wandelte, war angenehm kühl, und selten hatte ich so klar die Sterne sehen können. Ich erinnerte mich, wie mein Vater mir im Knabenalter allzu oft die Sternenbilder erklärte und in der Tat erkannte ich einige wieder. Nachdem ich einige Gassen und Seitenstraßen durchquert, erreichte ich die wohl beleuchtete Hauptstraße. Ich folgte ihrem Pflaster für einige Minuten, bis ich entschied, in eine der anliegenden Gassen zu entschwinden.
Ich gelangte so nach einiger Zeit an eine Pforte, die als Eingang zu einer Gartenanlage zu fungieren schien. Kein Schloss versagte mir den Eintritt, das Tor ließ sich einfach öffnen. Vor mir lag nun ein dünner Pfad, der links und rechts von jungen Eichen umschlossen ward, zwischen denen herrliche Blumen blühten, ich bin zwar kein sonderlich bewanderter Fachmann der Botanik, aber wohl erkannte ich Sonnenblumen und einige Stiefmütterchen unter ihnen. Mich an dem Anblicke labend folgte ich dem schmalen Weg. Bald darauf gelangte ich an eine Gabelung. Ich entschied mich für den linken Weg, über dem der Polarstern stand.
Ich schritt also weiter hinein in den himmlisch schönen Garten, und der Gedanke, wie herrlich es hier doch aussehen müsste, wenn die Sonne ihre güld’nen Strahlen gen der Erde schickt, faszinierte mich nur umso mehr von diesem Ort. Es müssen einige weitere Minuten vergangen sein, da vernahm ich auf einmal ein Geräusch, das ich behänd’ als Gesang zu identifizieren vermochte. Ich folge dem Klang und erreichte also einen von Hecken umrandeten Springbrunnen, auf dem, mir den Rücken zugewandt, eine Dame seitlich wie auf einem Pferderücken saß. In ihrer Hand bewegte sie sachte eine hübsche rote Blume, die sie bald von links, bald von rechts beäugte. Das Licht der Sterne spiegelte sich auf eine unbeschreiblich wundersame Art in dem Nass des Wasserspiels, sodass das Fräulein da auf dessen Kante gut zu sehen war. Das Weiß ihres Kleides ging nahtlos in das des Marmors über, aus dem das Becken gefertigt ward. Ihr braunes Haar überzog ihren Rücken in dutzenden Strähnen. Sie schien mich, zu meiner Freude, nicht bemerkt zu haben, und sie sang unbehelligt fort.
Nacht um Nacht betracht’ ich dich,
Rote Blume in meiner Hand,
Die ich in meinem Strauße fand.
Nacht um Nacht erheb’ ich mich,
Sitze in des Mondes Licht,
Bis der Feuerball im Himmel,
Ruft zu neuem Tag’sgewimmel.
Zurück ins hölzerne Gebild’
Muss dann das arme Weibesbild,
Wo’s dann einsam unterm Grund,
Harrt zum nächsten Tagesschwund.
Ach! wie wird das Herz mir schwer,
Wenn nur nicht allein ich wär’,
Doch was seh’ ich dort im Busch,
Lauscht da nicht ein kecker Bursch’?
So verharrten wir beide, sie kerzengerade und geradeaus starrend und ich wie angewurzelt das Ganze beobachtend. Dann, mit einem Male, begann sich ihre Atmung zu verändern. Hatte sie zuvor noch gleichmäßig und in meiner Entfernung lautlos ihre Lungen gefüllt, schwoll nun das Geräusch an, das sie dabei ausstieß. Immer unregelmäßiger und flacher wurde es und fortlaufend schien es ihr schwerer zu fallen, sie begann zu keuchen und zu schnauben. Für einen Moment erwog ich, ihr zu Hilfe zu eilen, sie schien eine Art Anfall zu haben, doch wenig später hatte etwas völlig anderes meine Gedanken in Beschlag genommen. Ihr Atmen erkannte ich als das, welches ich in meinem Traume aus dem Flur vernommen hatte, es war eine unbestreitbare Übereinstimmung.
