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Die blaue Blume

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21.03.2013
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Die blaue Blume

„Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!”, hörte ich die anderen hinter der Scheibe rufen.
Ich versuchte zwischen Abteil und Fenster so elegant wie nur möglich über den Kotzfleck hinweg zu steigen. Was gar nicht so einfach war, da der Alkohol enorm gegen mein Gleichgewicht ankämpfte. Ausserdem nahm dieser rotbraune Klumpen eine so große Fläche ein, dass man meinen konnte, jemand habe erst in eine Wasserbombe gekotzt, die dann aufgepustet, ein frisches Weizen untergemischt, das Ganze zugeknotet, ne Woche vor sich hin gären lassen und dann mit voll Karacho auf den Boden geschmissen. Sogar die Abteiltüre war bis Hüfthöhe voller Spritzer. Vielleicht war es doch nicht so gut gewesen, die Afterhour auf 4 Tage auszudehnen und dann mit der Bahn nach Berlin fahren zu wollen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, zwischendurch mal eine kleine Pause einzulegen. Und zu schlafen. Oder so.
Vielleicht hätte man sich auch einfach schon viel früher mal am Riemen reißen sollen.
Durch das runtergelassene Fenster auf der rechten Seite des Zuges wehte frische Luft. Das machte den bitteren Geruch erträglich.
Nach einigen waghalsigen Versuchen gab ich es auf und stiefelte mit meinen Classics vorsichtig durch die Lache. Eigentlich schob ich mich mehr hindurch, aus Angst davor, auszurutschen. Ist ein bisschen wie Schlittschuhlaufen, dachte ich und beobachtete etwas, dass aussah wie Mais, das an meiner Sohle entlang glitt. Dann zog ich die Glastüre beiseite.
„ICH BIN DER KÖNIG DER WELT!“, brüllte D. Der Rest hielt sich das Dosenbier vor Lachen. Ich hatte keine Ahnung worum es ging. Lachte aber aus Verlegenheit mit und setzte mich an den Platz, der wohl meiner gewesen war.
„Alles ok? Geht‘s dir gut?“, fragte F. im üblich besorgten Tonfall.
„Ach. Der kriegt jetzt ‘n bisschen Partypulver auf‘s Brot und dann steht der wieder!“, rief D. und reichte mir sein Bier. Ich nahm einen Schluck und Schaum quoll mir aus der Nase.
D.‘s Haut hatte die Rötung eines gekochten Hummer. Eigentlich hatten die alle. Alle, bis auf F. F. war der Vernünftige von uns. Einer, der sich einmal am Tag einen dicken Kopf rauchte, sich ein paar Stunden schlafen legte und dann wieder mit marschierte. F. war das lebende Beispiel dafür, dass man auch mit ganz viel Chemie keinen, oder nur sehr wenig Spaß haben konnte.
„Na? Noch was zu essen?“, fragte D. grinsend und schob mir eine offene Dose Chili in die Hand. Ich sah hinein. Sah genau so aus, wie das auf dem Boden. Ich ließ die Dose unter meinem Sitz verschwinden.
„Was ist los Zerbo?“, fragte D. und rammte mir seine Faust in die Schulter. „Machste schon schlapp oder was?“ Ich wollte sowas sagen wie „Ach halt doch die Fresse.“ Aber meine Muskulatur wollte nicht so, wie ich es wollte. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass der Mensch mehr als 50 Muskeln alleine im Gesicht hat. Und die jetzt gerade alle unter einen Hut zu bekommen, schien mir unlösbar. Ich schüttelte den Kopf. Das musste reichen.
„Moment. Dich kriegen wir schon wieder hin.“ Er holte die CD aus seinem Rucksack und legte sie sich auf die Oberschenkel. Dann griff er ein kleines Tütchen aus seiner Jackentasche und schüttelte dran rum.
„Was ist eigentlich auf der CD drauf?“, fragte G.
„Hendrix.“, sagte D.
„Quatsch. Speedy J.!“, sagte F.
„Er wieder, weisste. Keine Ahnung, aber das Maul aufreissen.“, sagte D.
„Woher willst du denn wissen, was da drauf ist, wenn du die CD noch nie aus der Hülle genommen hast?“, fragte F. I
„Weil ich die gebrannt habe? Und ich hab da nur „Voodoo Chile“ in Endlosschleife drauf gepackt.“
„Das heißt Voodoo Child!“, korrigierte F.
„Voodoo Child ist‘n ganz anderes Lied du Spinner.“, sagte D. und schüttelte noch immer am Tütchen herum.
„Wo ist‘n da der Unterschied?“, fragte G.
„Das eine geht knapp 5 Minuten, das andere 15. Das eine ist mehr so 70er Hard Rock und das andere ist eben bluesiger.“
„Wie kann man eigentlich was in Endlosschleife brennen?“, fragte F. aus dem Sitz ausspringend.
„Indem man von Computern mehr Ahnung hat als du.“, sagte D. Mir wurde ganz schwindelig.
Ich nahm D. die CD ab und popelte mir etwas von dem feuchten Zeug auf das Plastik. Ich griff einen Schein aus dem Portmonee, drehte ihn und pustete mir eine Ladung Amphetamin in die Synapsen. Ein Gemisch aus pastenartiger Chemie und Rotz tropfte mir in den Rachen und brannte die Kehle herunter. Mein Magen drehte sich auf links und die Speiseröhre zog sich zusammen, wie ein Spritzbeutel vom Konditor. Ich sprang aus meinem Sitz, schob die Glastüre auf, rannte auf den Gang, rutschte aus und landete in der Horizontalen. Dann wurde es dunkel.


