- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Die Braut, die sie nicht war.
Tanja stand im Hotelzimmer, dunkle Balken zogen sich durch die weißen Wände, in der Nische ganz hinten, da stand das Bett. Das Bett, in dem sie mit ihm die heutige Nacht, ihre Hochzeitsnacht verbringen würde. Es schien ihr so fern, so unwirklich, so undenkbar. Ein Bett in der Hochzeitssuite, es war doch eigentlich Klischee und Kitsch und wunderbar zugleich und sollte es sich nicht richtig anfühlen? Gut? Sollte sie nicht singen und tanzen und sich freuen, doch sie stand vor dem Spiegel, betrachtete ihr Abbild, ihr Kleid, ihren Schmuck, die Haare auf toupiert, eingedreht, mit weißen Orchideen durchwoben sah sie sich und doch eine Fremde. Die Fremde war wunderschön, eine Braut wie aus dem Bilderbuch, geschmückt für den wichtigsten Tag ihres Lebens. Eine Frau, der sie zujubeln würde, die sie beglückwünschen würde. Doch diese Frau, das konnte nicht sie sein. Es konnte nicht sein und doch war sie es, ein Widerspruch, ein Paradoxon. Sie hätte weglaufen können vor einem Jahr, hätte nein sagen können, als Tim sie gefragt hatte. Doch sie war dagesessen und hatte ja gesagt. Ungelenk war er damals auf die Knie gegangen neben dem Tisch, darauf standen noch die Essensreste, Nudeln, Hähnchenknochen, Salat. Sie waren mit einem befreundeten Paar aus gewesen, bei dem Italiener, zu dem sie immer gingen. In der Ecke wartete der Kellner, Mario, er hatte den Sekt bereitgehalten. Hoffnungsvoll hatte Tim sie angesehen, fünf Jahre lagen hinter ihnen. Fünf Jahre, und nun glaubte sie nicht mehr zu wissen, wer sie war.
Sie waren jung gewesen als sie einander kennen gelernt hatten, sie sechzehn, er siebzehn. Klassisch, im Tanzkurs. In einem kleinen Raum war sie auf einem der hölzernen Stühle gesessen, ungelenk, schüchtern, zurückhaltend. Der Tanzlehrer, ein schlanker Mann, die blondgelockten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, schwebte auf Zehenspitzen über das Parkett. Er legte Musik auf, Rumba. Noch heute konnte sie den Duft des schweren Parfüms riechen, der damals in der Luft gehangen hatte, sie erinnerte sich an Wildrosen, Sandelholz, Patschuli. Dann sollten die Jungen die Mädchen auffordern, zielstrebig war er auf sie zugekommen. Er hatte eine kleine Verbeugung gemacht, ihr die Hand entgegengestreckt. Wie charmant, hatte sie damals gedacht. Noch nie hatte ihr einer den Hof gemacht. Nach dem Tanz verabschiedete er sie mit einem Kuss auf die Hand. Sie gab ihm ihre Nummer, sie waren miteinander ausgegangen, ins Kino, er lud sie zum Essen ein. Sie wurden ein Paar, mit ihm teilte sie ihren ersten Kuss. Sie verliebte sich in ihn, konnte nicht von ihm lassen. Sie telefonierten stundenlang. Damals, vor fünf Jahren. Seitdem hatten sie viel erlebt, der erste Sex, seine Ausbildung, ihre Schule. Sie hatte ihm Nachhilfe gegeben, in Englisch, Mathe. Er ihr kleine Geschenke gebastelt, Schatullen aus Holz für ihren Schmuck. Sie waren gemeinsam in Urlaub gefahren, es war wunderbar gewesen, damals. Sie hatten sich aufeinander eingelassen, so viel Zeit miteinander verbracht. Irgendwann hatte es nur noch sie beide gegeben, nicht mehr sie und ihn, nur noch als Paar. Es war ihr nie in den Sinn gekommen sich von ihm zu trennen. Und nun stand sie da und starrte die Fremde im Spiegel an. Vielleicht war der Wunsch in ihr gereift, ohne, dass sie es merkte? War sie unzufrieden? Und was sollte sie tun? Sollte sie alles wegwerfen, die letzten fünf Jahre, ihr gemeinsames Leben? Die Hochzeit? Hatte er sich verändert oder sie?
