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Die Botschaft
Die Krähen stürzten sich auf die Körper und stritten sich um das beste Fleisch. Es waren zwei gehäutete Leichen. Jemand hatte ein Seil um ihre Hälse geschlungen und sie an den höchsten Turm von Schwarzdorn gehängt. Die Festung war berühmt für ihren Anblick. Mauern aus schwarzem Fels ragten hundert Fuß in die Höhe und überschatteten alles in der Einöde um ein Vielfaches. Das eigentlich Furchteinflößende der Festung aber war die Finsternis, die sie ausstrahlte. Als würde sie einen Schatten über das ganze Land werfen und selbst den Pflanzen das Leben aussaugen. Das Gras war verdorrt und grau. Bauernhöfe, die um die Festung verteilt waren, verfielen in Ruinen langsam zu Staub. Die Eichen hatten keine Blätter und selbst die Tannen verloren ihre Nadeln.
Tyron saß auf seinem Schimmel und sah zu der Festung hinüber. Seine Hand hatte er in die Innentasche seines Lederwamses gesteckt und befühlte den Brief, der darin versteckt war. Einen Brief seines Herren, des Lords von Grauwall.
Der Schimmel wieherte und schlug mit den Hufen auf den Boden, er spürte auch, dass etwas Bedrohliches von der Festung ausging. Am liebsten wäre Tyron wieder umgekehrt, aber das war nicht möglich. Er war ein Botenjunge und wenn ein Botenjunge seine Arbeit nicht machte, wurde er gehängt, oder schlimmeres. Natürlich könnte er auch einfach in die Wildnis fliehen, aber wie lange würde er da überleben, wo er doch schon sein Leben lang ein Botenjunge war und noch nie wirklich schwer arbeiten musste?
„Es gibt keinen anderen Weg“, sagte er zu dem Schimmel und drückte ihm die Fersen in die Seiten.
Das Tier sträubte sich, als sie auf die Festung zuritten und je näher sie ihr kamen, desto kälter wurde die Luft. Sie drang durch Tyrons Kleidung, kroch ihm unter die Haut, stellte seine Armhaare auf und ließ ihn zittern.
´Nicht möglich, es ist doch Sommer.
Die Hufen des Pferdes klackten laut, als er die gepflasterte Straße zur Festung hinaufritt. Das Torhaus wurde von zwei Männern bewacht, ihre Kettenhemden waren verrostet. Sie stützten sich auf ihre Hellebarden und starrten ihn an.
„Was willst'n hier?“, fragte der eine.
„Ich habe einen Brief für den Lord von Schwarzdorn.“
„Haste das gehört, Gean? Er hat'n Brief für'n Lord von Schwarzdorn.“
Gean grunzte nur. Er war betrunken, Tyron konnte seine Fahne vom Pferd aus riechen.
„Darf ich eintreten?“
„Weiß nicht. Darf er eintreten?“
Gean grunzte wieder.
„Gean sagt, du darfst reinkommen, wenn de willst.“
„Vielen Dank.“
„Nix zu danken. Mach, dass de rein kommst.“
Tyron ritt durch den Torbogen in die Festung. Er war erstaunt, so groß hatte er sich Schwarzdorn nicht vorgestellt. Hunderte Häuser aus schwarzem Holz und Steinen reihten sich bis an die Mauern des Bergfrieds am Ende der Stadt. Auf der Festung mussten fast dreitausend Menschen leben, aber Tyron konnte niemand davon auf der Straße sehen. Kein Hund bellte, kein Kind lachte, nur das Krächzen der Raben war zu hören.
Tyron ritt zu dem Bergfried. Vor diesem Torhaus standen keine Wachen. Seitdem er den Beiden am Eingang begegnet war, hatte er auch sonst keine mehr gesehen. Vor dem Bergfried hielt er den Schimmel an und stieg ab.
Er blickte noch einmal zu den zwei gehäuteten Leichen. Ein schlechtes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, als hätte er etwas falsches gegessen. Lange würde er hier nicht blieben. Nur schnell den Brief abgeben, eine Antwort abwarten und dann nichts wie weg. Das Tor des Bergfrieds war voller Kerben und Kratzer, wie von Fingernägeln. Tyron klopfte mit der Faust dagegen. Niemand öffnete. Er klopfte noch einmal. Unbehagen machte sich in ihm breit. War diese Festung etwa völlig verlassen?
'Am besten ich verschwinde wieder von hier'
Er ging wieder zu seinem Schimmel und wollte gerade aufsteigen, als ihn eine Stimme von hinten rief:
„Ihr da, wer seid ihr?“
Tyron drehte sich um und sah zwei Frauen vor sich stehen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Die eine war klein, mit schwarzen Augen. Ihr Gesicht war blass und schmal und die dunklen Haare fielen ihr wirr in die Stirn. Die andere war groß und ihre blonden Haare fielen wie goldene Wellen über ihre Schultern. Sie war der Traum eines jeden Mannes und die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
„I-ich bin ein Boote von Grauwall … Mylady.“
„Dann komm doch herein“, sagte die Schöne. „Wir haben so viel gutes Essen und können das alles nicht alleine essen.“
„Ich bin eigentlich nur hier, um eine Botschaft meines Herrn abzuliefern. Ist denn der Graf von Schwarzdorn nicht anwesend?“
„Ich fürchte nein, mein Gemahl ist zur Jagd ausgeritten und wird erst morgen wiederkommen, aber dein Herr wird sicher nichts dagegen haben, wenn du dich einen Tag verspätest, oder?“
Tyron wurde ganz warm im Bauch und er vergaß die bösen Vorzeichen. Bevor er aber noch etwas sagen konnte, fuhr ihm die Schwarzhaarige dazwischen:
„Er muss doch nicht unbedingt hereinkommen. Er kann den Brief auch mir geben und dann wieder verschwinden.“
Die Blonde warf ihr einen bösen Blick zu und für einen kurzen Moment schien ihr Gesicht, gar nicht mehr so schön zu sein, aber Tyron schob dies auf eine Einbildung.
„Sei keine Spielverderberin, Alia. Er ist bestimmt müde von der Reise, nicht wahr?“
Die beiden sahen ihn an und er räusperte sich. „Ja, ich bin wirklich sehr müde von der Reise. Es war auch ein langer und beschwerlicher Weg.“
Die Gräfin lächelte und ging zu ihm. Mit der Hand streichelte sie seinen Nacken und Tyron bekam von der Berührung eine Gänsehaut.