Und da geschah das, was ich mein Leben lang nie vergessen kann. Ihre Beine schienen zu versagen, sie stürzte zu Boden und landete auf dem Bauch. Geschwind hatte sie sich so gedreht, dass ihr Gesicht mir zugewandt war. Einen solchen Schrecken hatte ich noch nie erfahren. Sie war furchtbar anzusehen, ihre Wangen, bleich wie das Marmorgestein, waren eingefallen, ihre Wangenknochen indes deutlich sichtbar. Ihr linker Nasenflügel wies Löcher auf – gar so, als hätte eine Schar Würmer sich daran zu schaffen gemacht. Die Lippen waren fahl und dünn, zudem nicht völlig geschlossen, dazwischen und sogar darin konnte ich deutlich weiße Punkte sehen, es mussten Maden gewesen sein, ihre Zähne waren nämlich von einem dunklen gelb, wenn nicht bereits schwarz. Am schlimmsten jedoch waren die Augen. Aus den eingefallenen Höhlen blickten mich keine menschlichen solchen an, zwei leicht rötlich schimmernde, unförmige Steine hatten ihren Platz in Anspruch genommen.
Das Verharren hatte sie nun abgelegt, scheinbar weiter unfähig zu laufen zog sie sich mit ihren Armen vorwärts, in meine Richtung, auf mich zu! Endlich, sie war nur noch wenige Züge von mir entfernt, erwachte ich aus meiner Schockstarre, ich rannte und rannte, irrte durch den Garten, der mir mit einem Male unheimlich, gespenstisch – gar dämonisch vorkam und endlich hatte ich die Pforte gefunden, durch die ich ihn betreten hatte. Als ich mich im hinausstürmen noch einmal umdrehte, war mir, als sähe ich zwei rötlich leuchtende Punkte in einiger Entfernung, die nahe dem Boden dort lagen.
Auf meinem Weg nach Haus’ wandte ich mich kein einziges Mal mehr um, ich lief einfach dem Heim entgegen. Meine Kräfte schienen mich nicht zu verlassen, abgesehen von dem Schock, der mich noch immer arg beschäftigte, fühlte ich mich, als könne ich in einem Satz auf das Kirchendach springen. Also fortlaufend gelangte ich endlich zu meiner Türe. Ich öffnete sie und begab mich zur Treppe, die ich sogleich emporschritt. Meine Augen hatten sich unterdessen an die Finsternis gewöhnt, sodass mir das Sehen leichter fiel. Als ich am obigen Ende der Stiege angelangte und den Flur betrat, sah ich etwas, das mir für einige Zeit den Atem raubte.
Da lagen sie. Eines ein Stück hinter dem Rahmen der offenen Tür, die in meine Kammer führte, eines vor mir im Gang. Nun in einem stechenden rot strahlende, unförmige Steine – die Augen jener Schreckensgestalt, welche mir in dem Garten begegnet war. Ohne zu zögern raste ich die Treppe herab und riss, unten angekommen, die Türe auf.
Sogleich stand ich still. Sie stand vor mir. Vor Schreck fiel ich zu Boden. Da stand sie, schief, die linke Seite herabhängend, den Kopf mit Müh’ aufrecht haltend. Das Gesicht, Kleid, Arme, Beine und Hände waren besudelt von der Erde, über die sie auf mich zu gekrochen war. Doch erneut schreckte mich der Anblick ihrer Augen am meisten. Ihrer Augenhöhlen, hätte ich schreiben sollen, die leer standen! Blut rann aus ihnen hinaus, rann über die aschfahlen Wangen, manches Rinnsal überspülte die Maden, die ich nun deutlich sah, wie sie sich in den Lippen tummelten, der meiste Lebenssaft jedoch tropfte dick von ihrem Kinn auf das weiße Totengewand und auf meine Dielen.
Ich hielt es nicht aus. Ich konnte nicht weiter hinsehen. Ich schloss meine Augen so fest ich konnte und betete mit ebenso großer Anstrengung. „O Herr, bitte lass mir meine Augen!“, rief ich aus. Ich lobte immerfort den Allmächtigen und schließlich fühlte ich meine Rettung.
