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Die braune Pfütze
Eine zerplatzte Tüte in einer braunen Pfütze von Kakao. Vielleicht hat sie ein Schulkind auf dem Nachhauseweg verloren? Lange, graue Reihenhäuser. Eine Straße, aber keine Autos. Stille.
Auf dem Bordstein sitzt ein Mann mit einem Hut. Eingepackt in einem warmen, schwarzen Wintermantel und einem dicken Schal. Er sitzt da und starrt die braune Pfütze an. Sein Kopf in seine Hände gestützt. Er reibt sich über sein Gesicht. Dunkle Schatten zeichnen sich um seine verquollenen Augen.
Er steht auf. Heiße, helle Wut ergreift ihn plötzlich. Außer sich vor Zorn zerrt er seinen Hut von seinem Kopf und schmeißt ihn mit aller Kraft auf die Straße neben der braunen Pfütze. Er funkelt böse die braune Pfütze an. Sie ist an allem schuld!
Aus Wut wird wieder der altbekannte Schmerz. Schmerz, der ihm die Luft abschnürt. Er setzt sich wieder auf den kalten Bordstein. Seine Finger tief in sein immer grauer werdendes Haar gekrallt. Eine Träne der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, läuft über seine raue Wange. Die Träne löst sich von seinem bärtigen Kinn. Sie fällt, wie eine Perle, hinunter auf den Bordstein und zerspringt. Oder ist es ein Schweißtropfen? Er weiß es nicht. Er weiß gar nichts mehr. Endlich löst er den Blick von der braunen Pfütze und schaut in den mit Wolken bedeckten Himmel. Sein Gesicht nun tränenüberströmt.
Ein Rabe fliegt vorbei und krächzt laut. Viermal. Vier Jahre. Sie war noch so jung! Warum sie? Der Mann schließt seine Augen.
Ein Mädchen spielt glücklich mit glänzenden Augen auf einer grünen Wiese. Die Sonne strahlt von dem blauen Himmel und taucht die Welt in ein helles, goldenes Licht. Das Mädchen tanzt leichtfüßig über die Wiese. Ein Schmetterling, der zum ersten Mal seine Flügel ausbreiten darf und dies in vollen Zügen genießt. Das Mädchen kommt auf ihn zu und lacht ihn fröhlich an. Unbekümmert. Wie auf einem Werbeplakat für frische Kuhmilch. Doch das Plakat löst sich langsam auf. Vergänglich.
Einer der wenigen Sommer, die er mit ihr verbringen durfte.
Dann die Bilder, die ein Vater hat, wenn er zum ersten Mal auf das kleine Bündel in seinen Armen schaut. Bilder, die er nie vergessen wird. Nie vergessen will?
Ein junges Mädchen steht vor ihm und flüstert ihm aufgeregt etwas ins Ohr. Er muss lachen. Eine junge Frau schlägt ihm die Tür vor seiner Nase zu, nur weil er ihr kurz davor verboten hatte mit ihrem Freund aus zu gehen. Er hört das Knallen der Tür.
Er öffnet die Augen. In dem Haus gegenüber wird ein altmodischer Vorhang im vierten Stock zugezogen. Niemand beachtet den Mann, der zusammengekauert auf dem Bordstein sitzt. Er schaut auf die braune Pfütze. Jetzt erst nimmt er wahr, dass es regnet. Überwältigende Trauer lässt ihn von Kopf bis Fuß erbeben, als er sieht, wie die Pfütze immer mehr verläuft. Das letzte was ihm geblieben ist. Was wäre wohl aus seinem Mädchen, das glücklich auf der Wiese spielte, wirklich geworden? Er wird es nie erfahren. Aber er will es wissen! Er kneift seine tränengefüllten Augen fest zusammen.
Nun sieht er eine Frau, die ihn unter ihrem weißen, mit Blumen bestickten Schleier anlächelt. Und vor ihm der Lilien geschmückte Altar, vor dem ihr aufgeregter Bräutigam steht. Sein Schwiegersohn. Dann eine Frau, die ihn mit einem kleinen weißen Tuch in den Armen und mit strahlenden, stolz glänzenden Augen anschaut. Eine Dame, die konzentriert auf ihren Computer starrt, während ein kleines Kind neben ihr auf dem Boden spielt. Eine alte Frau, die glücklich die Hand eines alten Mannes hält und auf ein Fotoalbum schaut. Das perfekte Leben, das man seinem Kind wünscht. Das sie jedoch nie haben wird.
Er öffnet seine Augen. Wie in Trance steht er auf. Weiß nicht wohin er geht. Läuft weiter und nimmt nichts wahr. Nach einer Stunde schaut er auf. Er ist wieder an der gleichen Stelle. Die gleiche zerplatzte Tüte in der gleichen braunen Pfütze, die nun kaum noch zu erkennen ist. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Leere. Endlose, abgrundtiefe Leere.
