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- Anmerkungen zum Text
wr bf nw out; neu 1.24
Nach der Kritik von @JPHoffmann ohne 2 Sätze im ersten Absatz 1.24
Die Dämonen
.
Meine Vermieterin ist eine schreckliche Dämonin aus der Bluthöllenwelt des Todes. Ich bin ein offener Mensch und mag fremde Kulturen, aber ein bisschen was störte mich dann schon dran, irgendwann. Es ist ja nie ganz einfach, wenn man mit dem Vermieter im selben Haus wohnt. Anfangs war die seltsame Musik und das permanente Getrommel von unten kein allzu großes Problem, und man nimmt ja gerne alles Mögliche in Kauf, solange man froh ist, endlich eine Wohnung gefunden zu haben. Mein Zuhause befindet sich in einem netten Einfamilienhaus und ich war vor zwei Wochen ins Erdgeschoss gezogen.
Oben drüber wohnt die Kerstin Kranz, eine alleinstehende 77-jährige Rentnerin, und im Keller lebt meine Vermieterin, mit bürgerlichem Namen Rosemarie Böglmeier.
Sie ist Anfang fünfzig, mit kurz geschnittenem, schon leicht graumeliertem Haar, schlank und groß, aber in Wirklichkeit sieht sie anders aus und ist auch keine Frau und wahrscheinlich auch nicht Anfang fünfzig. Ich hab da ausführlich gegoogelt: Dämonen sind meist ein paar zehntausend Jahre alt und haben kein Geschlecht. Ein Dämon fühlt sich nur sicher, wenn er alleine lebt, und sobald er eine Fortpflanzung für nötig hält, geht er ins Bad und zieht einfach sein Spiegelbild herüber in unsere Welt – mit dem Vorteil, der neue Dämonenerdbewohner ist von Anfang an ausgewachsen und niemand muss ihm die Windeln wechseln.
Ich ging runter und klopfte an die Tür und hatte als Beweis, dass ich Tomatensoße brauchte, eine Packung Nudeln dabei. Die Sache mit dem Lärm wollte ich wie nebenbei ansprechen. Die Tür ging auf.
Einige Tage zuvor hatte ich die Kerstin oben besucht, um sie zu fragen, ob ihr an unserer Vermieterin im Keller etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Wegen dieser Geräusche.
„Aufgefallen? Was Ungewöhnliches?“, sagt sie an der Tür. „Natürlich, natürlich! Kommen Sie doch rein, mein Lieber. Gehen wir in die Küche. Wollen Sie einen Tee?“
„Nun? Was ist Ihnen aufgefallen?“, frage ich, als wir sitzen.
„Oh, ganz viel, ganz viel“, sagt Kerstin. „Zum Beispiel, sie bügelt ihre Wäsche nicht. Dabei wäscht sie ganz viel. Den ganzen Tag läuft ihre Waschmaschine, den ganzen Tag, sag ich Ihnen. Und sie ist zuhause und hat doch viel Zeit, aber sie bügelt nicht, alles ist ganz zerknittert.“
„Interessant“, sage ich. „Und weiter?“
„Gelegentlich steht sie im Garten und erschießt mit ihrer Armbrust die Katzen. Ich habe mich oft bei ihr beschwert!“
„Wegen Tierquälerei!“
„Nein, wegen der Pakete“, sagt sie. „Die vielen Pakete, die jeden Tag kommen, und alle muss ich annehmen; sie ist ja zu Hause, doch sie macht meistens nicht auf; sie ist beschäftigt. Immer diese Pakete. Wissen Sie, dass manche versuchen davonzukriechen?“ Sie flüstert: „Als ob die Pakete Angst hätten, bei ihr anzukommen. Manchmal wimmern sie. Und was draufsteht: 'An Frau Rosemarie Böglmeier, schreckliche Dämonin, Absender: 'Bluthöllenwelt des Todes'. Da stimmt doch auch was nicht ganz!“
Ich nicke. Lächle sie an und nippe am Tee. Wahrscheinlich ist im Kopf der Alten vor kurzem die Batterie ausgelaufen und das Hirn erreicht nur noch ein Zehntel der früher möglichen Punktzahl.
„Noch was?“, frage ich.
„Ja, ganz viel. Die Leute kommen nicht mehr raus“, sagt sie.
„Die Leute kommen nicht mehr raus?“
„Ja, sagte ich doch. Frauen, Männer, sie gehen zur Tür rein und kommen nicht mehr raus. Ich schau den ganzen Tag vorn auf die Straße. Was soll ich sonst machen? Mir ist langweilig.“
„Dann … klettern sie später wahrscheinlich hinten durch das Fenster?“
„Ja. Viele, ganz viele! Und die Wohnung! Eines Nachts bin ich reingeklettert und hab Fotos gemacht, als sie geschlafen hat. Hab ich schon erzählt, mein Mann war Detektiv? Ach, er ist schon sieben Jahre tot. Wollen Sie die Fotos anschauen?“
Ich verneine. Ich bedanke mich für den Tee.