Das Klopfen an die Hotelzimmertür ließ sie aufschrecken. Ohne dass sie etwas sagen musste öffnete sich die Tür, dahinter ihre Trauzeugin, Maria. Ihre beste Freundin, oder doch seine? Sie hatten nur gemeinsame Freunde, irgendwann war alles verschwommen. Kein du und ich, es gab nur noch das große wir.
„Tanja. Bist du soweit?“, sagte sie. „Der Temin ist in einer halben Stunde, wir müssen los.“
Tanja nickte, sah noch einmal kurz zum Spiegel, die Fremde starrte zurück. Ja, sie müssten los. Das Standesamt. Sie bräuchten zwanzig Minuten dort hin, sonst kämen sie zu spät. Er hasste es zu spät zu kommen, immer machte er ihr Vorwürfe, kleine Sticheleien. Früher hatten sie zusammen darüber gelacht, heute konnte sie das nicht mehr.
„Kommst du?“
Wieder nickte Tanja, wandte sich Maria zu. „Ja.“ Auf dem Weg zur Tür nahm sie ihre Tasche vom Stuhl.
Als sie aus dem Hotel kam, saß Tim im Wagen. Er hatte ein weißes Cabrio gemietet, einen Oldtimer. Er lächelte sie an.
„Wo warst du denn?“, sagte er. Tanja öffnete die Beifahrertür. Sie mochte keine Cabrios, sie mochte das Gefühl nicht, wenn der Fahrwind über ihren Kopf strich. Er aber sprach von Freiheit, hatte sich gewünscht, den Wagen zur Hochzeit zu fahren.
„Ich habe mich noch fertig angezogen.“
„Die Leute warten doch auf uns.“
Wortlos stieg sie ein. Als er losfuhr spürte sie, wie der Wind an ihren Haaren zerrte.
„Du siehst wunderschön aus“, sagte er.
Sie aber nickte nur, sie hoffte, dass ihre Frisur halten würde, dass sie keine der Blumen verlieren würde. Die Häuser, die Passanten zogen an ihr vorbei. Es war ein warmer Tag im Frühling, doch sie nahm all das nicht wahr. Sie fragte sich, ob sie sich wohl nach der Hochzeit zu seiner Familie zugehörig fühlen würde, bislang waren seine Eltern ihr fremd geblieben.
„Kannst du mich vor dem Standesamt rauslassen? Ich würde ungern weit laufen.“
„Warum denn das?“
„Meine Schuhe…“
„Ach quatsch, so weit ist es nicht. Ich fahre ins Parkhaus. Dann können wir mit dem Lift hochfahren.“
„Ich würde aber wirklich gerne vorher aussteigen.“
Er blickte auf die Straße und schwieg einen Moment. Dann sah er zu ihr herüber. „Wenn ich dich vor dem Standesamt rauslasse, dann muss ich einen Umweg fahren. Wenn wir ins Parkhaus fahren ist es schneller. Und es ist wirklich nicht weiter. Und du musst keine Treppen steigen. Okay?“
Tanja nickte, wieder blickte sie nach rechts. Sie konnte das Standesamt schon sehen. Sie atmete aus, spürte wie die Luft langsam aus ihren Lungen entwich.
In kleinen Grüppchen war die Hochzeitsgesellschaft über den Flur verstreut. Ihre Eltern standen am Fenster, seine etwas weiter den Gang hinunter. Sie mussten warten, das Paar vor ihnen brauchte länger oder hatte zu spät angefangen, Tanja wusste es nicht. Schweigend saßen sie nebeneinander. Sie, in ihrem weißen Kleid und er, in seinem schwarzen Anzug. Im Anschluss mussten sie weiter zur Kirche. Sie hatten alles genau geplant, Standesamt, Kirche, Kuchen, Spiele, Abendessen, Tanzen, Hochzeitsnacht. Wie es wohl würde, fragte sie sich. Sie beide, verheiratet? Sie sah zu ihm hinüber, ungeduldig wippte er mit seinem Fuß.
„Hoffentlich geht es sich noch aus“, sagte er.
„Was?“
„Die Kirche. Wenn die nicht gleich fertig sind kommen wir zu spät in die Kirche.“
„Meinst du nicht, dass der Pfarrer noch etwas warten kann?“
Wortlos lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf den grauen Teppichboden.
