Was ist neu

Die Chronologie der Dinge

Mitglied
Beitritt
25.10.2007
Beiträge
3
Zuletzt bearbeitet:

Die Chronologie der Dinge

Wenn ich an mir herunter schaue und mich betrachte, dann sehe ich, dass die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Ich bin alt geworden, älter, als es jeder Mensch von sich behaupten könnte.
Die Farbe beginnt abzublättern und an einigen Stellen löst sich der Leim, der mich aufrecht hält, doch noch stehe ich.
Ich bin müde und habe nicht gerade unerhebliches Kopfweh. Ich würde gerne für einige Sekunden meine Augen schließen und mich ganz der Dunkelheit hingeben, nur um für einen kurzen Moment zu ruhen. Doch wer würde dann zu schauen, wie sich die Welt entfaltet.
Nein, ich schlafe nicht, sondern passe auf, dass keiner etwas verpasst.
Viele Menschen würden mich beneiden, um das, was ich in meinem Leben sehen durfte.
Ich kann die Geschichte erzählen, wie kein anderer, doch würden sie mir nicht glauben, weil ich Taten kenne, die sie verdrängen oder gar nicht wissen.
Ich habe gesehen, wie sie sich liebten, ich hörte, wie sie sich bekriegten, doch niemals sah ich, dass sie sahen.

Wenn ich an mein doch sehr überschaubares Leben denke, versuche ich immer den Überblick zu behalten. Ordnung ist sehr entscheidend und ich wahre die Chronologie der Dinge.
„54 v.m., Deutsche Revolution; 31 v.m., Gründung des Deutschen Reiches; 0, mein Geburtstag; 12 n.m. bis…, ähm, 16 n.m., Erster Weltkrieg!“

Ich habe mir dieses Zählsystem ausgedacht, um nicht durcheinander zu kommen, da ich mich so besser erinnern kann, wenn ich weiß, dass 54 Jahre vor mir eine Revolution war, verlier ich den Überblick nicht so schnell.
Ich weiß nicht, was die Ursachen für diese Ereignisse waren, aber ich habe sie gesehen, ich habe noch viele andere Dinge beobachtet, doch keiner hört mir zu, wenn ich mit ihm reden will.

Ich führe oft Selbstgespräche, um nichts zu vergessen. Das ist wichtig, weil sonst die Reihenfolge gestört wird.
Eine richtige Ordnung ist schwer zu halten, wenn die Tage ununterbrochen voranschreiten, es passiert einfach zu viel und ich versuche jetzt schon alle Dinge der letzten 100 Jahre zu ordnen. Bei manchen Geschichten bin ich mir nicht sicher, weil ich sie nicht sehen konnte. Manchmal stand einfach jemand im Weg und manchmal habe ich nicht aufgepasst. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass mein Kopf schwindelt, wenn er die ganzen Zahlen sortiert.
Ich kann leider nicht schreiben, habe es einfach niemals gelernt.
Manches höre ich auch nur, sie erzählen es im Vorbeigehen oder lesen es mir laut vor, wenn sie sich durch die kleinen Straßen schlängeln.

