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Die Chroniken von Unternerde - Nimmerbleich
Mitt-Teufschachtdorf, 124. Tag des 4. Thronjahres von König Gannafússel
Der Lichtzeiger der Sonnenuhr stand kurz vor dem Abendgesang, und Jerévos Frau Salára war immer noch nicht zuhause. Der dürre Elb seufzte und machte sich daran, das Abendbrot selbst zu bereiten. Er beschmierte die eine Hälfte der Wurzelknolle mit Spinnenmarmelade und die andere mit Gourmet-Fledermausdreck. Mit vollen Backentaschen mampfend stellte er sich auf die Balustrade und lauschte dem Chor, der in der Dorfhalle die Wiederkehr der Nacht besang. Die alte Hymne, einst geschrieben vom großen Baván von Nachtammer kurz vor seinem siechen Dahingang, hallte von der Felskuppel wider, wurde von steinernen Säulen tausendfach gebrochen.
Hinter Jerévo klirrte etwas. Er fuhr herum – seine Frau stand am Küchenschrank und hantierte mit dem Geschirr.
»Da bist du ja«, grummelte Jerévo und trat von der Balustrade hinein in die Wohnhöhle.
»Ja«, entgegnete Salára einfach und grinste. Sie drehte sich um, dass ihre langen, weißen Haare flogen, und marschierte ins Kaminzimmer. Jerévo runzelte die Stirn. Etwas war ihm komisch vorgekommen. Er folgte seiner Frau bis zum Sofa, auf das sie sich Radieschen kauend gesetzt hatte, und sah ihr ins Gesicht. »Warst du etwa wieder ... draußen?«, fragte er verächtlich. »Ich sehe es an deiner Gesichtsfarbe. Sie ist nicht bleichweiß.«
Salára schenkte ihrem Mann ein warmes Lächeln und nickte, ohne zu kauen aufzuhören.
»Das ist unnatürlich«, schimpfte Jerévo, »wir sind Elben, dazu geboren, unter Tage zu leben und bleich zu sein. Es gehört sich nicht, dass wir uns von der Sonne das Gesicht bräunen lassen.«
Nachdem sie geschluckt hatte, antwortete Salára: »Es ist gut für die Haut. Und fürs Gemüt. Wer in die Sonne geht, ist nicht so ...«, sie zögerte und maß ihren Mann mit den Augen, »griesgrämig.«
»Ich bin nicht griesgrämig«, grunzte Jerévo, »und ich will nicht, dass du mit dieser Sonderheilungsgruppe ...«
»Selbsthilfegruppe. Selbsthilfegruppe Nimmerbleich.«
»... ist mir doch egal. Ich will nicht, dass du da hin gehst.«
»Du führst dich auf wie ein Mensch.«
»Was soll das wieder heißen?« Jerévo überlegte, ob er sich beleidigt abwenden sollte.
»Menschenmänner können ihren Frauen Befehle erteilen. Wir aber sind ent-mannzippiert. Du auch.«
»Das Wort hab ich ja noch nie gehört«, murmelte Jerévo und fuhr sich nervös mit der Hand durch die langen Silberhaare. »Draußen laufen außerdem grausame Oberwelt-Monster herum.«
»Hauptsächlich Menschen«, zuckte Salára mit den Schultern, »aber die sind harmlos, man sieht sie manchmal vom Balkon aus, wie sie gegen Bäume pinkeln.«
»Menschen ...«, winkte Jerévo ab und setzte sich neben seine Frau. Er begann, ihre Füße zu massieren. »Was ist das eigentlich für ein Balkon?«, fragte er dabei.
»Hmmmm ... man erreicht ihn durch einen Geheimgang ...«, säuselte Salára genussvoll. »Ups«, ergänzte sie dann.
Im gleichen Moment quiekte die empathische Haustürratte. Offenbar begehrte ein Gast Einlass. Salára hüpfte eilig zur Tür. Das fröhliche Quieken der zu Besuch kommenden Pieva, einer Freundin von Salára, ähnelte jenem der Ratte.
Jerévo seufzte und flüchtete ins Schlafzimmer, um einige Wandzeichnungen-Schnörkel nachzuziehen.
Grandiomystische Palasthalle, 129. Tag des 4. Thronjahres von König Gannafússel
»Als musomagischer Berater des Königs hast du sicher eine Idee.« Die Stimme von Úgalúd klang wie Felsen, die in Kürze auf jemanden herabstürzen würden. Jerévo fürchtete, dass er derjenige war, und ließ seinen Blick hoffnungslos über die riesige Menge bräunungswilliger Elbinnen schweifen, die auf dem Krönungsplatz vor dem Palast aufrührerische Lieder sang. Er strich mit feingliedrigen, beinahe weißen Fingern über die filigranen Muster der Balkonbrüstung. »Die Tiefenmagie könnte ein Magmamonster beschwören ...«
Úgalúd keuchte: »Das wäre ein Massaker!«
»Aber es würde die Proteste beenden.« Jerévo warf dem Oberberater einen Blick zu. Er experimentierte in letzter Zeit häufiger mit der sogenannten Ironia, einer Art Psycho-Magie, über die er in uralten Büchern gelesen hatte.
Úgalúd hatte das betreffende Buch offenbar nicht gelesen und klappte die ganze Zeit den Mund auf und zu, ohne etwas zu sagen.
»Möglicherweise sollte man ihnen geben, was sie verlangen«, sagte Jerévo eilig.
