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Die Bibliothek von Morag
Gewaltig.
Das ist normalerweise das erste Wort, welches einem unbedarften Besucher einfällt, wenn er die geheiligten Hallen der Bibliothek von Morag betritt. Endlose Bücherregale winden sich in teilweise obskuren Bahnen in die Unendlichkeit, wobei sich nicht selten die uns bekannten Dimensionen verlassen und bizarre Strukturen des Seins formen. Manche Menschen sagen über die Bibliothek gerne, so etwas wäre wohl nur in unsichtbaren Universitäten möglich, aber sie irren. Unsichtbare Universitäten existieren nicht.
Unzählbar viele Bücher aus altem, vergilbtem Pergament oder weißem Papier reihen sich Buchdeckel an Buchdeckel artig aneinander, so als bildeten sie eine untrennbare Kette des Wissens. Niemand weiß genau, wieviele Bücher es wirklich sind. Niemand weiß, was passiert, wenn man dem Gang zwischen den Regalen „Politikwissenschaft des Mittelalters“ und „Kochen für Anfänger“ bis zum Ende folgt. Vermutlich landet man in einem Straßengraben oder einfach im Kopf von John Malkovich.
Trotz des hier scheinbar vorherrschenden Chaos gibt es eine Ordnung. Die Bücher sind sortiert nach Thema, Autor, Titel und wenn es gar nicht anders geht, sogar nach Größe und Farbe. Es gibt hier ein System, das dermaßen komplex ist, daß man wiederum eine kleine Bibliothek bräuchte, um alles Wissen darüber zu sammeln. Entweder das oder den Kopf von Krill.
Krill ist der hiesige Bibliothekar und es ist seine Aufgabe, hier für Ordnung zu sorgen, die Folianten von den Atlanten zu trennen und jeden Tag einmal durchzulüften. Nur selten hat er Besuch, nur selten trauen sich Leute in seine Hallen, um nach einem Buch zu fragen. Tritt dieser Fall aber einmal ein, huscht ein freudiges Lächeln über die Gesichtszüge Krills, er verschwindet für eine Weile zwischen den Reihen der Regale und hält genau das gesuchte Buch in den Händen, wenn er wenige Minuten später wiederkommt.
So ist es normalerweise.
Aber nicht heute. Heute war alles anders. Die gewaltigen Türen der Bibliothek öffneten sich langsam und durch das hereinbrechende Sonnenlicht konnte Krill zunächst nur einen unbestimmten Schatten erkennen.
„Gewaltig.“
„Wie bitte?“ Krill schob seine dicke Hornbrille auf der knubbeligen Nase nach oben und musterte sein Gegenüber mit einem abschätzigen Blick. Der Besucher war größer als er, aber dennoch schaffte Krill es, mit einem Gefühl der Überlegenheit auf ihn herabzusehen, und ihn mit einer überheblichen Freundlichkeit anzusprechen. Er war eben ein Bibliothekar aus Berufung.
„Oh, tut mir leid. Ich war eben nur überwältigt von den Massen an Büchern, die es hier gibt.“
„Ja, das geht den meisten Besuchern so.“
„Mein Name ist Eric Cohn. Bist du hier der Bibliothekar?“
„So ist es. Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie vielleicht ein bestimmtes Buch?“
„Ja und nein.“ Der Fremde kratzte sich am Kopf und schien nachzudenken.
„Wie bitte?“
„Ja, du kannst mir helfen und nein, ich suche kein bestimmtes Buch.“
„Wie kann ich Ihnen denn dann helfen?“
„Am besten wäre es vielleicht, wenn du dir dieses Seil hier selbst um die Füße und Hände wickelst, dich dann auf den Stuhl da setzt, dir die Augen verbindest, dich mit Benzin übergießt und dann den ganzen Laden hier anzündest, wobei mir die Reihenfolge herzlich egal ist. Da ich das aber wohl nicht von dir verlangen kann, reicht es mir fürs Erste, wenn du die Hände hebst.“ Mit diesen Worten nahm der Fremde eine Pistole aus seinem Mantel und zielte Krill damit genau zwischen die Augen.
„Und jetzt? Wollen Sie mich erschießen?“
„Wenn es sein muß... Nimm lieber die Hände hoch, wenn du mich nicht dazu zwingen willst.“
Widerwillig gehorchte Krill und ließ sich von dem Eindringling auf einen Stuhl fesseln.
