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Die Chance
Ich treffe sie in der Mensa. Mein Onkel hat den Treffpunkt vorgeschlagen, wahrscheinlich, um Geld zu sparen, sollte ich nicht für sie zahlen. Zum Glück habe ich das hinter mir, diese Plastikmöbel und das Neonlicht und der Hähnchenspieß Paprika für 1,50 Euro.
Als ich an den Tisch trete, an dem ich sie vermute, schnellt sie nach oben. Ganz aufrecht steht sie da, artig, und streckt mir ihre Hand entgegen: „Katerina.“
„Ich weiß“, sage ich. „Oskar. Du hast also Schwierigkeiten mit deinem Visum.“
Ihr Deutsch ist ziemlich gut, überraschend gut. Was sie mir erzählt, weiß ich natürlich schon von meinem Onkel.
Den Rest, den Hintergrund, das vielleicht Entscheidende lässt sie weg. Aber das weiß ich auch. Mein Onkel ist 40 Jahre älter als sie, sitzt im Rollstuhl und ist ein Arschloch. In der selben Wohnung wie er, wie Katerina, lebt auch seine Mutter, die nicht einmal mehr Rollstuhl fahren kann, sondern im Bett liegt und dreimal am Tag gewickelt werden muss. Wozu mein Onkel keine Lust hat.
„Man kann nicht mit einem Schengenvisum einreisen und dann den Aufenthaltstitel erhalten, den du möchtest“, erkläre ich ihr. „Warum hast du dir nicht ein Heiratsvisum besorgt?“
Ich möchte an einer Zigarette ziehen und dabei so tun, als ob ich nachdenke, aber hier drin darf man nicht mehr rauchen. Also sage ich’s ihr einfach: „Ich kann dir helfen. Ich habe zwar noch nie im Aufenthaltsrecht gearbeitet, aber bei den meisten Ämtern reichen ein paar Paragraphen und der Anwaltsstempel. Zumindest einen Aufschub, eine Verlängerung in ein nationales Visum bekomme ich sicher.“
Jetzt strahlt sie mich an. „Ich hole noch ein Kaffee,“ sagt sie. Ich sehe ihr nach, wie sie zur Verkaufstheke spaziert. Wie alle jungen Frauen in diesem Sommer trägt sie hautenge Jeans. Ich kann den Blick nicht abwenden.
Als sie zurückkommt, scheint sie in meiner Miene lesen zu können. Ihr Lächeln wird schwächer und sie schlägt die Augen nieder.
Wir treffen uns an ihrem freien Abend. Nur einmal die Woche und unter Warnungen meines Onkels darf sie das Haus verlassen. Sie behauptet, dass sie spazieren geht, sich mit einer Freundin trifft.
Aber sie kommt zu mir. Meist sprechen wir nicht. Sie klingelt, ich öffne und ziehe sie an mich. Es erfordert einige Kraft, diese engen Jeans herunterzukriegen.
Ich betrachte sie. Auf der linken Brust hat sie eine kleine, kreisrunde Narbe, wie von einer Zigarette. Ich habe es bislang vermieden, zu fragen, woher diese stammt. Im Übrigen ist ihr Körper vollkommen makellos. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie je jünger war oder je älter würde.
Sie zieht die Bettdecke über die Hüfte und greift nach ihren Lightzigaretten.
„Warum bist du nach Deutschland gekommen,“ frage ich sie.
Sie zögert einen Moment, vielleicht überlegt sie, ob sie mir die Lüge erzählen muss, von Glück und Liebe, dann sagt sie: „Schau, zuhause haben wir gar nichts. Keiner hat etwas, wo ich herkomme. Ich bin weißrussische Meisterin gewesen in 400 Meter Lauf, zwei Mal. Und trotzdem haben wir im Winter kein Gas. Wir schlafen neben dem Herd in der Küche. Statt Arbeit gibt es Vodka. Ich geh nie mehr zurück, nie mehr.“
Ich habe noch keine solche Frau im Bett gehabt. In dieser Hinsicht habe ich kein Glück mit meinen dünnen roten Haaren und meinem Vornamen, der mein Äußeres noch unterstreicht. Und nun Katerina. Sie macht alles mit. Sind ihre Abgründe, ihre Fantasien den meinen so ähnlich? Tut sie es nur, weil sie alles tun würde, um hier zu bleiben? Was immer ich sage, sie macht es. Sie stöhnt und keucht, das klingt echt.