Er will fliehen und alles vergessen. Er hat es versucht. In Afrika, in Neuseeland und sogar in Amerika, dem Land der Freiheit und des Glücks. Doch er fand keine Freiheit, kein Glück. Sein Herz erlaubte es ihm nicht zu fliehen. Immer wieder führen ihn seine Füße, seine Gedanken, sein ganzes Wesen, wie ferngesteuert, hier her. Ein nie endender Kreislauf.
Er ist ein Gefangener. Ein Gefangener seiner unnachgiebigen, grenzenlosen Liebe, die er jeden Tag, jede Minute, nein, jede Sekunde in jedem einzelnen Teil seines Körpers spürt. Der Mittelpunkt seiner Existenz. Vaterliebe. Etwas Unbegreifliches für jemanden, der sie nicht selbst erfahren hat. Eine Liebe, die zum inneren Frieden führt. Zum Glück. Eine Droge zu einem unglaublichen, niemals endenden Rausch. Er klammert sich an diesen Rausch. Er will nicht ohne diesen Rausch leben, muss es aber.
Verzweifelt setzt er sich wieder in Bewegung. Er versucht nicht mehr zu fliehen. Er führt jeden Schritt ganz bewusst, weiß genau, wohin er gehen will. Er geht die stille Straße entlang, vorbei an den grauen Reihenhäusern.
Am Spielplatz gegenüber von Haus Nummer 24 bleibt er stehen. Er schaut auf die leere, rote Schaukel, die im kalten Wind leicht hin und her wippt. Sie liebte diese Schaukel. Sie konnte sich kaum von ihr trennen.
Er wendet sich ab und geht mit starrem Blick immer weiter gerade aus. Dann links um die Ecke. Er öffnet eine Tür, geht hindurch. Eine Treppe hinunter. Einen grauen, kalten Gang entlang. Er sieht ein letztes Mal die Bilder vor seinem Auge.
Das neongrüne Auto. Die zersplitterte Frontscheibe. Das Reh, das ihn aus großen, treuen Augen verschreckt anschaut. Der Stoffpinguin auf der Straße und schließlich die zerplatzte Tüte in der braunen Pfütze. Das Einzige, was noch geblieben ist und nun langsam mit dem Regen weggeschwemmt wird. Jetzt sieht er zum ersten Mal wieder sie. Das Bild, das er verdrängen will, das jedoch jede Nacht zurück zu ihm findet.
Es ist seine Schuld. Er hat ihr zu viel durchgehen lassen, wie immer. Hätte er sie nur wieder angeschnallt! Oder ihr verboten, die blöde Schoki aus dem Kofferraum zu holen. Gleich würde alles vorbei sein. Gleich wäre er bei ihr, könnte ihr Lächeln wieder sehen und sie in den Arm nehmen. Erlöst von den Fesseln, die er sich selbst angelegt hat.
Jetzt nur noch durch das Drehkreuz und er ist an seinem Ziel angekommen. Er sieht das Schild. Gleis vier. Sein einziges Ziel: Der Mutter nacheifern. Zurück zu seinen Liebsten: Sein größter Wunsch. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Langsam hob er das linke Bein, dann das rechte. Schritt für Schritt nähert er sich der weißen Linie. Dann bleibt er stehen. Eine alte Frau mit einem Stock schaut ihn irritiert an und verlässt ängstlich, mit der Handtasche fest an ihre Brust gedrückt, das Gleis. Doch er nimmt sie nicht wahr. Er schließt die Augen und denkt an den zweitschlimmsten Tag in seinem Leben.
"Tut mir leid. Ein Passant hatte gesehen, was sie vor hatte und wollte sie zurückhalten, aber sie war fest entschlossen und stieß ihn zurück. Ich gebe ihnen eine Nummer, falls sie Hilfe brauchen."
Doch ihm konnte niemand helfen. Er war wie sie, fest entschlossen. Sein Kind. Seine Frau. Jetzt er. So muss es sein. Er konnte es kaum noch erwarten.
Eine Minute noch, dann kommt er. 30 Sekunden. 20 Sekunden. 10 Sekunden. Er hört das ratternde Geräusch. Sein Herz schlägt wie wild. Schon lange hat er es nicht mehr so schlagen hören. Der Mann schließt die Augen. Jetzt den Schritt machen. Plötzlich, eine Hand an seiner Schulter, die ihn zurückzieht. Oder schüttelt? „Papa!“.
sagt eine helle, klare Stimme. Ihre Stimme.