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Die Chroniken von Solikstatt - Prof. Dr. Elisabeth Aurelia
Das Gesetzbuch wog schwer in der Hand, als Prof. Dr. Elisabeth Aurelia ihren Assistenten zurechtwies. "Ihre Unachtsamkeit ist nicht zu tolerieren. Die Unterlagen hätten schon gestern zu Händen sein müssen. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?”
Der Assistent hatte eine hohe Stirn, war von hohem Wuchs und bewegte sich viel zu klobig. “Ich konnte nichts dafür, die Kammer hat Schuld. Ich sag es Ihnen, bitte Frau Aurelia, glauben Sie mir.”
"Prof. Dr. Aurelia”, antwortete sie eisig.
“Natürlich, entschuldigen Sie, kommt nie wieder vor, Prof. Dr. Aurelia.”
Es war an der Zeit, ihm eine Lektion zu erteilen. Sie akzentuierte jedes Wort: “Es liegt Kälte in der Luft. Der Wetterumschwung ist deutlich zu vernehmen. Fahren Sie aufs Land, dort ist es angenehmer.”
“Wie meinen Sie das?”, fragte der Assistent.
Nicht einmal das verstand er, sie musste mit ihrem Kanzleipartner sprechen, was die sorgfältigere Auswahl von Untergebenen anging. “Sie sind freigestellt. Gekündigt. Auf Wiedersehen.” Mit diesen Worten rauschte Prof. Aurelia in den Gerichtssaal. Es war unvertretbar, dass ein Assistent ihren Fall gefährdete. Was dachten sich diese jungen Leute eigentlich? Das Leben schenkte niemandem etwas, diese Lektion war unbedingt zu lernen. Das Arbeitsethos stellte den höchsten Wert dar. Wo würden wir sonst auch hinkommen, dachte sie.
Der Gerichtssaal bestand aus einem Richtertisch, dem Zeugenstand, der Anklage- und Verteidigerbank, dem Stenografentisch und dem Zuschauerbereich. Die dunkelbraune Holzvertäfelung und der Geruch nach antiken Möbeln erinnerten Prof. Dr. Aurelia erneut an ihren Wunsch, sich einen Namen zu machen. Ich muss diesen Fall gewinnen, sonst schaffe ich es nie an den Obersten Gerichtshof.
Hinter dem Richtertisch war die Flagge von Solikstatt aufgespannt. Gleichheit vor dem Gesetz, darum ging es hier. Prof. Aurora würde dafür sorgen, dass dieser Grundsatz Bestand hatte, ganz gleich wie mächtig die Gegenpartei auch sein sollte. Sie setzte sich an die Anklagebank neben ihren Mandanten und warf dem Strafverteidiger einen durchbohrenden Blick zu. Es handelte sich um Robertus Spartakus, der für seine legendäre Verteidigung von Untergrundbossen bekannt war. Moral über Profit, der wird sein blaues Wunder erleben.
Die Anklageschrift wurde verlesen. Es ging um den Fall eines Studenten, der eine militante Gruppe gegründet hatte, um die alten Traditionen in Solikstatt zu bewahren. Der Student hatte den Sohn eines reichen Kaufmanns verprügelt. Der Name des Studenten war Johannes Goddard.
Prof. Dr. Aurelia betrachtete den jungen Mann, während der Richter mit der Anklageschrift fortfuhr. Johannes Goddard hatte eine hohe, leicht gefaltete Stirn, dünne Augenbrauen mit stechenden Augen, die tief in den Höhlen lagen. Seine Nase war gerade, der Mund zu einem Strich geschlossen. In Kombination mit seinem eckig geschnittenen Gesichtszügen und den hohen Wangenknochen gab es ihm einen ernsten und entschlossenen Ausdruck.
Prof. Dr. Aurelia fragte sich, weshalb er so ruhig aussah und ihr fiel auf, dass er an seinem Wams einen Anstecker von Kaiser Leopold trug. Die alten Familien hatten noch immer zu viel Einfluss auf die Kaiserfamilie.
Der Richter leitete zum Eröffnungsplädoyer über. Es war an der Zeit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Sie hatte schon einige Male mit dem Kaufmann zusammengearbeitet, er zahlte gut und pünktlich. Prof. Dr. Aurelia rückte die Haarschleife und Brille zurecht, erhob sich und sagte: “Euer Ehren, verehrte Damen und Herren, heute sind wir hier, um über einen Fall von Radikalisierung und Körperverletzung zu verhandeln. Der Angeklagte, Johannes Goddard, hat am 15. Tag des dritten Lumenarborzyklus eine friedliche Demonstration an der Universität zu Solikstatt unterbrochen, sich durch radikale Bemerkungen hervorgetan und den Sohn meines Mandanten aufs Übelste zugerichtet, weil dieser eine andere politische Meinung hatte. Die Beweislage ist erdrückend, die Tat aufs Tiefste zu verurteilen. Meine Aufgabe wird es heute sein, die Beweise systematisch zu präsentieren, damit Sie, Euer Ehren, ein gerechtes Urteil fällen können.”