Dann redet sie von dem Trainerschein und dem Sportstudium, das sie beginnen möchte. Doch wann?
Ich habe den Antrag an die Behörde fertig diktiert. Meine Sekretärin klopft an und ich reiche ihr die Aufnahmebänder der anderen Schriftsätze. Die Kassette mit dem Antrag schiebe ich in die Schreibtischschublade.
„Ich ertrage deine Onkel nicht mehr." Aus ihren Augenwinkeln fließen Tränen. " Er ist ein Schwein. Ich will nicht bei ihm bleiben! Und zurück will ich nicht!“ Sie weint noch eine ganze Weile, dann fragt sie: „Hast du schon etwas von der Behörde gehört?“ Ihre Hand streicht über meinen Bauch.
„Tut mir leid. Die Mühlen der deutschen Bürokratie mahlen gründlich, aber langsam.“ Ich ziehe sie an mich. Ihre Haut ist so glatt. Darunter kann ich ihre Knochen fühlen.
Nachts träume ich, wie mein Bürotelefon läutet. Ich habe nur eine winzige Kanzlei, doch in dem Traum muss ich durch verzweigte Gänge eilen, um zu meinem Zimmer zu gelangen. Das Telefon klingelt und klingelt. Ich weiß, es ist persönlich ist, es ist wichtig. Ich erreiche meine Tür, renne zum Schreibtisch und hebe ab. Katerina. Ich merke an ihrer Stimme, dass etwas nicht in Ordnung ist, sie in Schwierigkeiten sein könnte aber sie wiederholt immer nur meinen Namen und wenn ich sie frage, wo zum Teufel sie steckt, sagt sie wieder und wieder nur meinen Namen, bis ich sie anschreie und sie dann auch schreit oder kreischt, langgezogen und hell, ein Püppchenschrei, ein Babyschrei und als ich auflege kann ich es noch immer hören.
Am Samstag fahre ich in einen Stadtteil, den ich sonst nie betrete und gehe in einen Sexshop. Ich drücke mich eine Weile an den Regalen mit den Zeitschriften und DVDs herum, dann steuere ich die Wand an, von welcher Metallklemmen, Handschellen und Lederpeitschen hängen. Ich befühle die Materialien. Das Leder ist kalt. Ich lasse die Schnüre durch meine Finger gleiten.
Zuhause platziere ich die Tüte neben meinem Bett und öffne mir ein Bier. Ich trete auf den Balkon und atme die kalte Abendluft ein. Sie schmeckt nach Rauch und Feuchtigkeit. Noch zwei Stunden.
Meine Hände zittern als ich den Türöffner betätige. Heute ist kein Abend für Worte. Ich packe sie an der Schulter und ziehe sie in die Wohnung. Drücke sie mit dem Rücken an die Wand. Doch nach dem Schreck in ihren Augen sehe ich die blauen Halbmonde darunter und lasse sie los. „Dein Onkel,“ sagt sie.
Ich trete auf den Balkon. Die Luft ist noch immer schwer und feucht, voller Rauch.
Wenn ich ihn anzeige, wird er die Scheinehe annullieren lassen und sie wird nach der Verurteilung ausgewiesen. Sie müsste sich scheiden lassen, ein besonderer Grund läge durch die Gewalt vor. Und ich müsste sie heiraten.
Dann könnte sie ihr Sportstudium beginnen.
Und würde mich nach einem Jahr verlassen. Denn dann wäre sie angekommen und hätte jeden Tag zehn mal schönere, tausend mal nettere Männer um sich als mich. Ein Jahr. Noch ein Jahr.
Und was, wenn es nicht stimmt? Sie wäre nicht die erste Frau, die sich selbst verletzt. Was, wenn sie mich anlügt?
Das Telefon läutet. „Bist du es,“ keucht mein Onkel. „Du bist es, du Verräter. Ich weiß, dass ihr euch trefft. Ich werd sie fertigmachen, wenn sie nach hause kommt.“
Ich antworte nicht.
„Bist du noch dran?,“ fragt er.
„Ich bin noch da,“ sage ich. „Ich bin da“ und sehe zu Katerina.