»Aber ... das geht doch nicht! Wir Elben leben seit Anbeginn der Zeit in den Höhlen, und diese Frauen verlangen regelmäßigen Ausgang ...«, er zeigte auf ein großes, in Neuen Serifen beschriebenes Plakat, »einige wollen sogar draußen ... leben!« Das letzte Wort klang wie eine Majestätsbeleidigung, die von jemandem kurz vor seiner Hinrichtung ausgesprochen wurde.
Langsam schüttelte Jerévo den Kopf. »Das ist nicht ganz richtig«, sagte er und beobachtete, wie der königliche Oberberater sich an seinen Lyra-Stab klammerte, als müsse er dem König noch vor dem Mittagsgesang erklären, warum die Hälfte aller Elbenfrauen seines Reiches gerade von einem Magmamonster verschlungen worden waren. »Was?« Erst jetzt reagierte der Oberberater auf Jerévos Bemerkung.
»Es ist eigentlich nicht die widernatürliche Existenz draußen, außerhalb der Wohnhöhlen, die sie verlangen«, erklärte Jerévo mit wachsender Energie, »sondern ... eine dunklere Hautfarbe!«
»Das ist doch unnatürlich!«
»Aber es ist das, was sie begehren. Hör dir den Gesang an ... ›Braune Haut, gesunde Haut ...‹ Geben wir ihnen dunklere Haut, ohne dass sie die Schächte verlassen müssen, und sie werden gerne auf die Sonne verzichten.«
»Ich ... wie ...«
»Solarmagie«, sagte Jerévo und grinste.
»Du willst ihre Gesichtshaut mit Magie ... entweißen?«
»Wenn sie Dunkelelben sein wollen, dann soll es so sein.«
Úgalúd richtete sich auf und holte tief Luft. »Nun denn«, sagte er und lächelte hinunter zu den Massen singender Frauen, »ich werde dem König berichten. Er wird deine Idee sicher dankbar aufgreifen.«
Jerévo nickte. Hätte er gewusst, was er mit seinem Vorschlag bewirken würde, hätte er umgehend ein Megamagmamonster beschworen, und zwar nur für sich selbst.
Mitt-Teufschachtdorf, 181. Tag des 4. Thronjahres von König Gannafússel
Jerévo lag auf dem Sofa, einen toten Maulwurf auf der Stirn. Normalerweise wirkte das Wunder, aber die Kopfschmerzen des musomagischen Beraters waren heute einfach zu stark. Seine dünnen, silbernen Haare klebten durcheinander an ihm. Die Haustürratte quiekte, und Jerévo verzog das Gesicht.
»Ewige Nacht, deine Lieder so dunkel, deine Liebe so nah«, flötete seine Frau, während sie das Zimmer betrat und sich neben ihn setzte.
»Salára«, brachte Jerévo mühevoll hervor.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das seine Kopfschmerzen noch schlimmer werden ließ. »Ach Jerévo, mein süßes Krabbeltier, würdet ihr Männer uns Frauen doch einfach verstehen!«
»Mir scheint«, stöhnte Jerévo, »der Große Kreator Unter Der Magma wollte es nicht so.«
Salára schüttelte den Kopf. »Ihr dachtet, es kommt uns nur auf unsere Hautfarbe an. Dabei geht die Sonne doch viel tiefer, sie reicht bis in unsere Seelen, die sie erwärmt und mit Hoffnung auf eine goldene Zukunft erfüllt. Unsere Welt darf doch nicht an den verzierten Wänden dieser Höhlen enden.«
Angestrengt richtete Jerévo sich ein wenig auf. »Dieser Satz ist nicht von dir, sondern von dieser Düsterkrypt. Die Sonne hat ihr Gehirn gekocht.«
»Soleria von Düsterkrypt ist die mutigste Elbenfrau, die es unter der Erde gibt.«
»Sicher«, entgegnete Jerévo säuerlich, »uns Männern als Druckmittel die Vereinigung zu verweigern, ist wirklich außerordentlich mutig. Keinem verruchten Menschenkrieger könnte etwas grausameres einfallen.«
»Mein armer Schatz«, streichelte Salára ihrem Partner die Ohrspitzen, »dass ihr Männer auch solche Kopfschmerzen kriegen müsst, wenn ihr euch längere Zeit nicht vereinigen könnt.«
»Lass mich in Ruhe.« Jerévo kniff die Augen zu, während die Höhlenhauer in seinem Kopf eine neue Schicht begannen.
»Dann willst du die gute Nachricht gar nicht hören?«
Hinter den Kerkermauern, die seine Augenlider bildeten, überlegte Jerévo, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass er jene Nachricht genauso gut finden würde wie seine Frau. Dann spürte er plötzlich ihre Hand auf seinem Bauch und zuckte leicht zusammen.
Saláras Lippen waren ganz nah an seiner Ohrspitze, als sie flüsterte: »König Gannafússel ist ein weiser Mann. Er hat heute seinen Namen unter die Höhlenwand mit dem Vertrag der Regelmäßigen Sonnenanbetung geritzt.«
»Was ...« Jerévos Stimme versagte, als die Hand auf seinem Bauch langsam abwärts wanderte.
»Wie man hört«, hauchte Salára, »hat er selbst ein Sonnenbad genommen und es wohl sehr genossen.«
Während seine Kopfschmerzen sich in ein glühendes Magma der Erwartung verwandelten, begann Jerévo mit dem tonlosen musomagischen Gesang der Zwei Ersten Elben, und als Salára ihre ganze Wärme auf ihn legte, besuchten beide gemeinsam die Hallen der Tiefen Vereinigung.