Der Richter bedankte sich und rief die Verteidigung auf.
Spartakus räusperte sich. “Euer Ehren, bevor wir fortfahren. Es gibt Neuigkeiten, die ich präsentieren muss. Es liegt ein Vorfall nach Paragraph 710 vor. Dieses Verfahren muss eingestellt werden.”
Die Zuschauer ließen erstauntes Raunen hören.
“Was reden Sie da?”, entfuhr es Prof. Aurelia. Es handelte sich bei Paragraph 710 um ein altes Relikt, das dem Kaiser ermöglichte, ein Rechtsverfahren zu unterbrechen und es an die Armee weiter zu geben, aber es war Aurelias Wissen nach noch nie zu so einem Fall gekommen. Die vorherrschende Meinung war, dass es nur ein Dekor war, um Kaiser Leopold seine letzte Würde zu lassen.
“Lassen Sie ihn ausreden", sagte der Richter.
“Ich habe eine Verfügung von Kaiser Leopold, unserem geschätzten Herrscher. Dieser junge Mann aus der anerkannten und altehrwürdigen Familie Goddard wird für die Armee eingezogen und fällt daher unter das Militärgesetz.” Er ging zum Richterpult und legte die Unterlagen vor. “Die Dokumente sind bereits ausgefüllt und von Kaiser Leopold persönlich unterzeichnet.”
“Aber wieso haben Sie das erst jetzt so kurzfristig vorlegen können?”, fragte Prof. Aurelia.
“Es handelte sich um eine Eilmeldung, sie ist erst heute Morgen von Kaiser Leopold unterzeichnet worden. Und wie wir alle wissen, ist der Kaiser der Vorgesetzte unserer ehrenwerten Richterkammer, so wahr Gott ihn schütze.”
Theoretisch gesehen hatte er recht, doch handelte es sich hier um einen Präzedenzfall. Wie wohl der Richter reagierte?
Der Richter ließ sich Zeit, verließ aber nicht den Gerichtssaal, um die Anwälte einzubestellen. Schließlich sagte er: “Das Dokument hat seine Richtigkeit. Ich verfüge hiermit, dass Johannes Goddard dem Militärgericht überstellt wird.”
Irgendetwas an der schnellen und unaufgeregten Art, wie der Richter vorging, ließ Prof. Dr. Aurelia den Verdacht schöpfen, dass er schon im Vorfeld Bescheid wusste, dass er mit ihnen unter einer Decke steckte. Das war ein Skandal.
“Aber das können Sie nicht machen”, sagte Prof. Aurelia. “Die Beweiskette ist eindeutig, er muss verurteilt werden. Wo bleibt die Gerechtigkeit, die für alle gleich ist?”
“Er wird seine Gerechtigkeit beim Militärgericht bekommen. Kaiser Leopold hat entschieden.” Der Richterhammer ertönte und es herrschte vollkommene Stille im Gerichtssaal. “Dieser Prozess ist beendet.”
Prof. Dr. Aurelia starrte fassungslos auf die Flagge von Solikstatt. In ihrer dreißigjährigen Laufbahn war das noch nie passiert. Wie konnte das sein? Sie wusste genau wie das ablaufen würde: Sir Goddard war einer der führenden Generäle in Solikstatt, er würde dafür sorgen, dass sein Sohn offiziell freigesprochen würde und ihm eine Laufbahn in der Armee ermöglichen. Für ein hohes Amt würde es ohne Studium wohl nicht ausreichen, aber sein Name sollte in keinem Strafbuch auftauchen und nach ein paar Jahren konnte er sich in einer anderen Universität einschreiben und noch immer eine politische Karriere machen. Das kann nicht wahr sein. Wie kann unser Rechtssystem das erlauben? Wie kann Kaiser Leopold so viel Einfluss auf die Gerechtigkeit nehmen? Und warum nutzt er dieses alte Privileg gerade jetzt zum ersten Mal. Das wird doch zu einem Aufschrei beim obersten Gerichtshof führen. Verdammt, das schadet meinem Ruf.
Sie beobachtete wie Goddard mit einem selbstzufriedenen Grinsen aus dem Raum schlenderte - mit einem arroganten Spartakus an seiner Seite, der die Frechheit besaß, ihr zuzuwinken. Sie musste etwas unternehmen, das Rechtssystem musste verändert werden und Prof. Aurelia würde dafür sorgen. Oh ja, das würde sie.