Vielleicht wüssten sie gar nicht, was passiert ist, wenn sich keiner mehr, so wie ich, mit der Zeit beschäftigen würde. Ich glaube, dass es noch andere gibt, die sich alles merken, muss es ja auch, da vor mir schon eine Welt existierte. Eigentlich weiß ich das nicht sicher, aber ich war noch nie arrogant und glaube nicht, dass die Welt mit mir geboren wurde.
Vielleicht sollte ich einen Menschen fragen, wann denn die Welt das Licht erblickte, dann wüsste ich wenigstens, wie genau mein Zählsystem ist, gar nicht so leicht.
Wenn jetzt jeder, der versucht die Zahlen zu ordnen ein eigenes System hat, wo bleibt denn da die Ordnung?
Keiner weiß so genau, wann der andere geboren wurde, ich glaube, dass könnte noch Schwierigkeiten machen. Also wäre es wirklich wichtig, dass ich in Erfahrung bringe, wann die Welt geboren wurde. Dann würde ich das in meinem System vermerken und jeder könnte es verstehen.
Da es mein Schicksal ist, muss ich jetzt eine Lösung finden, ich bin ja ein Profi auf diesem Gebiet.
Ich habe mal einen Mann reden gehört, der meinte, dass alles mit einem großen Knall angefangen hat, dann haben sich kleine Teilchen zusammengefügt und die Welt war da. Doch weiß ich nicht, was er damit meinte. Wenn etwas knallt, muss irgendwas dafür verantwortlich sein, also wie ein Unfall, so was kenne ich. Doch lebe ich wirklich auf einer Intensivstation von diesen Teilchen? Außerdem müssen die ganz schön groß gewesen sein, wenn ich mir vorstelle, dass ich ein Produkt von ihnen bin.
Viele Fahrzeuge fahren vor mir auf und ab, hinter ihnen ist eine große Wand. Sie steht noch nicht sehr lange dort, eigentlich ist sie schön, weil immer neue Bilder an ihr aufgehängt werden und das sorgt für Abwechslung. Letztens haben sie ein großes Bild mit Bananen hingemalt, das war schön, leider ist es mittlerweile wieder abgefallen.
Aber ich weiß, dass sie bald ein neues aufhängen werden. Ich glaube manchmal, dass sie das nur für mich machen.
Früher konnte ich weiter gucken, aber ich habe mich damit begnügt, dass es so ist, wie es ist.
Es macht meine Aufgabe auch viel einfacher, weil auf einem kleinen Gebiet meistens nicht so viel Geschichte passiert.
Gestern gab es einen Unfall, der ungeheuer laut war, aber es ist keine Welt entstanden.
Nein, so kann das alles nicht angefangen haben. Da finde ich die Idee eines anderen Passanten viel interessanter. Wenn ich ihm glaube, dann wurde alles in sieben Tagen erschaffen, zwar ganz schön schnell, wenn ich bedenke, wie viel es hier zu sehen gibt, doch war seine Vorstellung doch recht verständlich.
Er glaubte, dass ein großer Mann uns alle erschaffen hat, jeden für sich. Ich kenne nicht so viele Menschen, doch wenn ich überlege, dass er alle allein gemacht haben soll, dann wundert es mich, wenn er überhaupt Zeit zum Schlafen hat.
Ich bin bestimmt sehr wichtig für ihn, da ich mir alles merke, was seine Geschöpfe tagsüber, wenn er arbeitet, machen. Sollte er mich fragen, könnte ich ihm viele Geschichten erzählen. Doch habe ich ihn noch nie gesehen. Ich denke, dass ein so wichtiger Mann bestimmt einen Namen hat, den jeder kennt, schließlich hat er alle gemacht, also auch mich.
Ich kenne aber niemanden, der mich erschaffen hat, was mich stutzig macht.
Alle müssten ihn doch kennen. Ich habe bisher nur einen Menschen über ihn sprechen gehört. Also kann er es nicht gewesen sein, der die Welt gemacht hat.
Vielleicht haben die beiden Männer Recht und es hat so laut geknallt, dass ein Mann kam, der alles in Ordnung brachte und versuchte es zu sortieren und dadurch eine Welt entstand.
Ich weiß, wie wichtig das ist.

Manchmal gucken mich die Menschen auch an, wenn sie an mir vorbeigehen, aber stets nur ganz kurz. Ich finde es nicht gut, dass man jemanden anguckt und nichts sagt. Ich grüße auch immer sehr freundlich, doch ich bin auch schon alt und vielleicht gucken sie deshalb nicht mehr so gerne her.

-

Ich bin neu hier, vor mir waren Bananen da. Ich gucke auf eine Straße und auf eine Häuserwand, eigentlich sehr schön hier. Auf der anderen Seite entfernen sie gerade einen alten Mann von der Wand, der sieht auch nicht mehr gut aus.
Die Farbe blätterte schon ab und er war zerknittert. Weil mir nach ein paar Stunden nichts mehr einfiel, was ich machen könnte, habe ich angefangen mir Dinge zu merken. Es ist wichtig, wenn sich einer merkt, was passiert. Später kann man damit bestimmt viel richtig stellen.
Doch ich wusste nicht, wie ich alles sortieren sollte, aber jetzt habe ich eine Idee.
Eine Minute ‚nach Tod des alten Mannes’, ich werde das mit n.T.d.a.M. abkürzen, passierte das erste Ereignis.

„1 Minute n.T.d.a.M. Marlbororeklame an die Häuserwand gegenüber geklebt“​

Ich werde einfach weiter beobachten, weil ich glaube, dass jeder eine Geschichte zu erzählen hat und es ist gut, wenn ihm jemand zu hört…

 

Hallo Sandsieber,

also wurde die Welt nach dem Tod Gottes erschaffen? Das wäre, wenn ich das richtig interpretiert habe, eine neue Sichtweise. Werd ich drüber nachdenken :)

Der Text ist mir erst nach dem zweiten Durchlesen zugänglich gewesen, da dann allerdings haftend, so dass ich mich nicht mehr lösen konnte. Ich fragte mich: ja und, was passiert jetzt? Was ist die Chronologie? Wer bist du, wer ist der alte Mann? Eine Antwort die du gibst, ist, dass man nach seinem Tod an die Reklamewand gepinnt wird.