„Ich gehe noch schnell auf die Toilette“, sagte Tanja.
„Maria kann dir mit dem Kleid helfen.“ Er wandte sich von ihr ab, dann rief er den Namen ihrer Trauzeugin. „Maria!“
„Nein, nein. Ich schaffe es alleine.“ Sie stand auf, ging den Gang hinab, sie wollte alleine sein, der graue Teppichboden verschluckte ihre Schritte. Als sie die Tür zur Toilette hinter sich schloss starrte sie in den Spiegel. Wieder sah sie die Fremde an, die Braut, die sie nicht war.
Sie zuckte zusammen, als zwei Frauen herein kamen. Die eine trug ein knielanges Kleid aus zartrosa Chiffon, die andere ein dunkelblaues Kostüm, beide waren sie etwas älter als sie.
„Sie hat es wirklich schön gemacht“, sagte die eine.
„Ja, das stimmt“, sagte die andere.
„Nur schade, dass es so schnell vorbei war.“
Sie mussten von der Trauung vor ihnen sein.
„Ja, aber trotzdem sehr stimmungsvoll. Ich hatte schon gedacht, dass sie es mehr herunterspult. Die hat ja viele Trauungen am Tag.“
„Oh, wow.“ Die in dem blauen Kostüm betrachtete Tanja. „Sie sehen ja schick aus.“
„Danke“, sagte Tanja leise.
„Schon gehabt oder kommt noch?“
„Kommt noch.“
„Ach, jetzt gleich?“
Tanja nickte.
„Ach, ich möchte auch einmal so viel Glück haben, wir ihr. Einen Mann finden, den man wirklich liebt, mit dem man sein Leben verbringen möchte, der einen Wert schätzt. Mit dem man eine Familie gründen möchte.“
„Eine Familie?“
„Ja, eine Familie. Sarah hier ist schwanger.“ Die in dem blauen Kostüm sah ihre Freundin verschwörerisch an. „Aber er weiß es noch nicht.“ Dann lachte sie ein helles, freundliches Lachen.
Abwesend legte Tanja die rechte Hand auf ihren Bauch. Ein Kind?
„Ja“, sagte Sarah, sie war wohl die Braut. „Ich sage es ihm heute Abend. In meinen Koffer habe ich ein paar Kinderschühchen eingepackt.“
„Ah.“ Tanja blinzelte. Ein Kind? Ein Kind mit ihm? „Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke“, sagte Sarah. „Ich bin ja schon gespannt auf sein Gesicht.“
„Ich ähm…“, sagte Tanja. „Ich muss los.“ Die anderen warteten bestimmt auf sie.
„Viel Spaß.“
Nachdem Tanja die Toilette verlassen hatte, stand sie auf dem Gang. Sie blickte in Richtung der Hochzeitsgesellschaft, beobachtete, wie sich die Gäste langsam in das Zimmer, in dem die Trauung stattfinden sollte, hineinbewegten. Sie sah ihre Mutter, ihren Vater, seine Mutter, seinen Vater. Sie aber stand steif da, bewegte sich nicht. Wollte sie eine Familie gründen mit ihm? Konnte sie es sich vorstellen, dass in ihr einmal ein Kind heranwachsen würde, ein Kind von ihm? Das seine Augen hätte? Seinen Mund, seine Haare? Sie drehte sich um, ging in Richtung der Fahrstühle. Sie musste raus, brauchte frische Luft. Das Kleid, es war mit einem Mal so eng, so furchtbar eng. Warum hatte sie nur so ein festliches, unbequemes Kleid ausgesucht? Mit einem hellen Bingen öffnete sich die Fahrstuhltür und sie stieg ein. Ein Kind? Es war alles so fern, ein Kind, jetzt würden sie keines bekommen, aber vielleicht in ein paar Jahren? Er wollte welche, das wusste sie, sie hatten darüber gesprochen. Auch sie wollte Mutter werden, irgendwann einmal, doch gerade in diesem Moment erkannte sie, nicht von ihm.
Als sie aus dem Standesamt ging, spürte sie die Sonne auf der Haut. Sie sog die Luft tief in die Lungen. Es roch nach frisch geschnittenem Gras.