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Die Chili-Kobra
Ein Idiot im grünen Cabrio! Steht am Stoppschild, schaut mir in die Augen und fährt los.
Meine Reifen quietschen fürchterlich. Eine leere Flasche schießt unter dem Sitz hervor. Durchs offene Fenster dringt Gestank von verschmortem Gummi.
Das wäre doch ein tolles Finale dieser Neunstundenfahrt - ein schöner Crash vorm Hotel! Ich springe aus meinem Wagen und will ihm an die Gurgel, doch der fährt unbeeindruckt weiter. Ich brülle hinter ihm her und zeige den hochgereckten Mittelfinger. Aber so ein Arschloch blickt nicht in den Rückspiegel.
Die fünf Palmen vor dem Hotel betrachten mich spöttisch von oben herab. Nein, das bilde ich mir nicht ein, das ist so.
Ich gebe dem Wagenmeister die Autoschlüssel, recke und strecke mich. Dann betrete ich das Foyer.
Das Herumbrüllen hat mir nicht gut getan. Mein Tinnitus meldet sich zurück - ein Zug donnert durch meine Ohrentunnel. In der Ferne vernehme ich helle Schläge auf Metall. Ich brauch’ einen deftigen Schluck, egal was.
Untersteh’ Dich!
Eine hochgewachsene, wunderschöne junge Dame bringt kleine Päckchen zur Rezeption und stapelt sie. Das dichte blonde Haar trägt sie offen, ihr Blick streift mich und ich hoffe, dass sie mich wahrgenommen hat.
Doch wozu? Ich bin in einer ziemlich miesen Verfassung. Graue Schlieren drängen ins Bild. Ich beuge mich über den Empfangstresen und ringe nach Luft.
„Kann ich Ihnen helfen, Señor?“
Ich erstarre. Ich glaube diese Stimme zu kennen, ich höre sie oft in meinen wirren Gedanken.
Sie scheint vom Himmel zu kommen.
Ich schaue nach oben: Sandrine! Klar und deutlich wie in der Wirklichkeit. Eine Halluzination am hellen Tage?
Wäre nicht das erste Mal. In Trujillo stand ich einmal vor einer sehr alten Kirche. Die ragte hoch auf mit einem mächtigen, überhängenden Fries voller ramponierter Figuren. Sandstein. Plötzlich verbreiterten sich die Mauerrisse, der ganze überladene Oberteil wankte, löste sich hoch über mir und stürzte dann unfassbar langsam auf mich herab. Ich bin überspannt, verspüre ein Zucken im Gesicht, einen mächtigen Druck in den Augen. Sandrine!? Das muss wahr sein! Sie steht auf dem Treppenabsatz und schaut mich reserviert an.
Es sticht zwischen den Schultern, meine Kopfhaut brennt. Oder ist es das Hirn?
Ich schaue ungläubig zu ihr auf, mir entweicht alle Atemluft: „Das glaub’ ich nicht!“
Sie sieht mich viel zu ernst an, unschicklich ernst für eine Rezeptionistin. Muss die nicht immerzu lächeln?
Nein, Sandrine nicht. An einem bestimmten Tag hat sie gesagt, dafür gäbe es keinen Grund.
Ich kann ihrem Blick nicht standhalten, kann auch nichts denken, weiß nicht – weiß gar nichts. Mit rasendem Puls gebe ich der jungen Frau am Empfang meine Reservierungskarte. Ich tippe meine Daten ein und muss mich unerträglich konzentrieren. Sandrine!
Ihre Kollegin fragt besorgt: „Ist Ihnen nicht gut?“
Der Tunnel ist endlos, die Waggons donnern. Immerzu diese Metallschläge. Die junge Frau schaut mich an, ihr Mund bewegt sich. Ja, sie meint mich. „Ah“, fahre ich hoch, „entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit!“
„Möchten Sie ein Glas Wasser? Oder einen Café?“
Ich zögere.
Sie sollte mir einen Brandy anbieten.
„Wasser, Café, wie Sie wollen“, sage ich, verlegen wie ein Bub.
Sandrine ist die Treppe heruntergekommen.
„Danke, Victoria, ich mach das schon.“ Einen Café bekomme ich, mit braunem Zucker, wie immer, wie damals - und ein Wasser, kein Feuerwasser.