„Oh, mein armer Kurier ist völlig verspannt.“ Dann beugte sie sich näher zu ihm, dass ihr heißer Atem sich in seinem Ohr festlegte. „Wie wäre es mit einer Massage, wenn wir später allein sind.“
„Das hört sich gut an, Mylady“, presste Tyron hervor.
Sie lächelte noch einmal und führte ihn an der Hand in die große Halle des Bergfrieds. Alia folgte ihnen stumm, aber in ihrem Gesicht spiegelte sich Unzufriedenheit.
„Mylady, dürfte ich euren Namen erfahren?“, fragte Tyron.
„Natürlich, aber nur, wenn du mir den deinen zuerst verrätst.“
Alia atmete zischend ein. Tyron drehte sich verwirrt zu ihr um.
„Achte nicht auf sie, sie mag Fremde nicht besonders. Du wolltest mir gerade deinen Namen verraten.“
Einer Eingebung folgend sagte er:
„Mein Name ist Talleon Cerpris.“
Die blonde Frau blieb stehen und sie drückte seine Hand etwas fester.
„Warum sagst du mir einen Falschen Namen?“
Tyron spürte einen Klos in seinem Hals und konnte nicht antworten. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, ihr die Wahrheit zu sagen. Ihr zu sagen, wie er wirklich hieß: Tyron Cers. Er wollte es herausschreien, aber der Klos in seinem Hals war wie ein Stein und er brachte keinen Ton heraus. Im nächsten Moment drehte sie sich um und legte ihm einen Finger auf die Lippen.
„Ich scherze doch nur, Talleon Cerpris. Du würdest mich doch nie anlügen, nicht wahr?“
Tyron schüttelte den Kopf. Die Stelle, wo ihr Finger seine Lippen berührte, wurde heiß und brannte, aber der Schmerz war schön und er wollte mehr davon. Sie zog ihre Hand zurück und der Schmerz verging.
„Ihr wolltet mir auch noch euren Namen verraten, Mylady“, flüsterte Tyron.
Sie beugte sich vor und hauchte ihm ins Ohr:
„Natürlich, mein Liebster, ich werde ihn dir schon bald verraten, bis dahin nenne mich einfach weiterhin Lady.“
„Natürlich, Mylady.“
Sie lächelte ihn noch einmal an, schnippte mit dem Finger und sagte, ohne die Augen von seinen zu nehmen: „Alia, bring unseren Gast in den Badesaal, damit er sich für heute Abend ausruhen kann.“
Dann ging sie, mit wehendem Kleid, davon und mit ihr verschwand auch das Gefühl der Wärme, die in Tyrons Kopf gestiegen war.
„Komm mit, Kurier“, sagte Alia und zog ihn grob am Arm. Sie führte ihn durch eine Tür und eine Wendeltreppe hinauf. Am Ende der Treppe war ein langer Gang. Links waren hohe Kristallglasfenster, durch die blasses Licht fiel. Rechts waren dutzende Türen in die dunkle Steinmauer eingelassen. Alia ging zu einer davon und öffnete sie.
Heißer Dampf schlug Tyron ins Gesicht. Hinter der Tür lag der prächtigste Badesaal den er je gesehen hatte. Der Boden war aus weißem Marmor. An den Wänden hingen riesige Gemälde und der, in Gold eingerahmte, Spiegel reichte bis zur Decke. Alia führte ihn zu dem kleinen Schwimmbecken in der Mitte des Raumes. Das Wasser war voller Rosenblätter und duftete nach Lavendel.
„Da kannst du baden“, sagte sie und wollte wieder gehen, aber Tyron hielt sie am Arm zurück.
„Mylady, könnt ihr mir den Namen dieser Frau verraten?“
Als er sie Mylady nannte wurden ihre Züge etwas freundlicher, aber ihre Stimme blieb genauso herablassend wie vorher.
„Sie wird es dir schon noch früh genug sagen, keine Sorge … Kurier.“
Sie löste sich von ihm und ging aus dem Badesaal. Tyron starrte ihr nach und sein Gefühl sagte ihm, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmte. Er legte die Klamotten ab und ließ sich in das heiße Wasser gleiten. Der Duft und die Wärme hüllten ihn ein und es dauerte nicht lange, bis er wegdämmerte.
Ein wirrer Traum suchte ihn im Schlaf heim. Er war genau im Badesaal, aber die Tür des Raumes war geöffnet und das Licht des Abendrots traf auf den Spiegel und ließ den Saal rot leuchten. Plötzlich hob sich ein Arm vor ihm aus der Wanne. Er schimmerte blau und stützte sich auf dem Wasser ab, als wäre es Holz. Noch ein Arm erschien und auch dieser stützte sich auf der Wasseroberfläche ab, zitternd und wankend drückten sie sich nach oben. Langsam kam ein Kopf mit langem Haar zum Vorschein. Dann ein dünner Hals und schmale Schultern. Vor ihm zog sich der Geist der Gräfin aus dem Wasser und starrte ihn durch ihre blauen Augen an.
„Sei mein“, flüsterte sie, „und ich bin dein.“
Tyron wollte alles tun, um ihr zu gefallen. Er wollte ihr unbedingt gehören, damit auch sie ihm gehörte. Schon hatte er den Mund geöffnet, um ihr ewige Treue zu schwören, da zog ihn jemand unsanft an den Haaren und er wachte auf. Alia stand über ihn gebeugt und deutete spöttisch auf seine Erektion.
„Einen schönen Traum gehabt, hä?“
Tyron bedeckte schnell seine Blöße mit den Händen.
„Was tust du denn hier?“
„Es ist Zeit zu gehen, wir haben bereits Abend.“
Tyron sah auf das Wasser, aber da waren keine blau schimmernden Hände und auch keine Gräfin, die sein Versprechen abnehmen wollte.
„Ich hatte einen merkwürdigen Traum.“
„Das kommt hier schon mal vor. Liegt glaube ich am Lavendel“, sagte sie mit einem Schulterzucken. Sie hielt ihm ein trockenes Leinentuch hin und er stieg aus dem Pool.
„Ich habe von von der Gräfin geträumt.“
„Ach, deshalb ist dein … Schwert aus der Scheide gefahren.“
Sie grinste ihn mit ihrem spöttischen Lächeln an.
„Es war ein seltsamer Traum.“
„Auch das kann vorkommen. Beeil dich lieber, wenn du nicht zu spät kommen willst.“
Sie wollte sich wieder zum Gehen drehen.
„Mylady -“
Alia drehte sich zu ihm um. „Hör auf mich so zu nennen!“
„Wie denn?“
„Mylady. Ich bin keine Lady also hör auf damit!“
„Wenn ihr das wünscht, Mylady.“
„Du bist nicht gerade der hellste, oder? Egal, was wolltest du von mir?“
„Ich wollte fragen, wo die ganzen Menschen sind. Ich bin durch die Stadt geritten, aber habe niemanden gesehen, wie kommt das?“
„Kein Ahnung, sag du es mir.“
„Kann es sein, dass die Festung verlassen ist?“
Alia sah ihn eine Weile an, während sie auf ihrer Unterlippe herum nagte, dann sagte sie: „Zieh dich an, das Abendessen ist gleich so weit.“
Sie ging hinaus, ließ aber die Tür offen und Tyron war ihr dankbar dafür, denn die kühle Luft aus dem Gang verschaffte ihm wieder einen klareren Kopf. Er zog sich seine Kleider an und tastete nach dem Brief, der noch immer versiegelt in seiner Tasche verborgen lag. Im großen Saal war ein Tisch aufgestellt worden, voll beladen mit Hirschbraten, Walnussbrot, Blumensalat, Kartoffeln, gebratener Leber und Flaschen voller Wein. Gut fünfzig Stühle standen um den Tisch herum, aber niemand saß darauf.
„Wofür die vielen Stühle“, fragte Tyron Alia, die als einzige an dem Tisch saß, „und wo ist die Gräfin?“
„Genüge ich dir denn nicht?“
„Doch, ich dachte nur sie wäre auch hier.“
„Nein, du dachtest an das, was sie dir versprochen hat. Was sie dir in dein Ohr geflüstert hat. Ihr Männer seid alle gleich, aber wenn du es unbedingt wissen musst, die Gräfin ist noch in ihren Gemächern. Vielleicht kommt sie, vielleicht kommt sie nicht, das liegt nicht bei mir.“
Tyron setzte sich an den Tisch, gegenüber von Alia und kam sich ziemlich bescheuert vor, an einer so großen Tafel zu sitzen.
„Wir könnten die beiden Wachen dazu holen, dann wäre es nicht so trostlos“, sagte er.
„Du meinst Gean und Gorn. Nur zu, hol sie her, aber sei nicht verwundert wenn sie dir nicht allzu sympathisch erscheinen. Wenn die Sonne untergeht werden sie immer … etwas mürrisch.“
Tyron sah auf das viele Essen, aber ihm war der Appetit vergangen. „Myla-“
„Du sollst mich so nicht nennen“, zischte Alia.
„Na gut, Alia, was ist hier los?“
„Was meinst du?“
„Warum ist die ganze Festung verlassen? Warum ist die Gräfin nicht hier und vor allem was hat sie mit mir vor? Ich war anfangs vielleicht etwas umnebelt von ihren Reizen, aber jetzt habe ich wieder einen klaren Kopf. Hier stimmt irgendetwas nicht und du weißt das. Verrate es mir.“
Alia starrte ihn über den Tisch hinweg an. „Sie hat dich also noch nicht bekommen.“
„Was redest du denn da?“
Das Klacken von Absätzen hallte die Wendeltreppe herunter – die Gräfin kam. Alia beugte sich über den Tisch und flüsterte in sein Ohr: „Triff mich auf dem großen Turm der Festung wenn der Mond am höchsten steht.“
Dann lehnte sie sich zurück und setzte wieder ihr gelangweiltes Gesicht auf. Die Gräfin rauschte durch die Türe, sie schien zornig zu sein. „Alia, du gehst in dein Gemach, sofort! Lege dich schlafen und störe uns kein zweites Mal.“
Alia verneigte sich und ging davon, ohne Tyron noch eines Blickes zu würdigen.
Die Gräfin setzte sich neben ihn und belud ihm seinen Teller.
„Hier iss das auf, du musst hungrig sein.“
Er hatte zwar überhaupt keinen Appetit, aber es schien ihm unhöflich nichts zu essen. Sobald er jedoch zum ersten Mal von den Speisen gekostet hatte, spürte er sofort wieder die Wärme, die ihn ausfüllte und alles erschien ihm golden und warm.
Die Gräfin flüsterte: „Koste auch den Wein, mein Liebster.“
Und sofort wurde sein Hals so trocken, dass er nach dem Weinbecher griff und ihn mit einem Zug leerte. Während er aß flüsterte die Gräfin ihm schmeichelnde Dinge in sein Ohr. Dinge von denen er noch nie gehört hatte. Manchmal schien sie nicht einmal seine Sprache zu sprechen. Er wollte, dass sie niemals damit aufhörte. Für immer wollte er dort sitzen, essen und trinken, ihre Hand auf seinem Schenkel spüren und für immer ihr gehören. Die warnende Stimme in ihm ertrank in ihren Worten und dem Wein, den er in sich hineinschüttete, als wäre es Wasser.
Nach einer Weile sagte die Gräfin: „Ich habe dir eine Massage versprochen. Wollen wir in mein Schlafgemach gehen, Liebster?“
Ohne ein Zögern folgte er ihr. Alles was dann passierte, war wie ein goldener Nebel, der seine Sinne umhüllte und ihm das Bild der Realität vergessen ließ.
Er wachte mitten in der Nacht auf und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er in dieses Zimmer gelangt war. Die Gräfin war verschwunden und ihm war kalt weil er nackt auf dem Bett lag. Seine Gedanken waren wieder etwas klarer und ihm fiel wieder ein, was Alia zu ihm gesagt hatte. Er zog sich an und ging aus dem Gemach der Gräfin.
Durch die Fenster sah er den Mond, wie er gelb leuchtend am Himmel schwebte, er hatte seinen höchsten Punkt schon lange überschritten. Tyron hatte keine Ahnung, wo der höchste Turm der Festung war, also ging er einfach die Wendeltreppe, am Ende des Ganges, weiter hinauf. Je weiter er ging, desto kälter wurde die Luft, bis er anfing zu zittern. Es gab keine Fackeln und war so dunkel, dass er nicht einmal mehr die eigene Hand vor seinen Augen sehen konnte. Plötzlich stieß er gegen eine Tür. Die Scharniere quietschten, als er sie öffnete. Er war auf der Spitze eines Turmes und zu seiner Verwunderung, knirschte Schnee unter seinen Stiefelsohlen.
„Du kommst recht spät“, sagte Alia.
„Warum liegt hier denn Schnee?“
„Ich weiß du bist nicht gerade der Hellste, aber inzwischen solltest auch du mitbekommen haben, dass hier nichts normal ist.“
Tyron ging zu ihr.
„Warum wolltest du, dass ich hier hoch komme?“
„Schon vergessen, du wolltest etwas von mir?“
Sie musterte ihn einen Moment lang, dann sagte sie: „Du hast es getan, oder?“
„Was meinst du?“
„Du hast das Essen gegessen, den Wein getrunken … dich mit der Gräfin vergnügt, hab ich nicht recht?“
„Ich wüsste nicht was dich das -“
Sie packte ihn am Kragen und zog sein Gesicht vor ihres. „Es geht mich also nichts an! Du weißt gar nichts, Kurier von Grauwall, und hast trotzdem die Arroganz so mit mir zu reden?“
„E-es tut mir leid.“
„Das sollte es auch. Also, hast du es getan?“
„… ja.“
Sie ließ ihn wieder los und wandte sich der Stadt zu. Die Seile, an denen die Gehäuteten hingen, waren um die Zinnen geschlungen und knarzten, wenn der Wind sie bewegte. Ihr Blick wanderte über die Mauern und Häuser hunderte Fuß weit unter ihnen. Irgendwie sah sie im Mondlicht schöner aus als sonst. Ihre blasse Haut schien zu leuchten, und in ihren dunklen Augen spiegelte sich das Licht des Mondes.
„Was ist das für eine Festung, Alia? Bitte, erkläre es mir.“
Alia lächelte und diesmal war kein Spott darin zu sehen.
„Na gut, du wirst sowieso nicht mehr lange überleben, also was soll es schaden? Aber wenn ich es dir nur erzähle wirst du es sowieso nicht glauben. Du musst es sehen. Komm mit!“
Sie ging zurück zu der Wendeltreppe und stieg ihm voraus die Stufen hinunter. Als sie in dem langen Gang waren blieb sie stehen und wandte sich noch einmal zu ihm um.
„Versprich mir, dass du tust was ich dir sage, ansonsten könnte es ein schlechtes Ende mit dir nehmen.“
Er versprach es ihr. Sie gingen durch eine der Türen, die schwärzer aussah, als die anderen. Dahinter führte eine, von Fackeln erhellte, Treppe in die Tiefe. Sie führte gerade hinunter, aber war so lang, dass Tyron das Ende nicht erkennen konnte.
„Was ist dort unten?“
„Das Geheimnis der Gräfin. Willst du immer noch wissen was es mit dieser Festung auf sich hat?“
Er nickte und gab sich tapfer, auch wenn er sich überhaupt nicht wohl fühlte. Sie stiegen die Treppenstufen hinunter, aber so lange sie auch gingen, Tyron konnte kein Ende erkennen und irgendwann konnte er auch die Tür, durch die sie gekommen waren, nicht mehr sehen. Die Grauen Mauern, links und rechts neben ihnen, sahen immer absolut gleich aus. Bald hörte Tyron jedoch ein Geräusch, als würde ein qualvoller Schrei die Treppe heraufkommen, und je tiefer sie gingen, desto lauter wurde es. Tyron fing wieder an zu zittern und diesmal lag es nicht an der Kälte.
Nach einer schieren Ewigkeit, machte die Treppe einen Bogen und sie standen vor einer weiteren Tür. Das Schreien war so laut, dass es Tyron bis in die Knochen drang.
Mein Gott, was ist denn dahinter?
Alia zog einen verrosteten Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schloss, es gab ein ekelhaftes Scharren von sich, als sie ihn umdrehte.
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Bereit?“
Natürlich war er das nicht, aber er nickte. Dann stieß sie die Türe auf.
Tyron schlug die Hände vor den Mund. Die Gräfin stand, an einen Pfahl gekettet, inmitten einer Folterkammer, aber sie sah völlig verändert aus. Ihre Haut war grau und schwarz und an manchen Stellen verfaulte sie. Das blonde Haar war ihr büschelweise ausgefallen und schmutzig. Sie war ein so schrecklicher Anblick, dass Tyron einen Schritt zurück stolperte und hinfiel.
„Mein Gott, was ist mit ihr geschehen?“
Alia sah zu der Gräfin und große Trauer spiegelte sich in ihren Augen.
„Das ist die echte Gräfin.“
„Was meinst du? Wer ist dann die andere?“
„Nur ein Schimmer. Ein Abbild dessen, was sie einmal war.“
Alia sah noch einmal zu der Gräfin, dann stieß sie die Tür zu. „Wir sollten hier nicht zu lange bleiben.“
Tyron war schockiert als sie wieder die Treppe hinaufgingen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Er war froh, als sie oben ankamen und er nicht mehr die Schreie der Gräfin hören musste. Wieder in dem Gang angekommen nahm Alia ihn bei der Hand.
„Komm mit in mein Zimmer.“
Sie kamen an dem Zimmer der Gräfin vorbei und Tyron schauderte.
„Wo ist dieser … dieser Schimmer der Gräfin jetzt?“
„Sie wandert durch die Stadt, wie jede Nacht und sieht nach ihrem Volk.“
„Aber die Stadt ist doch verlassen.“
Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
„Ich werde es dir gleich erklären.“
Sie öffnete die letzte Tür des Ganges, dahinter lag ein kleines Zimmer, weniger als eine Abstellkammer. Nur ein Bett stand darin, mit einer Matratze aus Stroh.
„Das ist dein Zimmer, aber das ist sogar noch weniger als die Dienstboten in Grauwall haben?“
Alia lächelte gezwungen.
„Naja, es gibt bequemeres, da hast du schon recht.“
Sie schloss die Türe und zündete eine Kerze an damit sie etwas Licht hatten, dann setzte sie sich neben ihm aufs Bett. Das Licht flackerte und ließ Schatten über die Wände tanzen.