Ich spürte Schweiß auf meinem Körper. Die Haare klebten mir auf der Stirn. In meinem Kopf rauschte und pfiff es, als stände ich mit einer Schiripfeife am Meer. Ich öffnete die Augen. Menschen. Unzählige Menschen. Alle brüllten durcheinander. Irgendwer hielt eine Rede. Ich kratzte das letzte bisschen Aufmerksamkeit zusammen und schob es in Richtung Ohren.
„Wie fühlt ihr euch?“, fragte eine heisere, männliche Stimme. Alle klatschten und grölten. Ich übergab mich. „Wir hoffen, ihr habt eine gute Zeit.“
„Ey. Spinnst du oder was?“, fragte irgendwer.
„Was ist los?“, fragte jemand anders.
„Der hat mich angekotzt.“, antwortete irgendwer.
„Es ist schön, euch alle zu sehen. Wir sind hier eine Millionen Menschen!“ Jetzt kotzte ich ihm auf die Hose. Alle jubelten.
„Musik ist eine Brücke zwischen allen Menschen, Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen.“
„Ey sag mal...“ Jemand schubste mich nach hinten. Jemand anderes wieder nach vorne. „Tschuldige.“, wollte ich sagen, als ein Presslufthammer unter meinem Auge landete.
„Es ist sehr schön zu sehen, wie viele Menschen hier friedlich zusammen kommen, um zu ihrer Musik...“ Dann wurde es dunkel.


Mein Herz raste. Mein Atem ging flach und schwer. Es war noch immer sehr laut. Der Geschmack von Kupfer lag mir auf der Zunge. Ein Gefühl, als würde ich einen Marathon laufen. Nur, dass ich nicht lief.
Und dieser Geruch. Ein bisschen holzig. Leicht blumig, nicht zu aufdringlich.
„K.!“, rief ich und riss die Augen auf. Ich sah zwar geradewegs auf ein Arschgeweih, aber es war nicht das, von dem ich dachte, dass es das war. Dafür wusste ich jetzt, warum ich trotz ruhender Füße das Gefühl hatte, den New York Marathon zu laufen. Ich sah mich um. Immer noch Menschen. Immer noch Unmengen von ihnen. Nur war ich jetzt der Redner und mein Schwanz das Mikro.
Mein Blick traf auf D. und F., die mich aus ihren tiefschwarzem Augen anlächelten und ihre Daumen in die Luft streckten.
Irgend etwas klatschte gegen meinen Hinterkopf. Ich blickte zur Seite. Da stand ein Typ mit einer Kamera in der Hand und deutete mir mit der anderen, dass ich gefälligst weiter machen sollte. Ich machte weiter.
Mein Herz wurde immer schneller. Aus meiner Atmung wurde ein Hecheln. Alles grölte und klatsche, wie vor einem Elfmeter. Gummi zog in meine Knochen. Dann wurde es unangenehm. Ich konnte nicht genau sagen, was da los war. Aber irgendwas lief hier gerade nicht so, wie es normalerweise laufen sollte. Ich sah über meine Schulter. Hinter mir hockte ein Mädchen mit langen Rastas und streckte mir ihre grüne Zunge raus, während sie mir einen Finger in den Arsch schob. Mein Herzschlag ging in ein Kammerflimmern über. Ich kam. Dann wurde es dunkel.