Ich konzentriere mich auf das winzige Tässchen, als ob ich mit diesem Trick alles andere ausblenden könnte. Überall sonst auf der Welt wäre ich jetzt lieber als hier.
Ich habe mein Gesicht nicht unter Kontrolle. Die Spannung um den Mund und über den Augen macht mir zu schaffen. Sandrine sollte mich nicht in dieser zerknitterten Phase anschauen; etwas abseits finde ich einen bequemen Sessel.
Ich fühle mich unsäglich. Das muss jetzt siebzehn Jahre her sein. Und nun? Schnelle Abreise, wie immer?
Manchmal glaube ich an Fügung, manchmal lache ich darüber. Aber mein letztes Lachen liegt lang zurück.
Ich habe mich damals schlimm benommen, bekam Panik.
Widerlich, diese Zyniker: ’Herzlichen Glückwunsch zur Vaterschaft!’ und ‚Hallo Papi!’ Aber denen habe ich die Augen blau geschminkt, bevor ich abgehauen bin, auf Große Fahrt.
Da fing die Sauferei an. War ja nur Elite an Bord, komische Vögel, die an Land nicht klarkamen. Die sich gegenseitig beteuerten, wie super sie seien. Wer am meisten saufen konnte, wurde Bootsmann.
Da hätte ich eigentlich Käpt’n sein müssen, aber wir hatten schon einen.
Mir schießen krude Gedanken durch den Kopf; Hauen und Stechen in einem. Ich nenne mich ein charakterloses Schwein, sehne mich nach Rum und Cola. Fange gleich an zu weinen, ich armer Verführter, ich Opfer, das man um seine Jugend bringen wollte! Wenn ich weiter so fantasiere, glaube ich an meine eigenen Geschichten. Aber ich dachte wirklich, die Mädchen passen auf.
Sandrine kommt auf mich zu: „Hätte nicht gedacht, dir noch einmal zu begegnen.“
Ich stehe auf und schaue auf ihre Halskette. Weiß nicht, was ich sagen soll.
„Du sprühst nicht gerade vor Lebensfreude“, sagt sie.
„Wie auch. Hab nur Scheiße gebaut.“ Ich schaue ihr flüchtig in die Augen. Wotan – was für Augen! Die haben mich schon immer verrückt gemacht. Ich stehe unsicher.
„Lass uns hinsetzen“, sage ich.
„Tja, ich weiß nicht, ob wir uns was zu sagen haben“, zögert Sandrine, setzt sich aber doch. Die hübsche Blonde kommt herüber und beugt sich etwas nach vorn: „Die Japaner kommen etwas früher.“
Sandrine bleibt gelassen: „Kein Problem, ist alles fertig.“
Das kenne ich. Sie hat immer alles im Griff. Nur damals nicht. Oder gab sie nach, weil ich stärker war?
„Ach Isa, das ist übrigens Paul.“ Und zu mir gewandt: „Isa möchte dich kennenlernen.“
Ich verstehe nicht, versuche aber, sportlich-federnd aufzustehen, um Hallo zu sagen. Diese attraktive junge Frau will mich kennenlernen? Mein Gesicht zuckt, das spüre ich genau. Es sollte ein Lächeln werden.
Ich sage „Hey!“ und gebe ihr die Hand, doch die will sie nicht.
Meinen Gruß erwidert sie ebenso wenig, sondern haut mir kräftig eine runter. „Vielen Dank für die schönen Jahre, ich hatte unendlich viel Spaß!“
Sandrines Augen werden riesengroß. Sie hält schockiert die Hand vor den Mund. Dann springt sie auf und schiebt die blonde Isa wortlos von mir weg.
Ich verspüre ein mächtiges Dröhnen im Kopf. Ist das jetzt live? Der Entzug?
Meine Wange brennt, der ganze Kopf steht in Flammen. Das war nicht die Ohrfeige allein.
Ich bin völlig perplex.
Dennoch schalte ich schnell.
„Tolles Mädchen!“, sage ich, laut genug, damit es Sandrine noch hören kann. Die macht ein gequältes Gesicht, hebt die Arme halbhoch und zeigt mir hilflos die offenen Handflächen.