„Ist noch jemand hier oder bist du alleine?“
„Nur ich... ich und meine Bücher.“, sagte der alte Mann mit nun doch zittriger Stimme.
„Also nicht... okay.“ Der Fremde holte ein Funkgerät aus seinem Mantel „Alles klar, die Luft ist rein. Ihr könnt kommen!“
Es gab ein lautes Krachen, als die schweren Eichentüren der Bibliothek aus den Angeln brachen und auf den rohen Steinboden fielen. Putz löste sich von der Wand und tanzte im Licht der Sonne. Sofort wurde der Eingangsbereich der Halle von dutzenden Männern gestürmt. Sie alle trugen weite schwarze Mäntel und jeder von ihnen hatte einen Kanister in der Hand.
„Alles klar! Fertig für Phase zwei!“, befahl Eric, woraufhin seine Männer die Benzinkanister öffneten und die Flüssigkeit großzügig auf dem Boden und den Regalen verteilen. Natürlich trauten sie sich nicht weit in die dunklen Gänge, weil sie nicht wußten, was sie dort erwarten würde. Aber sie vertrauten darauf, daß das Feuer, wenn es erst einmal brannte, schon bis in die hinterste Ritze vordringen würde.
„Machs gut, alter Mann.“, sagte Eric, als seine Männer nach getaner Arbeit die Hallen wieder verlassen hatten. Er nickte Krill einmal flüchtig zum Abschied zu und warf im Weggehen ein brennendes Streichholz auf das Benzin.
...
König Jasper von Morag öffnete den obersten Knopf seiner Hose, streichelte sich zärtlich über den Bauch und rülpste zufrieden. So ein gutes Mahl hatte er nicht mehr zu sich genommen seit damals seine Frau das Schloß verlassen hatte, weil sie ihn nicht mehr bekochen wollte. Gestern endlich hatte er eine Köchin gefunden, die sein Lieblingsgericht - Hirschbraten in Rotweinsauce mit Kartoffelpüree - ebensogut zubereiten konnte, wie seine ehemalige Gattin.
Drei Diener schoben seinen Stuhl ein Stück vom Tisch weg, damit der König sich erheben konnte. Ächzend wuchtete er sein Hinterteil in die Luft, legte die Serviette beiseite, wischte sich beiläufig die Hände ab und setzte dann seine Krone wieder auf den Kopf. Er nahm sie beim Essen immer ab, seit sie ihm mal vor ein paar Monaten in eine Hühnersuppe gefallen war und die Suppenspritzer seine königliche Robe beschmutzt hatten.
Jasper gab seinen Dienern mit einem Wink zu verstehen, daß er nun gerne einen Moment lang alleine wäre und begab sich dorthin, wo jeder, auch Kaiser und Könige, zu Fuß hingeht.
So bekam er nicht mit, wie ein mit Mosaiken geschmücktes Fenster des Thronsaals zersplitterte und eine Rauchgranate den Raum in Nebel hüllte. Die anwesenden Wachen mußten husten und hielten sich die Ärmel ihrer Uniformen vor die Gesichter, aber es half nichts. Schon nach kurzer Zeit lagen sie röchelnd am Boden und mußten hilflos mitansehen, wie Männer in schwarzen Mänteln und mit Gasmasken durch die Fenster geflogen kamen und hektisch mit ihren Gewehren herumfuchtelten.
...
Währenddessen hatte sich das Feuer in der Bibliothek schon ziemlich weit ausgedehnt. Krill standen vor Verzweiflung die Tränen in den Augen. Es ging ihm weniger um sein eigenes Schicksal als um das seiner Bücher. Die Übeltäter hatten den Boden um seinen Stuhl herum nicht mit Benzin übergossen, so daß die Flammen ihn nicht ganz erreichten. Vermutlich wollten sie ihn vor seinem Tod noch ein wenig quälen, indem er das Ende seiner Bücher mitansehen sollte. Das gab ihm immerhin ein bißchen Zeit. Zumindest solange, bis die Holzbalken der alten Deckenkonstruktion Feuer fangen und zusammenbrechen würden. Die lodernden Flammen erreichten die ersten Regale und die ersten Werke wurden von ihnen verschlungen. Krill war zum Weinen zumute und tatsächlich rann eine kleine Träne seine Wange herab.