Ein Vogel quiekte. Kinder plärrten. Ein breiter Streifen Wärme lag auf meinem Gesicht. Ich kniff die Augen feste zusammen und streckte mich. Ich zog die Lieder hoch und sah mich um. Mein Schlafzimmer.
Dann setzte ich mich auf die Bettkante, gähnte wie ein Grizzly nach dem Winterschlaf und lächelte. Ich stand auf und ging in’s Wohnzimmer. D. und G. lagen auf der Couch. Ich zog die Jalousien hoch und stieß D. mit dem Fuß an.
„Ey. Schlafmütze. Aufwachen. Die Sonne ist da.“ Er drehte sich zu mir.
„Hank?“
„Ja man. Und zwar fit wie ein Turnschuh.“ Ich lies mich in den Sessel fallen.
„Alter, du solltest ganz dringend mal zum Arzt. Ernsthaft. Du hast echt‘n Schaden.“, nuschelte er, rieb sich die Augen und vergrub seinen Kopf wieder in der Couch.
Ich versuchte die Fernbedienung zu finden. Aber der Tisch sah aus, als hätte Alexander der Große auf dem Rückweg von Gaugamela hier Halt gemacht. Ich lehnte mich in meinen Sessel und starrte auf von Wille‘s „blauen Blume“, das an meiner Wand hing. Ich mochte dieses Bild. Keine Ahnung warum. Es machte mich immer ein bisschen schwermütig.
Nach ein paar Minuten spürte ich ein leichtes kribbeln, dass meinen Brustkorb durchzuckte. Ich rutschte auf dem Sessel hin und her. Ein Gefühl überkam mich, dass ich so schon länger nicht mehr gekannt hatte. Unangenehm drückte es mich mit einer bleiernen Schwere tief in den Sessel. Es überschwamm meinen Körper wie Heroin, dass sich in jede einzelne Zelle zwängt und von ihr Besitz ergreift. Emotionale Hausbesetzer.
Dann fiel mir alles wieder ein. Wuppertal. Düsseldorf. Berlin! Und dass all der wahllos wirkende Wahnsinn wohl platziert gewesen war. Ich beugte mich über den Tisch, wühlte mich nervös durch den Müll, fand die CD, säuberte sie. Ich wühlte weiter. Fand eine grün gesprenkelte Tablette, warf sie ein und spülte sie mit allem runter, was noch so auf dem Tisch stand. Ich schmiss eine alte Schranz Mix CD in den Player, drehte auf und weckte die Anderen. Später würde wieder alles dunkel werden. Und es wurde wieder dunkel. Gott sei Dank...

 

titcher schrieb über den Text:

Der Plan war, eine traurige Geschichte über Sehnsucht zu schreiben. Und da dachte ich, frage ich mal die Fachwelt, ob das Thema erkennbar ist?

Solche Zusätze bitte in einen Extra-Beitrag posten. Der erste ist allein der Geschichte vorbehalten.

 

Hallo Katzano

Entschuldige. Wird geändert, werde ich mich in Zukunft dran halten.

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus titcher (aka zerbolesch ?),

Den Titel der Geschichte könnte man beinahe als arglistige Lesertäuschung bezeichnen, assoziiert der Literatur-Connaisseur damit doch sofort einmal Novalis („…fern ab liegt mir alle Habsucht, aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken.“), Chamisso, Eichendorff, E.T.A. Hoffmann, diese ganze Bande von Romantikern eben, dein Text allerdings schlägt gleich vom Beginn weg gänzlich andere thematische Töne an.
Drogen, exzessives Feiern, Saufen als Initiationsritus junger Männer, der ganze Kram halt, den man in der Jugend um keinen Preis versäumen will, und an den man Jahre später, so man ihn körperlich und geistig unbeschadet überlebt hat, kopfschüttelnd und nostalgisch verklärend zurückdenkt.