Die Tür ging auf. Frau Böglmeier stand vor mir. Ihre untere Hälfte. Die obere Hälfte, von der Hüfte aufwärts, war etwas anderes: der geschuppte, muskulöse Körper eines Krokodils. Statt eines Kopfs grinste mich etwas an, das aussah wie der Totenschädel einer Giraffe, überzogen mit rötlichem Aspik, allerdings mit den Reißzähnen eines Säbelzahntigers. Hinter den Schultern ragten zwei ledrige Flügel hoch, wie bei einer Riesenfledermaus. Über ihr, nur wenige Sekunden lang, hing ein fleischfarbener Körper mit Arachnoidenkopf und sechs langen, haarigen Beinen an der Decke, quiekte, kletterte rasch zur Wand und verschwand flink im Badezimmer.
„Ja? Was kann ich für Sie tun?“, sagte das Böglmeier-Gebilde.
Ich war nicht sofort so weit, Fragen zu beantworten.
„Oh“, sie blickte an sich herunter, „tut mir leid, ich hab mich noch nicht umgezogen.“ Ihr Knochenschädel grinste und die Reißzähne klackten.
Ich hielt ihr die Nudeln hin. „Hier“, sagte ich. „Für Sie.“
„Wie nett! Aber danke nein – wir fressen Pudel, keine Nudel!“ Sie machte den Versuch, zu lachen; ich machte den Versuch, nicht zu verstehen, was sie meinte. Ich sagte: „Also dann bis später vielleicht!“ Sie hob die Klaue zum Abschied, bevor sie die Tür schloss.
Die Fusilli hatte ich zu Weizenmehl zerbröselt.
Ich sitze, mit dem Smartphone vor mir, am Schreibtisch, warte auf den Anruf. Ich war bei Kerstin gewesen, um doch noch die Fotos anzuschauen. Digital, mit Datums- und Zeitsignatur. Ich hatte mir die Karte ausgeliehen, alles auf den Rechner kopiert, die Fotos, zusammen mit einem kurzem Bericht über die Wohnsituation und die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, per E-Mail-Anhang abgeschickt; die Antwort kam prompt: Man müsse miteinander telefonieren, die Sache persönlich besprechen. Außerdem benötigten sie noch eine Kopie meines Mietvertrags. Auch den schickte ich.
Die Klingelmelodie ertönt, schon bin ich dran: „Hallo!“
„Guten Tag, Müller“, antwortet eine Frauenstimme.
„Sind Sie die Dame vom Mieterschutzbund?“
„Ja“, sagt sie. „die bin ich, schön, dass ich Sie erreiche.“
„Ja, ist gut, äh - und was sagen Sie dazu? Haben Sie die Fotos gesehen?“
„Ja“, sagt sie.
„Und?“, frage ich. Ich blättere am Bildschirm durch die Galerie. Die Fotos zeigen schwarze Wände aus Blech, Ketten und Handschellen hängen an Eisenkonstruktionen, rote und schwarze Substanzen kleben zähschleimig an rostigen Zangen, an großen Bohrern und Sägen; überall verstreut blutige Hühner- und Katzenköpfe, abgenagte Tierskelette gefangen in Schnappfallen, Schädelknochen dümpeln in Säurewannen, Gehirne in Einmachgläsern auf Regalen entlang der Wände, Hundekörper mit abgezogenem Fell, Tröge voll mit faulig stinkendem Blutschlamm, Teile von Tier- und Menschenkörpern darin sumpfig verwesend, am Boden verteilt abgetrennte Arme, Beine, Köpfe, faulige Innereien - das ist das 'Wohnzimmer' direkt unter mir. Im Bad hängt ein riesenhaftes Spinnennetz mit fingerdicken Netzsträngen, ein Spinnenmonster, groß wie ein Autoreifen, hängt darin – und weiter in der Küche …
„Ja“, sagt Müller. „Tut mir Leid. Ich schau's mir grad noch mal an. Da ist nicht viel drin, fürchte ich.“
„Echt?“
„Klar, die Bilder sind nicht so schön“, sagt sie. „Aber ich hab mir Ihren Mietvertrag durchgelesen. Von Leichenteilen und so was ist da halt keine Rede. Von so optischen Sachen. Und Bilder haben nun mal keinen Ton, da kann man jetzt keine Lärmbelästigung mit beweisen, für eine Mietminderung müssten wir halt schon was … ah, Moment mal“, sie stockt, „da seh' ich eben was … Bild dreizehn … da in der Küche!“
„Sie meinen den Berg blutiger Wäsche?“
„Nein, dahinter, ich meine die Waschmaschine, da sieht man die Waschmaschine laufen! Um die Uhrzeit! Nach 23 Uhr! Das geht natürlich gar nicht! Davon brauchen wir jetzt halt eine Filmaufnahme mit Ton und Zeitstempel, dann ein Lärmprotokoll - und die Aussagen anderer Hausbewohner.“
Ich überlege seit einer Stunde. Vielleicht kann ich Kerstin überreden, die Böglmeierdämonin zu sich einzuladen, auf ein Glas Tee oder – kochendes Krötenblut; um sie aus der Wohnung zu locken. In der Zeit könnte ich mit meinem Smartphone durch's Fenster in die Küche kriechen und die Filmaufnahmen machen … Da höre ich, wie die Terrassentür hinter mir zersplittert. Zwei Polizisten stoßen sie auf. Sie tragen Helme und Sturmgewehre.
