Die Brillenträger-Arschkarte
Ich trage eine Brille, ich glaube, seitdem ich ungefähr 12 Jahre alt bin. Ohne das Gestell geht in meinem Alltag nichts mehr. Nur schlafen und duschen kann ich ohne Sehhilfe, bei allen anderen Aktivitäten bin ich auf das Nasenfahrrad angewiesen.
Schwimmen habe ich vergessen. Dass die Brille dabei am besten im Trockenen bleiben sollte, habe ich ziemlich schnell festgestellt. Mein erstes Negativerlebnis mit der neuen Gesichts-App hatte damit zu tun, dass ich an einem heißen Sommernachmittag in den kühlen Fluss meiner Stadt sprang und mich nach dem Auftauchen wunderte, warum die Umgebung plötzlich unscharf geworden war. Ich hatte die Brille aufbehalten, merkte ich dann. Und die war nach dem Kopfsprung wahrscheinlich langsam durch das trübe Wasser bis auf den schlammigen Grund des Flusses gesunken. Ein paar Jahre später wurde das Flussbett für ein paar Tage für Bauarbeiten trockengelegt. Ich suchte tatsächlich den Bereich meines einstigen Tauchgangs ab und hoffte, aus dem Schlamm den grünen Bügel meiner ersten Brille zu entdecken. Vergebens.
Brillenträger haben es nicht leicht. Das geht bei den blöden Sprüchen los. Meine Favoriten waren „Ey, Vierauge!“ und „Was guckst du denn durch das Fenster, komm doch rein“. Im Sportunterricht musste ich immer aufpassen. Beim Fußball bekam ich ständig den Ball ins Gesicht. Kopfbälle habe ich immer vermieden. Oft saß ich geknickt am Spielfeldrand und versuchte, das verbogene Gestell wieder in die richtige Form zu bekommen. Einmal brach dabei ein Bügel ab. Das sah dann auf dem Weg nach Hause richtig bescheuert aus. Regelmäßig musste ich zum Optiker, entweder, um das zerknüllte Gestell zu reparieren, oder um gleich ein neues zu bestellen.
Heute bin ich sehr viel vorsichtiger geworden. Auf Fußball verzichte ich ganz, ebenso auf Kopfsprünge ins Wasser. Und Hänseleien gegenüber Sehbehinderten haben in den vergangenen Jahren nachgelassen. Dem Nerdbrillentrend sei Dank.
Doch die Konflikte sind nicht weniger geworden. Das ständige Putzen der Brille wird mich wahrscheinlich noch bis ins Sterbebett begleiten. Ständig sind Flecken oder Fussel auf den Gläsern. Nach dem Zähneputzen ist alles voller Wassertropfen. Und brate ich mir in der Küche mein Schnitzel, wundere ich mich hinterher, warum es in der ganzen Wohnung so neblig ist. Dabei sind das nur die Fettspritzer auf den Gläsern.
An die Beeinträchtigung der Sicht beim Duschen habe ich mich gewöhnt. Ob ich mir Shampoo oder Scheuermilch in die Haare schmiere, kann ich zwar nur an der Farbe der Flasche und nicht an der Aufschrift erkennen, aber das funktioniert. Letztens habe ich mich jedoch über einen großen schwarzen Fleck an den Fliesen der Duschkabine gewundert. Im ersten Moment dachte ich an Staub oder Schimmel, während ich mich konzentriert mit Duschgel überschüttete. Kurz darauf wurde meine Neugier zu groß. Ich näherte mich mit dem Gesicht dem Fleck, bis meine kurzsichtigen Sehorgane nur noch wenige Zentimeter davon entfernt waren. Dann stellte sich das Objekt plötzlich scharf und ich schreckte zurück. Eine Spinne! Kein Fleck, sondern eine große schwarze Spinne! Ich hatte die letzten Minuten nur wenige Zentimeter von einer großen schwarzen Spinne entfernt verbracht. Und das nackt! Eine Phobie habe ich zwar nicht, aber in meinem Gesicht möchte ich so ein Ding nicht haben. Vorsichtig behielt ich das Tier im Auge. Es schien ebenso erstarrt zu sein wie ich. Ich beendete meine Reinigung und stieg aus der Kabine. Am nächsten Tag war die Spinne weg und ich habe sie nie wiedergesehen. Wahrscheinlich war sie hinterher genauso verstört wie ich. Und als sie abends nach Hause kam, hat sie zu ihrer Frau gesagt: „Du glaubst nicht, was mir heute bei der Arbeit passiert ist. Plötzlich stand ein nackter Mann vor mir!“ Oder so…
Im Winter haben Brillenträger besonders hart zu kämpfen. Vor allem, weil die Brillengläser sofort beschlagen, wenn man nach nur wenigen Minuten in der Kälte ein warmes Gebäude betritt. Der Besuch der Stammkneipe, in der man sich mit Freunden verabredet hat, läuft beispielsweise so ab: Kurz nach dem Betreten des mit schwitzenden Menschen gefüllten Raumes beschlägt die Brille so sehr, dass die Gläser aussehen wie die Milchglasscheibe auf der Gästetoilette. Ich nehme das Gestell ab und kneife die Augen zusammen. Das bringt nicht nur nichts, sondern sieht auch noch bescheuert aus. Meine Freunde haben mich natürlich längst entdeckt und winken mir wild von ihrem Tisch in der Ecke zu. Ich sehe sie nicht. Ich stolpere mit zusammen gekniffenen Augen von links nach rechts und rempele hier und da eine verschwommene Gestalt an. Ab und zu scheint mich jemand zu grüßen. Aber ich erkenne niemanden.