Mit langen Fingern langte der Morgen nach meinem Gesicht, die ersten Sonnenstrahlen fielen warm auf meinen Leib. Sogleich wagte ich es, meine Augen zu öffnen und in der Tat, der Spuk hatte ein Ende, das scheußliche Wesen war verschwunden.
Mit dem Stand des Muttergestirns wuchs auch mein Mut, ich ging hinauf und ohne rote Augen in dem Flur aufzufinden kam ich in mein Zimmer, kleidete mich an und machte mich sofort auf den Weg. Ich wollte jenen Garten wieder aufsuchen, wollte sehen, was es damit auf sich haben könnte. So lief ich also von neuem die Hauptstraße entlang und bog in die selbe Gasse ein, die mich zur Pforte geführt hatte.
Tatsächlich fand ich an jener Stelle auch ein Tor, doch sah es ganz anders aus, als in der Nacht. Ich trat ein. Auch der Garten war ganz und gar verändert. Es war gar kein Garten, wie ich sofort bemerkte. Die Eichen, die mir in der Nacht so jung und schön erschienen waren, entpuppten sich als uralt, einige sogar bereits abgestorben. Kahl und mit langen Armen schienen sie nach der Sonne zu greifen. Auch die Blumen waren verschwunden, zu meinem Entsetzen standen überall dort, zwischen den Eichen, wo ich in des Nachts hübsches Gewächs zu sehen glaubte, alte, nicht selten bereits arg zerstörte und überwucherte Grabsteine. Auch, wenn mein Entsetzen nicht größer hätte sein können, entschied ich mich noch, den Springbrunnen wieder aufzusuchen, um mich wenigstens von dessen Existenz zu überzeugen.
Ich lief also den schmalen Pfad entlang und nahm den linken Abzweig, als ich die Gabelung erreichte. Ich erinnerte mich gut, in welche Richtung ich im Mondschein gelaufen war, und tatsächlich gelangte ich bald zu einer kreisrunden Hecke, wie ich sie in der Nacht gefunden hatte. In deren Mitte stand jedoch kein lustig spielender Springbrunnen, sondern ein von der Natur bereits großenteils zurückgefordertes, marmornes Grabmal. Obwohl sich ein Teil von mir dagegen zur Wehr setzte, entschloss ich mich, näher zu treten und die Inschrift darauf zu lesen. Dieser entnahm ich, dass die Frau, die dort begraben liegt, seit über 300 Jahren tot ist, ermordet. Der Mörder musste, so interpretiere ich das Geschriebene, ihre Augen aus den Höhlen entrissen und sie mit Edelsteinen ersetzt haben.
Ich begann sofort, diesen Brief zu verfassen, als ich von dem Ort wieder nach Hause gelangte. Er soll Ihnen, wer auch immer Sie sind, Aufschluss darüber geben, warum ich tot bin. Denn, wenn Sie dies lesen, kann es nichts anderes bedeuten, als dass ich aus dem Leben schied. Ich werde die heutige Nacht abwarten und wenn ich die augenlose Dame wiedersehe, so nehme ich mir eher selbst das Leben, als ihr das zu überlassen. In diesem Falle wissen Sie, warum ich Suizid beging. Finden Sie meine Leiche ohne Augen vor, dann ist sie mir doch zuvorgekommen. Hüten Sie sich vor diesem Ort. Hüten Sie sich vor singenden Frauen des Nachts.“
Am 23. August 18** wurde E.S. tot in seinem Haus aufgefunden. Seine Leiche fand man neben seinem Bett, ein Messer lag unweit der rechten Hand. Das Fenster war zerschlagen und die Tür wies Spuren von Gewalteinwirkung auf. Dass er Selbstmord beging, ist nahezu auszuschließen, ihm fehlten beide Augen. An der Stelle, die er in seinem Abschiedsbrief als den Friedhof beschrieb, fand man nichts, als den Wald, der sein Dorf umringte. Einige, die halfen, den Wald nach Hinweisen zu durchsuchen, behaupteten felsenfest einen marmornen Springbrunnen gefunden zu haben, als sie ihn anderen zeigen wollten, war er jedoch spurlos verschwunden. Das Mysterium E.S. wird wohl für immer ungeklärt bleiben.