„Erzähl mir die Geschichte dieser Stadt.“
„Na gut, wenn du willst … wir könnten uns hier aber auch anders vergnügen.“
„Warum solltest du das wollen?“
„Warum nicht? Ich lebe hier schon seit ich ein kleines Mädchen bin, und noch nie hat ein Mann mich so angesehen, wie du es tust. Ich war immer nur die Dienerin der Gräfin und wurde von ihrer Schönheit überschattet. Ich … hatte noch nie …“
„Du ehrst mich, Mylady“, sie lächelte als er sie so nannte, „aber ich muss zuerst die Geschichte dieser Stadt erfahren. Erzähl es mir.“
Ihre Augen sprangen zwischen seinen hin und her, dann holte sie tief Luft und begann zu erzählen:
„Diese Stadt war nicht immer verlassen. Früher lebten hier viele Menschen und das Land war fruchtbar, aber das ist schon über hundert Jahre her. Die Gräfin war damals genauso schön wie du sie heute gesehen hast und wurde von dem ganzen Volk geliebt. Wie jede schöne Frau hatte aber auch die Gräfin angst davor, ihre Schönheit zu verlieren. Und wie jeder Mensch, hatte sie angst davor zu sterben. Eines Tages kam ein Wanderer in die Festung. Sein Gesicht war von schwarzen Tüchern verdeckt. Seine Augen waren weiß und kreisrund. Die Menschen fürchteten sich vor diesem Wanderer, aber die Gräfin gewährte ihm eine Audienz. Der Wanderer sprach also vor der Gräfin und versprach ihr alles, was sie sich wünschte. Ewige Jugend und Unsterblichkeit. Die Gräfin fiel auf ihn herein, doch der Wanderer hinterging sie. Als er sie an den tiefsten Punkt der Festung gebracht hatte, kettete er sie an den Pfahl und zeigte ihr sein wahres Gesicht. Es war das Gesicht des Todes. Er sagte ihr, er gewähre ihren Wunsch, aber dafür würde er alle Menschen der Stadt töten und zu sich ins Reich der Toten holen. Die Gräfin flehte ihn an, es nicht zu tun, aber der Handel war schon beschlossen und der Tod nahm sich, in nur einer einzigen Nacht, jede Seele aus der Stadt. Doch das war dem Tod noch nicht genug. Er betrog die Gräfin noch ein weiteres mal. Er hatte ihr Schönheit und Unsterblichkeit versprochen, aber auch dafür wollte er seinen Preis. Sie wurde zu seiner Gemahlin und er beraubte sie ihres Namens, sodass sie niemals ins Totenreich übersetzen konnte. Ihr wahres Selbst leidet tausendfache Qualen im Keller der Festung, während ihr falsches Selbst durch das Schloss wandert und so tut als hätte sich nichts geändert. Der Tod brachte ihr auch die alten Worte der Magie bei, mit denen sie ihr gestorbenes Gefolge Nachts zurückholt und auch über Menschen die Kontrolle erhalten kann, wenn sie deinen Namen erfährt.
Als Alia geendet hatte, blieben sie beide still sitzen. Ihre Knie berührten sich weil sie unbewusst näher zusammen gerückt waren.
„Sie kennt deinen Namen nicht, oder?“
Alia schüttelte den Kopf. „Und deinen auch nicht, sei mir dankbar, den Klos in deinem Hals habe ich verursacht.“
„Was, wie?“
„Die Gräfin ist nicht die einzige, die mit Magie umgehen kann. Ich habe viel von ihr gelernt, aber ich werde sie nie übertrumpfen können.“
„Und der Traum in dem Badesaal?“
„Ja, auch damit wollte sie dich unterwerfen. Genauso wie mit dem Essen und eurer kleinen Liebelei.“
„Aber warum hat sie es nicht geschafft?“
„Tja, vielleicht steckt ja doch mehr in dir als es den Anschein hat.“
Sie musterte ihn einen Moment lang.
„Und was will sie von mir?“
„Was die Gräfin will, weiß selbst ich nicht. Aber was sie mit Männern anstellt, die sich hierher verirren, dass weiß ich.“
„Was meinst du?“
„Du hast doch die zwei gehäuteten Körper gesehen, als du hier her geritten bist.“
Tyron wurde schlecht.
„Sie hat sie gehäutet?“
„Ja, bei lebendigem Leibe und sie haben sogar noch darum gebettelt.“
„Dann muss ich von hier verschwinden. Am besten sofort.“
Er sprang von dem Bett auf, aber Alia zog ihn zurück.
„Das wird dir nicht gelingen.“
„Warum nicht?“
„Weil das Tor geschlossen ist und bewacht wird.“
„Dann öffne ich es.“
„Und die Wachen?“
„Was, Gean und Gorn? Mit den beiden werde ich schon fertig.“
„Ja, am Tag vielleicht, aber in der Nacht … der Tod hat zwei Wachen hinterlassen, damit niemand diese Festung lebend wieder verlassen kann. Sie verwandeln sich in der Nacht in zwei schreckliche Ungetüme. Du kannst sie nicht besiegen.“
„Dann warte ich eben bis zum Morgen und fliehe dann.“
„Auch das wird dir nicht gelingen, die Gräfin sucht bereits nach dir.“
„Aber wenn ich mich verstecke -“
Plötzlich drückte sie ihm ihre Hand auf den Mund und pustete die Kerze aus. Tyron hörte das Echo von Schritten auf dem Gang. Das Licht des Mondes fiel durch den Spalt unter der Tür, bis ein Schatten es verdeckte. Alias Griff um seinen Mund wurde fester und ihre Hand zitterte. Tyron hielt den Atem an. Dann entfernten sich die Schritte wieder und die Gräfin sang:
„Wo ist denn mein Kurier,
er ist nicht mehr hier.
Ich will ihn wieder haben,
dann holen ihn die Raben.
Seine Haut wird er verlieren,
und schrecklich krepieren.
Wo ist denn mein Kurier,
er war gerade noch hier…“
Als sie die Treppe hinunterstieg und nicht mehr zu hören war, nahm Alia ihre Hand von seinem Mund.
„Verstehst du es jetzt? Wegen den Schmerzen ihres verrottenden Körpers und der Schuld, die sie verspürt, hat sie den Verstand verloren. Für sie ist es ein Spiel, das ihr Spaß macht und Abwechslung bereitet … und sie gewinnt immer.“
Tyron saß zitternd auf dem Bett und fühlte sich zum erbrechen schlecht. Tränen liefen ihm über die Wangen und er war froh, dass es dunkel war und Alia sie nicht sehen konnte.
„Gibt es denn keine Möglichkeit zu fliehen?“
„Wenn es eine gäbe, glaubst du ich wäre noch hier?“
„Aber du bist doch schon seit Jahren hier, warum bist du tagsüber noch nie geflohen?“
„Die Gräfin weiß, dass sie mich nicht völlig kontrollieren kann, deshalb hütet sie mich wie ihren Augapfel.“
Alia zündete die Kerze wieder an und er wischte sich schnell die Tränen weg.
„Gib mir den Brief deines Herrn!“, sagte sie.
„Was willst du damit?“
„Findest du es nicht merkwürdig, dass dich dein Herr mit einem Brief losschickt, an einen Grafen adressiert, obwohl doch die ganze Welt weiß, dass Schwarzdorn noch nie einen Grafen hatte. Es waren immer Gräfinnen, die über die Festung herrschten.“
„Das wusste ich nicht.“
„Ja, weil du dumm bist“, sagte sie sanft, „aber dein Herr wusste es mit Sicherheit und trotzdem adressierte er den Brief an den Grafen von Schwarzdorn.“
„Vielleicht hat er sich verschrieben.“
„Und selbst wenn. Du wirst heute Nacht sterben, also warum solltest du das Briefgeheimnis deines Herrn hüten? Vielleicht ist das deine einzige Chance.“
„Ja … du hast recht.“
Tyron tastete in die Innentasche seiner Jacke, aber sie war leer.
„Er ist weg!“
Hektisch suchte er seine ganze Jacke ab, aber der Brief blieb verschwunden.
„Sie muss ihn dir weggenommen haben nachdem ihr eure kleine Romanze gehabt habt. Er hätte dir wahrscheinlich sowieso nicht weitergeholfen.“
Tyron lehnte sich niedergeschlagen an die Wand und Alia zog ihn an sich und fing an seinen Hals zu küssen.
„Wir können deine letzten Stunden auch noch nützlich verbringen, wenn du willst.“
„Ich glaube nicht, dass ich, in meiner jetzigen Verfassung, die Standkraft dazu habe.“
„Ich denke das kann ich beheben.“
Sie setzte sich auf ihn und drückte seinen Oberkörper auf die Matratze. Tyron ließ es geschehen, zu sehr war er gelähmt von den Ereignissen. Alias Lippen lagen auf seinen als ein schrecklicher Schrei der Gräfin erklang. Sie lösten sich erschrocken voneinander und starrten zur Tür.
„Warum hat sie so geschrien?“, fragte Tyron.
„Ich weiß nicht, so habe ich sie nie erlebt.“
Sie stiegen von dem Bett und starrten die Tür an. Tyron rechnete jeden Moment damit, dass die Gräfin die Tür aufschlug und sie beide umbrachte, aber nichts geschah.
„Du musst gehen!“, sagte Alia.
„Aber wenn ich gehe wird sie mich umbringen.“
„Und wenn du nicht gehst uns beide. Es tut mir leid, aber ich kann nichts für die tun.“
Sie reckte sich zu ihm hoch und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Geh jetzt!“
Tyron blieb wie betäubt stehen.
„Was passiert wenn jemand ihren Namen herausfinden würde?“
„Es heißt, der, der ihren Namen kennt, hat genauso große Macht über sie, wie sie Macht über Leute hat, deren Namen sie kennt.“
„Wenn sie meinen Brief hat …“
Sie sah ihn an und in ihren Augen stand eine Mischung aus Furcht und Erregung.
„Glaubst du dein Herr -“
„Es wäre möglich. Zumindest wäre es eine Chance.“
Alia verschränkte die Arme. „Eine sehr geringe Chance, findest du nicht? Ich werde dafür nicht mein Leben aufs Spiel setzen.“
„Alia, ich brauche deine Hilfe. Und wenn du von hier entkommen willst, dann ist das vielleicht auch deine einzige Chance.“
„Und wie willst du den Brief bekommen, wenn sie ihn noch bei sich trägt?“
„Wir müssen sie eben überlisten.“
„Und wie, Talleon? Wie willst du sie überlisten? Sie lässt sich nicht täuschen, von niemandem.“
„Ich lass mir etwas einfallen, aber ich brauche deine Hilfe. Willst du etwa bis ans Ende deiner Tage hier auf dieser Festung leben, in diesem Zimmer, oder willst du deine Freiheit zurück haben?“
Alia sah sich in dem kleinen, dreckigen Zimmer um und dann wieder zurück in Tyrons Augen. Ein Hoffnungsschimmer lag darin.
„Versprich mir, dass wir Erfolg haben werden.“
„Ich verspreche es.“
Sie lächelte spöttisch.
„Du bist ein dreckiger Lügner, Talleon, oder wie auch immer du heißt, aber du gegällst mir.“
Ein weiterer Schrei drang durch die Mauern zu ihnen, diesmal deutlich näher.
„Erst mal sollten wir von hier verschwinden.“
Alia ging zur Tür und spähte hinaus.
„Komm, der Weg ist frei.“
Sie gingen den Gang entlang und stiegen die Wendeltreppe hinunter, die zur großen Halle führte.
„Wenn ich du wäre, dann würde ich mir schon einmal Gedanken um deinen Plan machen“, flüsterte Alia.
Die große Halle war leer und die Fackeln erloschen. Das große Haupttor stand offen und Mondlicht drang herein. Sie kamen nicht weit, bis sie die Schritte der Gräfin hörten. Alia zog ihn hinter eine Säule und sie drückten sich, so gut es ging, dahinter, um nicht gesehen zu werden. Tyron konnte den Schatten der Gräfin sehen. Sie stand inmitten der Halle und plötzlich schrie sie: „GORN.“
Sie musste nicht lange warten, bis ein riesiges Wesen die Halle betrat. An seinem Schatten erkannte Tyron einen unförmigen Körper. Die Arme des Monsters waren zu lang und schleiften auf dem Boden. Sein Rücken war gekrümmt und bucklig. Alia griff nach Tyrons Hand und drückte sie.
„Nimm diesen abscheulichen Brief und bring ihn zu meinen Ehemännern. Und wage es nicht ihn zu verlieren!“, zischte die Gräfin.
Das Monster gab ein schrilles Krächzen von sich und verließ die Halle. Die Gräfin stand noch einen Moment da dann ging sie die Treppe hinauf, um im oberen Stockwerk nach ihm zu suchen. Sobald ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, rannten Tyron und Alia auf den Hof hinaus.
„Das Monster, wir müssen das Monster finden. Wo sind die Ehemänner, Alia?“
Sie nahm seine Hand und führte ihn. Gerade als sie um die Ecke eines Hauses rannten kam ihnen ein weißer Geist entgegen. Sein Gesicht war von Maden zerfressen und die Augen waren weiß und leer. Tyron hätte beinahe aufgeschrien, aber konnte sich noch schnell genug die Hand vor den Mund schlagen.
„Mein Gott, was ist das denn?“
„Einer der früheren Stadtbewohner. Die Gräfin erschafft in der Nacht einen Spiegel des Totenreichs. Er ist eine Reflexion der Unterwelt … komm jetzt, wir müssen weiter.“
Sie rannten weiter. Die Reflexion beachtete sie überhaupt nicht und ging weiter als wäre nichts passiert. Nach einer Weile hörten sie einen weiteren Schrei der Gräfin.
„Wahrscheinlich war sie in meinem Zimmer. Sie weiß jetzt, dass ich dir helfe“, keuchte Alia.
Tyrons Lungen brannten von der kalten Luft und es fiel ihm schwer zu atmen. Plötzlich traf ihn etwas an der Seite, schleuderte ihn durch die Luft, und er krachte gegen eine Hauswand. Benommen hielt er seinen Kopf und sah zu dem Monster hoch. Es war bestimmt drei mal so groß wie Tyron, hatte pechschwarze Haut, keine Nase und keine Ohren, aber zwei riesige weiße Augen, durch die es Tyron anstarrte.
„Lauf weg!“, schrie Alia.
Tyron rappelte sich so schnell er konnte hoch und rannte ihr hinterher. Er hörte das Monster hinter sich. Alia lief im Zickzack durch die Gassen der Stadt, um das Wesen abzuhängen, aber es stieg einfach auf die Dächer und folgte ihnen. Mit seinen langen Armen griff es nach ihnen, wie ein widerliches Insekt, das Jagt auf Ameisen machte.
Sie kamen wieder auf offenes Gelände. Tyron glaubte nicht, schon einmal in seinem Leben so schnell gerannt zu sein. Vor ihnen lag ein Turm, auf den Alia zulief. Das Monster war direkt hinter ihnen und würde sie jeden Moment einholen. Alia erreichte das Gittertor als erstes, aber die Scharniere klemmten. Tyron kam ihr zu Hilfe und gerade noch rechtzeitig schafften sie es das Tor zu öffnen und wieder hinter sich zu verschließen. Das Monster prallte mit seinem Körper dagegen und versuchte mit den Armen zwischen die Gitterstäbe zu kommen und nach ihnen zu greifen.
Sie gingen in sichere Entfernung und Tyron fragte, nachdem er wieder zu Atem gekommen war: „Was, in Gottes Namen, ist das für ein Wesen?“
„Ein Nachtwandler. Einer der finstersten Kreaturen dieser Welt … komm weiter.“
Sie stiegen die Treppe des Turm hinauf. Der Gestank von verfaultem Fleisch schlug ihnen entgegen. Je weiter sie gingen desto schlimmer wurde es. Vor einer Tür blieben sie stehen. Alia streckte die Hand aus um sie zu öffnen, aber Tyron hielt sie zurück.
„Was machen wir wenn der zweite Nachtwandler dort ist.“
Sie sah ihn belustigt an und er war verwirrt.
'Wie kann man in so einem Moment fröhlich sein?'
„Du bist wirklich ein Idiot, oder?“ Sie küsste ihn heftig. „Natürlich wird er da drinnen sein, immerhin wurde er beauftragt, den Brief zu verwahren.“
„Und was machen wir gegen ihn?“
Alia streichelte seine Wange. „Egal was passiert, schnapp dir den Brief und geh damit zur Gräfin.“
Bevor Tyron darüber nachdenken konnte öffnete sie die Tür und sprang in den kreisrunden Raum. Tyron folgte ihr. Fackeln loderten an den Wänden, aber dieses mal wäre es Tyron lieber gewesen, er hätte nichts gesehen. Hunderte zerfetzte, gehäutete und verfaulende Körper stapelten sich auf dem Boden übereinander. Die Ehemänner der Gräfin; aber wo war der Brief?
Alia murmelte etwas in der alten Sprach: „Almur nekian diar LEDIA.“
Das Mauerwerk bebte unter der Gewalt ihrer Stimme und plötzlich fing sie an zu leuchten. Ein gleißend weißes Licht durchdrang den Raum. Tyron konnte den Nachtwandler schreien hören.
„Los schnapp dir den Brief!“, schrie Alia.
Tyron hatte keine Ahnung wohin er rannte und stolperte über Leichenteile und Gedärme, bis er gegen die ledrige Haut des Nachtwandlers prallte, der schlug mit der Faust nach ihm und Tyron landete in einem Haufen von Eingeweiden. Da sah er ihn. Über ihm, an einem Fleischerhaken aufgespießt, war der Brief. Tyron sprang hoch und riss ihn herunter.
„Ich hab ihn, Alia, ich hab ihn!“, brüllte er und rannte zum Ausgang. Der zweite Nachtwandler stürzte plötzlich von der Decke auf ihn herab. Tyron schlug um sich, aber er konnte das Monster nicht verletzen. Es hob ihn vors Gesicht und wollte ihm den Kopf abbeisen. Tyron stach mit seiner Hand in eines seiner Augen. Das Monster kreischte und ließ ihn fallen. Das grelle Licht war inzwischen verschwunden und Alia kam ihm zur Hilfe. Sie nahm ihn am Arm und zerrte ihn aus dem Raum. So schnell sie konnten rannten sie die Treppe hinunter und durch das Gittertor. Tyron wollte weiter, aber Alia blieb stehen und sah zur Spitze des Turms.
„Sie werden uns verfolgen“, sagte sie.
„Warum stehst du dann noch hier herum? Komm schon, wir müssen weiter.“
Alia drehte sich zu ihm um, sie hatte einem entschlossenen Gesichtsausdruck.