Zum Inhalt der Geschichte ist nicht viel zu sagen. Ein paar junge Typen geben sich die Dauerparty, ballern sich das Hirn aus dem Schädel mit was weiß ich was für Zeugs und ab und zu speiben sie sich an. Cool! Aber sonst?
Ich mein, ich finde es recht gut geschrieben, stilistisch sehr sicher und dem Sujet angemessen, mit durchaus originellen Formulierungen, auch die Dialoge sind klasse, die klingen absolut echt, aber das Ganze ist mir irgendwie zu wenig, da ist nichts, was mir den Atem raubt.
Auch der Drogentrip des Protagonisten (offenbar während eines Konzertes) hebt die Kiste nur ein wenig aus der, ja, Belanglosigkeit. Und das titelgebende Bild, die blaue Blume, den Romantikern Symbol für Sehnsucht und Liebe (und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen usw.), wird quasi nur in einem Nebensatz erwähnt und hat letztlich keine erzähltechnische Funktion, außer den Prot etwas schwermütig werden zu lassen. Von seinen wirklichen Sehnsüchten erfahre ich nichts. Ich muss gestehen, dass ich deine Absicht

titcher schrieb:
„… eine traurige Geschichte über Sehnsucht zu schreiben.“

ohne diese erklärenden Worte nicht recht erkannt hätte. Da wäre einiges mehr aus der Geschichte rauszuholen, glaub ich, bzw. müsstest du vorher noch einiges reinstecken.

Ich kann mir den Text sehr gut als Teil einer längeren Erzählung vorstellen, eingebettet in eine komplexere Handlung. Die Typen, die du entwirfst samt ihrem Lebensgefühl, scheinen nicht uninteressant zu sein, sie bräuchten halt die Möglichkeit, in ein wenig mehr „Geschehen“ zu agieren.
Aber als Kurzgeschichte bietet mir der Text, abgesehen von deiner wirklich gut zu lesenden Sprache, einfach zu wenig, ist halt ein bisschen wie der Erlebnisbericht von einem ausgeflippten Wochenende, mehr nicht.

Ein paar Sachen gäb’s zum Ausbessern:

Ausserdem nahm dieser rotbraune Klumpen eine so große Fläche ein, dass man meinen konnte, jemand habe erst in eine Wasserbombe gekotzt, die dann aufgepustet, ein frisches Weizen untergemischt, das Ganze zugeknotet, ne Woche vor sich hin gären lassen und dann mit voll Karacho auf den Boden geschmissen.
Außerdem
Den Begriff Klumpen würde ich noch einmal überdenken, ja eigentlich diese ganze Kotzebeschreibung, die klingt so nach bemühtem Schülerhumor, nicht einmal halblustig. Die einzige Stelle im Text, die ich echt schwach fand.
eines gekochten Hummer[s]
„Er wieder, weisste. Keine Ahnung, aber das Maul aufreissen.“, sagte D.
weißte, aufreißen, kein Punkt vor dem abschließenden Anführungszeichen, (der Fehler kommt mehrmals vor)
tropfte mir in den Rachen und brannte die Kehle herunter.
hinunter
„Es ist schön, euch alle zu sehen. Wir sind hier eine Millionen Menschen!“
eine Million
die mich aus ihren tiefschwarzem[n] Augen anlächelten
Irgend etwas
Irgendetwas
auf‘s , in’s , von Wille‘s
aufs, ins, von Willes,
ein leichtes kribbeln
Kribbeln
Ein Gefühl überkam mich, dass ich so schon länger nicht mehr gekannt hatte. Unangenehm drückte es mich mit einer bleiernen Schwere tief in den Sessel. Es überschwamm meinen Körper wie Heroin, dass sich in jede einzelne Zelle zwängt und von ihr Besitz ergreift
das, gehabt hatte, überschwemmte, das

Tja, ich will's mal so sagen, ich hab's gerne gelesen. Es war nicht gerade Schädelwegfetzend, dazu fehlte mir wie gesagt "das besondere Etwas", aber ich trau es dir und deinem Sprachgefühl zu, dass du noch ein wenig mehr daraus machst.

offshore

 

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