Dann öffne ich eine Tür. Ich höre erschrockenes Kreischen und bekomme eine Ohrfeige. Huch, das war wohl die Damentoilette. Wie gut, dass ich bei der Ohrfeige meine Brille nicht aufhatte. Ich taste mich zurück. Kurz bevor ich den Ausgang erreiche, zerrt mich jemand am Arm herum. Einer meiner Kumpels hat sich vom Tisch in der Ecke auf den Weg gemacht, um mich abzuholen. Er bringt mich zu meinem Stuhl. Ich muss mich schweißgebadet ausruhen und Luft holen. Nach ein paar Minuten ist auch die Brille wieder durchsichtig. Jetzt ich kann wieder an der Wirklichkeit teilnehmen und endlich ein Bier bestellen.
So ähnlich erging es mir vor kurzem auch bei dem Besuch einer Bäckerei. Draußen war es winterlich kalt und ich befand mich früh morgens auf dem Fußweg ins Büro. Dabei kam ich an der Bäckerei vorbei, in der ich mich regelmäßig mit Proviant für meine Mittagspause versorgte. Nachdem ich den Laden betreten hatte, ging erst einmal gar nichts mehr. Mit dem Wechsel von den minus drei Grad Außentemperatur zu den gefühlten plus 34 Grad in der molligen Backstube kam meine Brille mal wieder nicht klar. Wieder hielt ich das Gestell in der Hand und wedelte hilflos damit herum, in der Hoffnung, dass sich meine Sehhilfe schnell akklimatisierte.
Doch soviel Geduld schien die Verkäuferin nicht zu haben.
„Was darf es denn sein?“, richtete sie lächelnd, aber bestimmt, das Wort an mich.
Hilflos die Augen zusammenkneifend bewegte ich mich auf den Verkaufstresen zu und drückte meine Nase an die Glasscheibe. Für mich sah dahinter alles gleich aus.
„Was ist denn das da leckeres?“, fragte ich, während ich auf einen unscharfen Klumpen deutete.
„Das ist unser Putzschwamm“, sagte die Verkäuferin. „Nicht sehr nahrhaft. Aber wenn sie möchten, mache ich ihnen den kurz in der Mikrowelle warm.“
„Ach so… ja… das weiß ich doch“, stammelte ich verlegen. „Ich meine doch das belegte Brötchen daneben…“
„Ah, sie meinen unseren Körner- und Kraut-Kracher.“
„Ja, genau den…“
Ohne genau zu wissen, was ich da gerade gekauft hatte, packte ich mein Mittagessen ein und ging weiter zur Arbeit. Den ganzen Vormittag konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Zu gespannt war ich, was es bei mir später zu essen geben würde. Es war ein bisschen wie damals in der Schule, als ich nicht wusste, ob Mutti mir eklige Sülze oder leckere Leberwurst aufs Pausenbrot geschmiert hatte.
Der Körner- und Kraut-Kracher entpuppte sich als riesiges dreieckiges Körnerbrötchen, belegt mit Kasslerbraten und Krautsalat. Das Teil war fast so groß wie mein Mauspad und ziemlich lecker.
Ich gehe seitdem immer ohne Brille zum Bäcker. Auf den kleinen Kick in der Mittagspause möchte ich nicht mehr verzichten.