Ich weiß, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben. Ich muss nach draußen. Ich kann das nicht so schnell verarbeiten, den plötzlichen Stolz, meine miese Position.
Als ich unter den hämischen fünf Palmen stehe, kommen die ersten Tropfen.
Es kommen noch mehr, viel mehr. Sie werden dicker und schneller. Der Wind wird stärker. Bleibt nur die Hotelbar.
Die ist vom Foyer durch eine gläserne Wand getrennt. Für den Bargast vorteilhaft – so sieht er, wer kommt und geht, und muss nicht wie anderswo in die Flaschenbatterie glotzen.
Eine Hotelbar, die mir wirklich gefallen hätte, habe ich noch nie gesehen. Doch erfüllen sie alle ihren Zweck, dafür müssen sie nicht schön sein.
Die Atmosphäre ist überall gleich: ‚Hallo’, sagen sie, ‚hallo, Fremder!’, und zeigen bereitwillig ihre Elixiere und Präparate aus der ganzen Welt, mit denen sie die Leiden des gehetzten Reisenden lindern wollen - solche Sachen wie Frust, Einsamkeit und Lebensangst.
Der Keeper schaut an mir vorbei: „Hallo, Fremder! Was wünschen Sie.“
Nein, ich spinne. Er sagt „Guten Abend, Señor. Was wünschen Sie?“ und schaut mich dabei an.
„Oh, ach ehm“, stammle ich, „ich glaube, ich studiere erst mal die Getränkekarte.“
So bekomme ich eine Galgenfrist. In meinem Kopf wirbelt es. Seltene Malts, neun Sorten Gin, Wodka ... aber auch anderes. Ich entscheide mich für Mate, mit Silberröhrchen.
Mate finde ich blöd. Aber er enthält keinen Alkohol - dieses Scheißzeug. Unbegreiflich, dass man diesen Mist in sich hineinkippt.
Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich das nur so vor mir hersage, denn mein Inneres ist ein Truppenübungsplatz. Panzer pflügen durch die Organe, lösen Krämpfe aus und Koliken. In den Herzkammern rattern Maschinengewehre, Pioniere zünden eben gelegte Minen und ein Soldat ohne Beine erschießt seinen Hauptmann – und dann sich. Ich müsste dem Keeper nur einen Wink geben, und die Verrückten in mir würden die weiße Fahne hissen und mir Ruhe schenken und inneren Frieden.
Ich habe nie etwas verstanden; war auch nie sicher, wie es um mich steht. Orientierte mich an tausend Trends, dachte, dass die mir Kompass sein könnten, aber das ist nichts für mich.
Ich muss mein eigenes Ding drehen, meiner eigenen Überzeugung folgen. Und ich verachte Leute, die ständig mit Rückenwind segeln, all die Anpasser, Wendehälse, jene mit dem stets richtigen Parteiabzeichen – oder mit einem etwas zu groß geratenen Kreuz auf der Brust. Ekelhaftes Gekräuch. Viel zu clever, um zu scheitern. Trinken in der Öffentlichkeit zwei, höchstens drei Gläser – und den Rest zu Hause.
Aber ich brauche diese Typen, um mich an ihnen zu reiben. Ganz gleich, wie viel Kraft das kostet.
Paolo hat mich stark gemacht, aber ein Verdienst war das nicht. Das war nur die Folge seines Abtauchens. Ließ meine Mutter sitzen mit dem Blag, das ich war. Dem hätte ich gern so eine reingehauen, wie das Isa mit mir gemacht hat. Nur hätte ich die Faust genommen.
Wie schäbig mich die sogenannten Klassenkameraden behandelten – den Bastard, den Halbitaliener ohne Vater! Ja, Scheißvater. Ich hab zurückgespuckt, zurückgeschlagen, zurückgetreten. Bis sich mir keiner mehr in den Weg stellte, bis sie zurückhumpelten zu ihrem Papa, der sie auf den Schoß genommen hätte, wenn sie nicht schon so groß gewesen wären. Hass, ja Hass stieg in mir auf. Musste ich deshalb Tankzüge und Tankschiffe aussaufen? Irgendwann begann ich, mich selbst zu hassen.
