Die Bomberpiloten
Während ich koche, höre ich im Radio Nachrichten. Die Rede ist wieder einmal von den vielen Nebensächlichkeiten, wie politischen Diskussionen oder einem neuen Gesetzesentwurf. Wenig überrascht nehme ich zur Kenntnis, daß der 57te Jahrestag der Bombardierung von Mannheim gewesen sei und eine Gedenkveranstaltung gefeiert würde. Ich bin zuhause. Ich will nichts davon wissen. Nicht mehr. Zuviel habe ich darüber nachgedacht und schneide die Zwiebel schneller. Niemand kann zurücknehmen was geschah. Nie mehr.
Die Gedenkveranstaltung gilt nicht den Bombenopfern, sondern den umgekommenen alliierten Bomberpiloten. Fast schneide ich mir in den Finger.
Die wurden nach dem Bombenabwurf gefangengenommen, durch die Stadt geführt und von der Bevölkerung gesteinigt, sagt der Radiosprecher.
Zweiter Weltkrieg. Ich lebe in Mannheim. Dort oben kommen Sie wieder angeflogen. Unzählige kleine schwarze Punkte am Himmel. Ruhig und ungestört fliegen sie. Fast gelangweilt halten die Todesmaschinen träge Kurs. Majestätisch wirken Sie, als Sie näherkommen. Langsam schwillt das monotone Brummen der vielen Propeller immer lauter an. Im Bauch fühlt man es und auf der Haut. In der Luft ist ein Dröhnen, das widergeworfen wird von den Hausmauern und sich verfielfacht zu einem dumpfen Orkan. Unerreichbar sind Sie. Wir hier unten sind ausgeliefert und machtlos. Einige Flugzeuge glänzen in der Sonne. Sie fliegen jetzt direkt über uns.
Unten auf der Straße: Hektik und Panik. Jeder versucht sich in Sicherheit zu bringen.
Dann bricht das Inferno über uns herein. Überall sind Explosionen, Feuer und Rauch. Wie durch einen Vorhang sehe ich einen alten Mann. Er verbrennt auf dem Bürgersteig. Frau Müller torkelt als Fackel über die Straße. Leiber werden in einer Stichflamme in Stücke gerissen, Familien ersticken unter den Trümmern ihrer eingebombten Häuser. Mein Nachbar wird erschlagen von niedergehendem Gebälk. Überall Rauch und stickige Luft.
In unmittelbarer Nähe kracht es, ich stürze heraus, flüchte. Es ist ein Affekt, ich denke nicht. Meine Beine laufen selbst. Mein Baby! Ich besinne mich und renne zurück. Da trifft mich ein Schlag.
Als ich aufwache, gehe ich in das Haus zurück. Zu meinen Füßen liegt ein verkohlter, kleiner, schwarzer Aschehaufen. Von Brandbomben entstellt. Vor einer halben Stunde war das ein lachendes Baby mit schon 3 Zähnen und blauen Augen. Vor einer halben Stunde habe ich es geküsst. In 2 Sekunden war alles vorüber. Ich wollte das doch nicht. Ich bin doch nur rausgerannt. Ich weiß nicht wie lange ich geweint habe. Ich weiß es wirklich nicht mehr. Irgendwann schlief ich ein.
Ungesühnt und unerreichbar zogen die schweren Bomber da wieder ab. Keine Chance auf Vergeltung.
Zurück blieb mein ewig währender Vorwurf, fortgelaufen zu sein als es knallte. Warum ich in der Sekunde nicht das Bündel mitnehmen konnte. So wie es alle Mütter doch automatisch immer tun. Ohne zu denken. Ich nicht.
Zurück blieben Schutt, Feuer, Rauch, Tote und das Ende von allem was ich meine Welt nannte.
Meine Trauer ist so unmenschlich groß wie mein Hass. Fast bin ich verrückt. Alles vermischt sich zu einer einzigen Hölle aus Schmerz. „Untröstlich“, schießt es in meinen Kopf und ich verbringe den Tag wie irr damit, das Wort zu buchstabieren, zu intonieren, schnell und langsam zu sprechen. Erfreue mich am Klang. Lache es aus, dieses Wort. Schreie es. Flüstere es herbei und bemerke wie sich der Klang verändert. Untröstlich. „Du, Wort willst mich ausdrücken?“ Ich schreie es an. „Geh weg!“ Aber es geht nicht. Es ist mein neuer Weggefährte.
Der Kopf meines Nachbarn war gespalten als Sie den Vierkantbalken weghoben. Er liebte seinen Garten, werkelte dort von früh bis spät. Zusammen mit einem einzelnem Arm haben Sie ihn später verscharrt.
Eine Maschine stürzte wohl ab, höre ich. Irgendwo nahe dem Horizont. Am nächsten Tag werden Sie durch die Straßen geführt. Dort sind sie! JETZT seit ihr am Boden, so wie wir...
Ich werfe Steine. Zuerst wahllos in die Männer hinein. Die feigen Mörder. Danach picke ich mir einen heraus. Ziele auf das Gesicht. Einen Stein für meinen Mann und noch einen für mein Kind. Und als der Pilot fällt, werfe ich in das Gesicht bis nur eine rote, breiige Masse übrigbleibt. Aber da ist noch so viel Schmerz, den ich fortwerfen will. Mein Arm ist lahm. Jemand zerrt mich fort.
Ich stehe auf der Straße. Ich bin leer. Keine Genugtuung. Kein Stein war gut. Mit keinem Wurf, keinem Treffer, wurde die Trauer weniger. Es wurde nur leerer in mir. Immer leerer.
Ich bin ein Teil, ein Werkzeug von dem allem geworden. Ich weine. Ich weine, weil ich mich hasse, den Krieg hasse, meine Grausamkeit hasse. Ich weine wegen der Menschen, die ich liebe und verloren habe. Ich fasse keinen klaren Gedanken. Für Führer, Volk und Vaterland schrieben Sie bei meinem Mann. Und mein Baby? Ich hoffe nicht auf einen Sinn. Es gibt ihn nicht.
Ich habe einfach weitergelebt. Ich mußte nur Atmen. Nur Denken durfte ich nicht. Schon gar nicht an den Tag.
Heute stehe ich in der Küche und schneide Zwiebeln. Ich weine. Nicht wegen der rot gewordenen Zwiebel, sondern weil alte Wunden aufbrechen.
Niemand spricht von meinem Mann und meinem Baby. Ich weine, weil ich Sie noch immer vermisse. Ich weine, weil Sie so sterben mußten. Ich weine, weil ich mich so fühle als wäre es gerade geschehen.
Und ich weine aus Wut. Das Schweigen ist, als würde man auf ihr Grab spucken.Von den Piloten sprechen Sie. Heute müssen Sie denken wir waren Bestien. Sie haben Recht. Alle waren Bestien. Nur das haben Sie eben wieder einmal nicht gesagt. Da waren nur Piloten, die Opfer waren. Opfer, keine Angreifer.
Ich hätte nicht weglaufen sollen.