Viele Grüße, Lupus

 
Zuletzt bearbeitet:

Aloha Ihr,
da es mein erster Beitrag in diesem Forum war, freut es mich um so mehr, dass Ihr die kleine Geschichte gelesen habt.
Doch nun zum Kern der Sache.

[...] also wurde die Welt nach dem Tod Gottes erschaffen?

Nun, es ist eine der Möglichkeiten, die der Rezipient für sich entdecken kann, jedoch nicht die einzige. Der Prot versucht sich Sachverhalte zu erklären, die er nicht ergründen kann, da er nur "für sich ist" und beginnt sich somit eventuell im Kreis zu drehen.
Wichtig ist mir eher, dass es keine absolute Wahrheit über Ereignisse geben kann, da sie doch immer dem Hauch des Subjektiven unterliegen müssen.

Der Text ist mir erst nach dem zweiten Durchlesen zugänglich gewesen, da dann allerdings haftend, so dass ich mich nicht mehr lösen konnte. Ich fragte mich: ja und, was passiert jetzt? Was ist die Chronologie? Wer bist du, wer ist der alte Mann? Eine Antwort die du gibst, ist, dass man nach seinem Tod an die Reklamewand gepinnt wird.

Ersteres freut mich natürlich und zum nachstehenden Teil möchte ich mich nicht äußern - Nicht, weil ich selbst keine Antwort parat habe, sondern weil ich dem Leser die Freiheit der Gedanken lassen möchte.
Vorgekochtes schmeckt immer schlechter :)

Deine Geschichte lebt von zwei Dingen, einem Bezugspunktwechsel und einem Perspektivwechsel. Für meinen Begriff etwas zu wenig für eine Kurzgeschichte.

Ja, teilweise sehe ich es ähnlich, aber weiß ich nicht, was ich mit dem Hervorgehobenen anfangen soll - 'Tschuldige, wenn ich irgendwas "falsch" lese. Warum zu wenig?
Der Grundgedanke geht doch darauf zurück, dass ein "philosophisches Problem"; nun, eher eine Fragestellung reflektiert wird.
Was ist die Zeit?
Gibt es Zeit?
Wofür brauchen wir Zeit?

Ich weiß, dass das nicht in den Vordergrund tritt, aber immerhin waren dies die wichtigen Einflüsse, die mich beim Schreiben führten :)

Ein „Selbstgespräch“ kann interessant sein, wenn es konkret ist. Lass uns schauen, was die anderen Leser sagen.

Ist der Text im Großen und Ganzen kein innerer Monolog?


Nochmal "Danke" fürs Lesen - bis dahin :)

Grüßle, ich

 
Zuletzt bearbeitet:

Hmm, irgendwie doof gelaufen, ne?!

Nein, so schlimm dann doch nicht :)
Ich glaube lediglich, dass wir gerade von gänzlich unterschiedlichen Dingen "sprechen"; so zeigst Du mir auf, dass Festlegungen arbiträr sind, was natürlich auch beim sprachlichen Zeichen der Fall ist, also signifie und signifiant gänzlich willkürlich in einem Zusammenhang stehen, Onomatopoesie mal ausgenommen.

Was mich eigentlich beschäftigt, ist gar nicht das "Leben" des Alten und wie er sich versucht Bezugspunkte zu schaffen, also Festlegungen trifft, sondern wie sinnfrei dies war, da er sein "Wissen" keiner Seele anvertrauen konnte.
Er merkte sich bewusst Dinge, in dem Glauben, dass sie von Bedeutung wären; was jedoch nicht zutraf.
Jetzt kommt der Sprung, ein neuer Protagonist wird eingeführt, der sich erneut mit der Frage beschäftigt, ob es denn Dinge gibt, die "merkenswert" sind.
Ich wollte lediglich in Frage stellen, ob es wichtig ist, wenn Daten gesammelt werden, da sie subjektiv (und somit ggf. falsch) und vielleicht für die Nachwelt unbedeutend sind.
Also: "Was ist Zeit?", "Gibt es sie?", "Wozu?"...

Schlussfolgerung:

Sie ist subjektiv, da es immer nur Fixpunkte geben kann, die arbiträr festgelegt wurden. Ja, es gibt sie, aber, wie schon angemerkt, ist es fraglich, welche Rolle sie überhaupt spielt und warum teilen wir unser Leben in Zeiten ein? Genau, um nicht den Überblick zu verlieren und eine "Chronologie der Dinge" zu wahren :)

Hoffe, dass Du Dich nochmals meldest, da ich glaube, dass etwas vollkommen falsch angekommen ist oder ich mich gänzlich "plöd" ausdrückte.

Die schönsten Abendgrüße,
ich

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom