Die Bitte des Erleuchteten
Oh Tod, mein alter Freund, ich verstehe, wenn du mich jetzt holen willst, doch lasse mir noch ein wenig Zeit, ich habe meine Aufgabe noch nicht erfüllt.
Deine Sense senkt sich herab, das sehe ich wohl, und deine blauen Augen leuchten verlangend unter der schwarzen Kapuze, doch ich bitte dich, gedulde dich. Nur noch ein klein wenig. Und während du wartest, lasse mich dir den Grund für meine Bitte erklären, denn wie du weißt, würde ich mich dir niemals entziehen, ohne nicht einen guten Grund dafür zu haben.
Siehe, dort liegt die Welt, unsere Welt, oder zumindest die meine, und sie ist doch ein sehr kleiner Ort. Doch wann spielte die Größe eines Ortes jemals eine Rolle? Griechenland war auch nur ein kleiner Fleck auf der so viel größeren Erde, doch haben die Griechen nicht maßgeblich zur Weltgeschichte beigetragen? Was ich sagen will, oh Tod, mein langjähriger Gefährte, ist, dass diese kleine Welt trotz ihrer geringen Größe über tausende und abertausende Schicksale entscheidet. Schicksale, die untrennbar mit meiner Aufgabe verknüpft sind.
Es leben so viele Wesen auf dieser Erde, winzige und kleine und große und riesige. Es gibt Pflanzen und Getier zu Wasser und zu Lande und alle unterscheiden sie sich auf jede nur erdenkliche Weise. Milliarden und Billiarden von Herzen schlagen in stetigem Puls in unzähliger Lebewesen Körper, bis sie eines Tages verstummen. Aber wem erzähle ich das, oh Tod, denn du weißt das sicherlich am besten.
Worauf ich hinaus will, ist, dass die Natur etwas wunderbares darstellt. Etwas, das wir schützen müssen. Etwas, das niemals zerstört werden darf. Ja, die Tiere, Pflanzen und anderen Wesen dieser Welt, sie lebten friedlich und ungestört, bis jene kamen, die auf zwei Beinen gehen und glauben, mit der Gabe der Intelligenz gesegnet zu sein.
Aber Tod, mein wortkarger Zuhörer, du weißt, sie sind es nicht, nicht mehr. Einst mag es Weisheit und Klugheit gegeben haben unter den Menschen, aber diese Zeiten sind vorbei, nicht wahr? Es ist eine Schande, ja, eine verfluchte Schande ist es, was sie angestellt haben. Sieh nur, wie sie über die Welt trampeln, ohne Blick für die Schönheit der Natur um sie, unter ihnen und über ihnen. Den Blick haben sie starr geradeaus gerichtet, in die Zukunft, und ihre Augen sind voll Verlangen, doch sie sind blind.
Vielleicht, das überlege ich oft, liegt es an der Höhle. Jene Höhle, in der wir alle zu Beginn gefangen sind. Weißt du, wovon ich spreche? Wie könntest du es wissen, der du noch niemals Mensch warst? Nun, jedenfalls gibt es die Höhle, in der wir angekettet verharren, in tiefer Finsternis, die nur durch ein einzelnes Licht unterbrochen wird, das seltsame Schatten an die Wand wirft.
Aber wie nun soll man die Natur erkennen, wenn man nur Schatten sieht?
Weißt du, Tod, dies ist nur möglich, wenn man die Ketten löst und die Höhle verlässt, wie ich es getan habe. Ach, was hat mich der Schein der Sonne geblendet, und doch sehe ich nun viel mehr als jeder andere meiner Rasse.
Du weißt nicht, wie es unten aussieht, Tod, mein schweigender Kumpan, hast nur die helle Seite der Erleuchtung gesehen. Ich aber kenne beide Seiten, das Davor und das Danach, Dunkel und Licht. Und als ich dort oben geblendet wurde, da erfüllten Freude und Zuversicht meine Seele, und ich stieg wieder hinab in die Höhle, um allen die Kunde von der Entdeckung zu überbringen.
Ach, ich hätte es ahnen sollen, was geschehen würde! Sie glaubten mir nicht, Tod, sie wollten die Existenz der hellen Welt nicht wahrhaben, und sie verschrieen mich als Lügner und Verrückten. Was hätte ich tun sollen, Tod, außer dich zu rufen? Ich war verbittert, ja, das gebe ich zu, und zornig, das lässt sich nicht leugnen, und ich hasste. Ich hasste all jene, die mich abgestoßen hatten und meine Entdeckung als das Geschwätz eines Menschen ohne Verstand bezeichneten.
Wer, wenn nicht ich, besitzt Verstand in der dunklen Höhle? Ich, der Erleuchtete, wurde als dumm bezeichnet, als unterbelichtet, wahnsinnig, man sagte mir einen Dachschaden nach! Mir! Kannst du dir das vorstellen, Tod?
Ich hätte mich damals dafür entscheiden können, in die Welt der Ideale zurück zu flüchten, aber dann hätten sie mich vollends für einen hoffnungslosen Träumer gehalten. Also behielt ich die Erinnerung immer im Hinterkopf, und war der einzig Erleuchtete, der einzig Sehende unter Blinden. Und wenn ich dieses uneinsichtige Volk schon nicht bekehren konnte, so wollte ich wenigstens die Welt schützen vor der Ignoranz der Menschen.
Und so stellte ich mir die Aufgabe und arbeitete daran. Über Jahre hinweg, jeden Tag, alles drehte sich nur noch um die Arbeit an meiner Aufgabe, an meiner Rache, meiner Rettung der Natur dieser kleinen Welt. Verbitterung und Zorn und Hass haben in all der Zeit nicht nachgelassen, immerzu erhielten sie neue Nahrung und trieben mich an, zu tun, was getan werden muss.
Verstehst du es nun, oh Tod, mein alter Freund? Verstehst du, warum ich dich bitte, mich noch nicht zu dir zu holen? Ehe ich mich mitnehmen lasse, müssen die Verblendeten ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Ehe ich die Welt verlasse, muss sie von diesen Kreaturen gereinigt werden. Ehe ich gehe, muss die Menschheit gehen. Verstehst du das?