Krill kannte natürlich die Macht der Geschichten. Er wußte, daß sie manchmal die Realität beeinflussen. In ausweglosen Situationen passiert meistens irgendetwas Unerwartetes, damit der Held doch noch gerettet wird. Hoffentlich gab es irgendwo im unendlich weiten Universum der Erzählungen eine Geschichte über einen Bibliothekar, der umringt von Flammen gefesselt auf einem Stuhl sitzt. Irgendetwas Unerwartetes – das war wohl das einzige, was ihn in dieser Situation noch retten konnte.
In diesem Moment gab eines der Bücherregale nach und kippte einfach um. Der Grund lag darin, daß eines der Standbeine vollständig verbrannt war. Ein brennendes Buch flog durch die Luft und landete genau neben dem Stuhl von Krill.
...
Nach getaner Verrichtung betätigte König Jasper die Toilettenspülung, klemmte sich seine Zeitung unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Thronsaal, um gut gelaunt seine Regierungsgeschäfte wieder aufzunehmen. Er liebte diesen Flur seines Schlosses. Immerhin gab es hier eine Menge Spiegel, in denen er sich selbst bewundern konnte. Die Ahnengalerie an den Wänden war natürlich auch nicht zu verachten, aber Jasper fand, daß sie gegen sein eigenes Antlitz einfach nicht ankamen.
Nach einem kurzen Fußmarsch, der als Teil des alltäglichen Zeremoniells der Mittagspause und der Verdauung dienend unerläßlich war, erreichte der König die Türen seines Thronsaales und wurde einen Moment lang stutzig, als er ein wenig Rauch aus dem Schlüsselloch kriechen sah. Vermutlich hatte der alte Wilhelm beim Anzünden der Kerzen nur wieder aus Versehen einen Vorhang erwischt. Er war halt nicht mehr der Jüngste, aber dafür sehr loyal.
Jasper von Morag öffnete die Tür. Er war darauf vorbereitet, wie immer durch das Spalier seiner Wachen und Diener auf den Thron zu wandern und blieb erstaunt stehen, als er sah, daß das Spalier aus ganz in schwarz gekleideten Männern bestand und zudem schon jemand auf dem Thron saß. Vor Schreck ließ der König seine Zeitung fallen.
„Hallo Vater. Wie geht es dir?“, sagte Eric Cohn mit einem eiskalten Lächeln im Gesicht.
...
Nicht ohne Anstrengungen hatte Krill es geschafft, seinen Stuhl zum Kippen zu bringen. Er brachte seine Handfesseln in die Nähe des brennenden Buches und ließ die Flammen das Seil durchtrennen. Natürlich verbrannte er sich dabei die Hand, aber er ignorierte den Schmerz. Hustend erhob er sich und dachte einen Moment lang nach. Der Weg zum Haupttor war durch das Feuer abgeschnitten.
Aber es gab einen anderen Fluchtweg. Wie durch einen Zufall war einer der Gänge zwischen den Regalen noch nicht vom Feuer betroffen. Krill nahm all seinen Mut zusammen, hechtete über einige kleine Flammen und sprintete zwischen diese beiden Regale. Er mußte aus dieser Bibliothek raus, um eine Möglichkeit zu finden, die Flammen zu löschen. Er brauchte einfach Hilfe.
Der Gang schien sich ins Unendliche zu erstrecken und es war stockdunkel. Krill holte seine Taschenlampe hervor und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit. Er wußte, daß irgendwo dort hinten ein zweiter Ausgang war. Er kannte sich hier natürlich bestens aus, immerhin war er diesen Weg schon Tausende Male gegangen. Dennoch hatte er jetzt Angst und war nervös. Was, wenn das Feuer ihn einholen würde? Was, wenn er niemanden fände, der ihm helfen kann? Was, wenn seine Schätze hier elendig verbrennen?
Mit diesen Fragen im Kopf setzte Krill vorsichtig immer einen Fuß vor den anderen. Wie immer war er auch heute erstaunt, wie weit sich die schier endlosen Gänge verzweigten. Seine Lampe war sehr stark, aber er konnte das Ende der Regalreihen in der Dunkelheit trotzdem nicht ausmachen. Hier gab es keine Regeln mehr. Richtungen und Geometrie verloren an Bedeutung, an manchen Stellen wurde oben zu unten und links zu rechts. Oder andersherum. Es war, als würden die Bücherreichen die Realität verzerren, sie krümmen, um das Auge zu verwirren und Beobachter in den Wahnsinn zu treiben. MC Escher hätte sicher seine wahre Freude an diesem Anblick gehabt.
