Die Brille
Er schaute mich an. Seine Brille war gross und ganz offensichtlich hatte er sie schon seit längerem nicht mehr geputzt. Und obwohl er zu mir sprach, wollte es mir nicht gelingen, etwas anderes wahrzunehmen als diese Brille. Sie wirkte wie ein Fremdkörper in seinem Gesicht. Nicht das sie nicht zu ihm gepasst hätte; nein, ich glaube, sie hätte zu niemanden gepasst. Sie war groß und viereckig und die kleinen Fettflecken auf den Gläsern haben scheinbar eher mich als ihn irritiert. Wahrscheinlich hat er sie nicht einmal bemerkt, zu sehr schien seine Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was er sagte. Und hätte er die Flecken bemerkt, so hätte er sicher nicht ein Tuch genommen und die Brille geputzt, so gut kannte ich ihn schliesslich. Auch wenn es komisch klingt, aber das Putzen von Brillen in feinen Restaurants wäre für ihn so etwas wie „nicht standesgemässes Benehmen“ gewesen. Keine Ahnung, wo er diese oder ähnliche Regeln her hatte. Aber es gab sie für ihn und er hielt sich daran.
Menschen, die diese Regeln nicht einhielten, waren ihm verdächtig. So bemängelte er auch den für seinen Geschmack schon etwas zu kumpelhaften Ton des Kellners, der die Bestellung aufgenommen hatte. An diesem Abend stellte er seine Ordnung wieder her, indem er im Umgang mit dem Kellner auf jegliche Freundlichkeit verzichtete, sich dafür aber um so häufiger über die lange Zeit, die er auf sein Essen wartete, beschwerte.
Der Hauptgang wurde serviert und ich war irgendwie darüber überrascht, wie wenig sich davon auf meinem recht großen Teller befand. Ich musste schmunzeln und dann noch mehr schmunzeln als ich mir vorstellte, dass das Essen auch locker auf den Brillengläsern von ihm hätte Platz finden können. Diese Vorstellung würde auch die Fettflecken auf seiner Brille rechtfertigen. Ich bemühte mich mein wachsendes Schmunzeln nicht in ein lautes Lachen übergehen zu lassen. Ich hätte das nicht erklären wollen. Vor allem nicht in dieser Situation, in der er gerade dabei war, mir aus seinem Leben zu erzählen. Da wollte ich ihn wirklich nicht unterbrechen, selbst wenn ich das, was er sagte schon bestens kannte. Er sprach von Erfolgen: objektiven Erfolgen, für jeden sichtbare Erfolge, hauptsächlich beruflichen Erfolgen. Ich war immer noch damit beschäftigt, mein Lachen zu unterdrücken. Das einzige was helfen konnte war Ablenkung. Ich betrachtete also die Blumen, die auf unserem Tisch standen und konzentrierte mich auf das, was er sagte. Ich hörte genau hin, so genau wie schon lange nicht mehr. Das Lachen verschwand und es breitete sich eine Ruhe in mir aus, die ich in den Gesprächen mit ihm sonst nie empfunden hatte. Nicht einmal die Pausen, die er beim Sprechen machte, beunruhigten mich. Früher waren sie ein Ärgernis. Ich wollte die Pausen nutzen um zu antworten, nur fiel mir leider nie etwas ein, was ich hätte sagen können, da er seine Geschichten so erzählte, dass man einfach nichts dazu sagen konnte! Jetzt sass ich einfach da und hörte ihm zu. Ich schaute ihm in die Augen und als er eine Pause machte, um einen Schluck Rotwein zu trinken, hatte ich fast schon ein wenig Mitleid mit ihm. All dieses ganze Gerede von Erfolg, was ist ihm daran so wichtig? Wieso hat er noch nie erzählt, wie er seine Frau, mit der er schon seit 30 Jahren verheiratet ist, kennengelernt hat? Was ist mit den kleinen Dingen, die das Leben so schön machen? Den Kleinigkeiten, an denen man sich festhält, wenn es einem nicht gut geht? Oder den Kleinigkeiten, die einen so herzhaft zum Lachen bringen? So wie diese, diese riesengrosse Brille auf seiner Nase!!!! Meine Augen wanderten von den Tischblumen zu seiner Brille und ich brach in ein heftiges Lachen aus. Ein unkontrolliertes, heftiges, pulsierendes Lachen. Mein Gott, diese Brille!!! Meine Augen wurde ganz feucht vom Lachen und als ich mich langsam beruhigte stellte ich mir vor, dass er mich die ganze Zeit so verschwommen gesehen haben muss wie ich ihn jetzt – bei den Fettflecken auf der Brille!!! Und eine zweite Welle des Lachens überrollte meinen Körper, liess mir kaum Zeit zu atmen und das einzig nützliche was ich jetzt noch zustande brachte, war, meinen Bauch zu halten, der mir vom Lachen schon arg weh getan hat. Meine Güte.
Als ich wieder einigermassen klar war schaute ich ihn an. Er lächelte mich an. Und das obwohl, die Blicke der anderen Gäste auf unseren Tisch gerichtet waren. Ich genoss seinen wohlwollenden Blick. Wahrscheinlich war er menschlichen Gefühlen gegenüber, ich meine solchen abseits vom Erfolgsgefühl, offener als ich vermutete. Zwar wunderte mich, dass ihm die ganze Aktion nicht peinlich war, aber ich fragte nicht weiter nach. Schliesslich war der Abend schon weit fortgeschritten und ich hatte mein Pulver für ernste Gespräche durch meine Lachattacken schon verschossen. Wir unterhielten uns noch ein kurze Weile und entschieden uns zu zahlen. An der Garderobe half uns der Kellner in die Mäntel. „Gestatten Sie mir noch eine Frage“ wandte er sich an mich.. Ich schaute ihn an und sagte „Ja, natürlich“. „Ich habe selten jemanden so herzhaft lachen hören, wie sie“ sagte der Kellner sehr höflich. „Ich will weder neugierig noch aufdringlich sein, aber würden sie mir verraten, was sie so zum Lachen gebracht hat?“. Er lächelt mich an. „Ach, wissen Sie, das war ein Witz den mir ein lieber Kollege aus dem Golfclub erzählt hat, sagte mein Vater. Man muss halt die die richtigen Leute kennen.“