Und als der Hass größer wurde, ich unberechenbar wurde, für andere, auch für mich, da musste ich den smarten Kerl raushängen lassen – fing an, Tatsachen zu verdrehen, Rechtfertigungen zu erfinden, mich mit Illusionen und paranoiden Märchen über Wasser zu halten.
Ich fiel auf die Fresse, kam wieder auf die Beine, wie eine Kakerlake, wollte nur weiterleben. Wenn die Lambada-Girls winkten, lief ich barfuß über kochenden Asphalt; stürzte mich blutig bei Blitzeis, weil ich nicht zu Hause bleiben konnte. Soff Rasierwasser und Chablis.
Nichts hab ich kapiert. Hatte auch keinen, der mir was gesagt hätte. Aber so einen Vater wie Karl-Heinz brauchte ich nicht, auch wenn der seinen Sohn mit in den Puff nahm. Ich wusste auch so, wo er reingehört. Zwei Mütter meiner lieben Mitschüler hatten es mir gezeigt.
Die Bedienung füllt mein Erdnussschälchen auf und fragt, ob ich mehr heißes Wasser wünsche. Ich lehne dankend ab und weiß nicht, wie lang ich das noch durchhalte.
Der Barkeeper hat mich sowieso durchschaut.
Dieser Ort ist furchtbar. Mir zittern die Hände, unter den Achseln bin ich nass, hier kalt, dort heiß. Ich muss etwas Richtiges trinken.
Ich gehe noch mal zur Rezeption. Ich will den zweiten Tag canceln, scheiß auf die Messe. Hier kann ich nicht bleiben.
Ein Mann in korrektem Anzug kommt hinzu und fragt nach dem Direktor.
„Der Direktor ist zur Zeit nicht im Hause, aber die Besitzerin ist im Büro“, sagt die Rezeptionistin sehr höflich. „Darf ich fragen, worum es geht?“
„Nun, das würde ich Ihrem Chef gern persönlich sagen. Aber im weitesten Sinne geht es um den Anschluss Ihres Hauses an unser Unternehmen – die Phönix-Hotels Inc. Bitte, hier ist meine Karte.“
„Wenn Sie einen Moment warten würden - ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Ja, danke. Sehr freundlich. Ich weiß, es ist schon über die Zeit, aber mein Flug hatte Verspätung.“
Der Typ sieht gut aus. Mann von Welt. Gegen so einen zu bestehen, ist nicht einfach. Sein Englisch ist tadellos, doch ich glaube, er ist Franzose.
Ich weiß nicht, warum sich Männer immer miteinander messen müssen, doch weiß ich, dass das bei Frauen auch so ist.
Die freundliche Rezeptionistin kommt rasch zurück. Sandrine begleitet sie und wendet sich dem Mann zu.
„Ja? Ich hörte, Sie wollten mich sprechen?“
Ich nehme mir zwei, drei Flyer von irgendwas und trete an die Fensterfront.
Ich lehne meinen heißen Kopf gegen die beschlagenen Scheiben. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur Resignation. Die Vorstufen Humor, Ironie und Zynismus habe ich schon durch.
Verschwommen sehe ich, wie der Sturm die fünf unsympathischen Matronen durchschüttelt. Ihre Fächerpracht fliegt ihnen um die Ohren. Denen wünsche ich einen Tornado mit Blitzschlag.
Und mir einen schnellen Tod.
Ich bemühe mich um Gelassenheit und schlendere zurück zum Bartresen. Da ich die Getränkekarte schon kenne, nehme ich den ‚Implosion’. Nach dem war mir schon vorher zumute. Dem Blick des Barkeepers weiche ich aus.
Er arbeitet versiert und im Zaubertempo steht ein dicker Tumbler vor mir. Über dessen Rand krümmt sich eine gegrillte Chili wie eine Kobra im Angriff - bedrohlich und todbringend. Ich stutze einen Moment.
Im Foyer erscheint eine asiatische Reisegesellschaft, etwas unsicher ist ihr Auftreten, etwas zögerlich. Doch auf einen Schlag ist alles gut, Isa verteilt die hübschen Päckchen, gestikuliert, macht Scherze und alle Gesichter strahlen.
Ich greife entschlossen zu. Zerbrösle die Chilikobra in die Mischung aus Wodka, Noilly Prat und Bourbon und schiebe das Glas weg. Einen Zehner lege ich daneben.