„Aufstehen! BFE! Beweissicherung und Festnahme!“, ruft der erste. „Wohnen Sie hier? Kennen Sie Frau Böglmeier?“
„Ja klar! Beides!“, sage ich und stehe auf. „Gut, dass Sie kommen – da unten, es ist furchtbar ...“
„Schnauze und Hände hoch!“, ruft er, der Zweite legt auf mich an. „Sie sind festgenommen!“ Er nestelt ein Paar Handschellen vom Gürtel.
„Aber die Böglmeier, sie wohnt unten, unten im ...“
„Um die geht es nicht!“, ruft er. „Sondern um Sie!“
„Um mich? Aber … wer hat denn die Leichen im Keller? Sie oder ich? Das muss ein Fehler sein!“
„Es ist kein Fehler!“, sagt die Gestalt, die jetzt mein Wohnzimmer betritt. Sie trägt kein Gewehr und auch keinen Helm; der hätte auch nur schlecht auf ihren Hundekopf gepasst – ohne Zweifel der Schädel eines Bullterriers. Die Hände gleichen den krallenbewehrten Klauen eines Raubsauriers aus der Kreidezeit.
„Sind Sie auch ein Dämon?“, frage ich.
„Ich bin Kommissar Kötermeier“, sagt er. „Die Anklage lautet: Verstoß gegen das Vermieterschutzgesetz. Sie wollten eine Mietminderung einklagen?“
„Nein ... ja ... aber das war nicht meine Idee - das war die blöde Gans - vom Mieterschutzbund …“
„Mieterschutzbund!“, bellt er. „Wir haben die Kommunistin schon verhaftet! Wir haben euer kleines konspiratives Gespräch abgehört. Glaubt ihr, wir schlafen?“
Von oben höre ich die Stimme von Kerstin: „Nein! Lassen Sie mich! Ich habe nichts gemacht! Ich hab damit nichts zu tun! Das war nur er, allein er, der Idiot von unten!“
Ein weiteres Geschöpf kommt durch die Terrassentür – eine Frau mit Vogelkopf und Tentakelarmen.
Ich wende mich an die Polizeibeamten: „Schaut doch mal einfach hin! Fällt euch nix auf? Sehen die etwa normal aus?“
Sie zucken mit den Schultern - für Dämonenbekämpfung sind wahrscheinlich andere zuständig. Es gibt keinen Grund, sich jetzt selbst damit herumzuärgern.
„Das ist Richterin Pickmeier“, sagt Kötermeier. Er dreht sich zu ihr: „Das Urteil?“
„Ab mit ihm ins Arbeitslager“, krächzt das Vogelgeschöpf nach kurzer Überlegung.
„Was? In was für ein Arbeitslager denn?“, rufe ich.
„In das Neue bei München“, sagt Pickmeier, und zu den Polizisten: „Abführen!“
Ich hole Luft und renne los, remple mich zwischen den beiden Beamten durch bevor sie reagieren können und dann durch die Terrassentür, schnell über den Rasen und über den Zaun, da höre ich hinter mir erst das „Halt, stehen bleiben!“, dann einen Schuss, stolpere auf die Straße und halte einen Wagen an, stürze zur Fahrerseite, das Fenster ist geöffnet: „Schnell, lass mich rein!“ Hinter mir die Rufe: „Haltet ihn auf, er will seine Miete nicht mehr zahlen!“ Der Fahrer fletscht seine Zähne, sein Kopf morpht in einen gewaltigen Haifischkopf, ich taumle zurück, sehe die Beamten kommen, hinter ihnen den Terrierdämon; eine Frau ist auf der anderen Straßenseite stehen geblieben, ich sehe ihr entsetztes Gesicht, sie lässt ihren Einkaufswagen stehen, kommt auf mich zu, verwandelt sich in einen Drachen und schlägt mit ihrem Schwanz nach mir; der verfehlt mich knapp; ich kann mich nicht mehr bewegen, bin seit einer Sekunde oder seit einem Jahrhundert vollkommen gelähmt, und es ist kein Problem mehr für die Monster und ihre Helfer, mich einzusammeln. Sie bringen mich, in Handschellen, zum Polizeikombi und drängen mich auf die Hintersitze. Wir fahren los.
Ich sehe Rosemarie Böglmeier im Hauseingang stehen – in ihrer menschlichen Gestalt: Sie ist gut gekleidet. Und sie sieht gut aus, richtig gut. Und es war eine schöne Wohnung. Aber nachts: viel zu laut. Im Arbeitslager – vielleicht kann ich da endlich wieder schlafen.