„Geh vor, ich halte sie auf, so lange ich kann.“
„Aber sie werden dich umbringen.“
„Ja, vielleicht … wir hätten diese Sache in meinem Zimmer noch machen sollen. Ein Jammer, und jetzt hau ab oder ich verprügle dich.“
„Ich kann doch nicht -“
Sie schlug ihm ins Gesicht. „Verpiss dich, bevor ich es mir anders überlege, du verdammter Idiot.“
Tyron fasste sich wieder. „Stirb bitte nicht.“ Dann rannte er los.
Auf der Hälfte des Weges konnte er die Schreie der Nachtwandler hören. Er zwang sich weiterzulaufen und sich nicht umzusehen.
'Bitte Gott, lass sie nicht sterben'
Als Tyron in die Halle kam, saß die Gräfin auf ihrem schwarzen Thron und sah ihn an. Tyrons Hände zitterten, als er den Brief öffnete, dann setzte sein Herz einen Schlag aus: Der Brief war leer. Die Gräfin überschlug ihre Beine und zog den richtigen Brief aus ihrem Dekolletee – das Siegel war gebrochen.
„Suchst du etwa den hier?“
Tyron hatte verloren. Sie hatte ihnen eine Falle gestellt und er war darauf hereingefallen. Er dachte an Alia, die gegen die Nachtwandler kämpfte und Zorn flammte in ihm auf. Nach allem, was sie durchstehen mussten, sollten sie am Ende doch scheitern. Tyron wollte das nicht akzeptieren.
„Ich brauche den Brief nicht“, sagte er.
„Ach nein?“
„Nein, denn ich kenne deinen Namen bereits.“
Die Gräfin lachte grausam. „Du bist ein schlechter Lügner, Talleon. Wenn du ihn weißt, warum sagst du ihn dann nicht einfach? Na los, nenne mich beim Namen und ergreife Besitz von mir.“ Sie drückte ihre Brüste zusammen und stöhnte: „Ich würde dir gehören, für immer. Aber du kannst es nicht, denn du weißt meinen Namen nicht.“ Sie lehnte sich wieder zurück und sah ihn kalt an.
Tyron war gestellt. Sie hatte ihn und das wusste sie auch. Bald würden die Nachtwandler auftauchen und ihn in Stücke reißen, wenn sie es nicht schon vorher tat. Plötzlich fiel ihm ein, wie Alia die magischen Worte gesprochen hatte und die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz.
„Ich weiß deinen Namen bereits“, flüsterte er benommen.
Die Gräfin starrte ihn misstrauisch an. „Was hast du gerade gesagt?“
„Ich sagte: Ich weiß deinen Namen.“
„Ach wirklich?“, sagte sie gelangweilt. „Ich dachte wir hätten geklärt, dass du ihn nicht weißt, warum -“
„Du hast ihn mir selbst gesagt.“
Die Gräfin starrte ihn an.
„Als wir uns das erste mal begegneten. Du hast dich vor gebeugt und ihn mir ins Ohr gehaucht, weil du insgeheim gehofft hast ich würde ihn herausfinden und dich von deinem Leiden erlösen.“
Sie erbleichte.
„Du sagtest, ich könne dich weiterhin Lady nennen. Ich dachte du hättest es einfach falsch ausgesprochen, aber es war dein Name, nicht war, Ledia?“
Die Gräfin öffnete ihren Mund zu einem stummen Schrein, dann fiel sie auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Als sie sie wieder wegnahm weinte sie, aber ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Endlich“, flüsterte sie. „Der Tod hat mir verboten, jemandem meinen Namen zu verraten, aber letztendlich habe ich ihn doch noch überlistet. Es tut mir leid, dass ich dir Leid angetan habe, aber der Kummer und der Schmerz haben mich wahnsinnig gemacht. Ich gehöre dir, Botenjunge, sag was du von mir willst.“
„Ruf die Nachtwandler zurück.“
„Mit meinem Niedergang sind auch sie nicht mehr. Lass mich übergehen ins Totenreich und sie werden ebenfalls verschwinden.“
„Dann geh und finde deinen Frieden, Ledia.“
Die Gräfin lächelte dankbar und ihr Körper verwandelte sich in gleißendes Licht, nur ihr Kleid blieb zurück.
Tyron ging zurück zu dem Turm, wo er Alia zurückgelassen hatte und sah sie in einer Blutlache am Boden liegen. Er rannte zu ihr und hob ihren Kopf hoch. Sie schlug die Augen auf.
„Hast du es geschafft?“, flüsterte sie.
„Ja, sie ist tot.“
„Du Blödmann, warum weinst du dann? Bestimmt weil du es bereust, die Sache nicht mit mir gemacht zu haben.“
Seine Tränen fielen auf ihr Gesicht und kullerten ihre Wangen herunter.
„Es tut mir leid.“
„Ja, mir auch.“ Sie strich ihm übers Gesicht. „Lebe wohl, Geliebter“, sagte sie, schloss ihre Augen und starb.
Tyron begrub sie vor den Toren der Festung unter einer großen Eiche und sprach für sie die Totengebete, sodass sie in die Himmelspforten eintreten konnte. Als er fertig war, war die Sonne aufgegangen. Er holte sein Pferd aus der Stadt und ritt Richtung Westen.
Nachdem er eine Weile geritten war, sah er das Banner von Grauwall am Horizont auftauchen. Der Lord von Grauwall mit seiner Eskorte kam ihm entgegen. Als sie auf gleicher Höhe waren, stoppte das Geleit und der Lord fragte:
„Hast du es geschafft?“
„Ja, Herr.“
Der Lord lachte und klatschte in die Hände.
„Sehr gut, mein Junge, ausgezeichnet. Ich wusste doch auf dich ist verlass. Du sollst deinen Lohn dafür bekommen, sag mir nur, was du dir wünschst.“
Tyron sah dem Lord in die Augen.
„Ich möchte nichts, nur so weit fort von dieser Festung wie möglich, Herr“
„Wie du willst. Du bist aus deinem Dienst entlassen, es steht dir frei zu gehen wohin du willst und das Pferd kannst du behalten.“
„Vielen Dank, Mylord.“
„Also dann, auf in unser neues Zuhause. Auf in eine ruhmreiche Zukunft.“
Der Lord ritt mit seinem Gefolge davon. Tyron sah ihnen nach und hoffte, dass der Fluch der Stadt nun wirklich für immer gebrochen war. Er wendete sein Pferd wieder Richtung Westen, zu einem Platz, den er noch nicht kannte, aber sein Schicksal sein sollte.