Man brauchte eine jahrelange Ausbildung, um sich hier nicht zu verlaufen. Viele Menschen sind schon in diesen Gängen umgekommen, weil sie den Rückweg nicht mehr gefunden haben. Irgendjemand hat mal gesagt, daß jede Bibliothek durch solche Gänge mit jeder anderen verbunden sei, unabhängig von Zeit und Raum. Obwohl das natürlich nicht stimmte, hätte Krill sich nicht gewundert, jeden Moment auf einen Orang Utan mit einem grünen Bademantel zu treffen, der ihm eine Banane anbietet.
...
„Eric, was zum...“ König Jasper war nicht in der Lage, diesen Satz weiterzusprechen. Zu überrascht war er vom Anblick seines Sohnes auf dem Thron. Zudem richteten die in schwarz gekleideten Männer ihre Waffen auf den König. Die roten Punkte der Laserzielhilfen fuhren hektisch über seinen ausladenden Körper.
„Ich nehme mir nur das, was mir zusteht, Vater.“
„Aber... du kannst doch nicht einfach... ich meine...“
„Du siehst doch, daß es geht.“
„Das ist mein Thron!“
„Sicher. Der Thron gehört dir, du hast ihn schließlich selbst in Drokan gekauft. Aber Morag gehört dir nicht. Dieses Land gehört dem Volk. Meinem Volk.“, sagte Eric und spielte mit dem königlichen Zepter in seiner Hand.
„Du willst eine Revolution? Glaubst du wirklich, das Volk wird auf dich hören?“ Der König hatte nun langsam seine Fassung wiedergefunden und sogar ein herablassendes Lächeln gelang ihm wieder.
„Mehr, als auf dich. Ich habe deine Bibliothek verbrannt. Du hast nichts mehr gegen die Leute in der Hand.“
Jasper wußte nur zu gut, was das bedeutete. Ohne die Bibliothek war er tatsächlich machtlos. In einer Welt, in der Geschichten die Macht besaßen, die Realität zu bestimmen, war eine solch enorme Ansammlung von Büchern nicht mit Gold aufzuwiegen.
Wenn zwei Söhne des Königs versagen, wird der dritte die Aufgabe erfüllen. Wenn ein Mann eine Frau liebt und sie erschossen wird, trifft die Kugel nicht ihr Herz, sondern zufällig ein Medaillon. Wenn ein Mann mit guten und einer mit schlechten Absichten gegeneinander kämpfen, gewinnt am Ende immer der Gute. Das alles sind Tatsachen - in Geschichten und auch in der Realität von Morag.
Das Volk mochte seinen König nicht, er verbrauchte den größten Teil des Staatshaushaltes für sich alleine, während die Bauern in Armut lebten. Das einzige, worauf sich die Macht Jaspers bezog, war sein enormes Wissen über die Welt der Phantasie.
„Du hast dein Volk zugrunde gerichtet, Vater. Ich bin hier, um es zu rächen.“
„Indem du meine Bücher zerstörst?“
„Erst die Bücher, dann dich.“ Eric machte eine Handbewegung in Richtung seiner Schergen „Fesselt ihn und bringt ihn auf den Marktplatz!“
...
Krill war immer noch auf der Suche nach dem Hinterausgang, als er plötzlich stolperte. Er war mit dem Fuß in einem Skelett hängengeblieben. Einer der unzähligen Besserwisser, die vor langer Zeit immer wieder mal versucht hatten, die Gänge auf eigene Faust zu erforschen. Nur die Bibliothekare kannten sich hier aus. Das Wissen wurde über Generationen an den Nächsten weitergegeben. Einen Moment lang dachte Krill daran, daß er noch keinen Nachfolger für sich gefunden hatte. Wenn er heute sterben würde, würde niemals wieder jemand die Geheimnisse dieser Hallen kennen. Aber das würde keine Rolle spielen, denn wenn er heute starb, würde die Bibliothek sowieso in Flammen aufgehen.
Betrübt wanderte Krill weiter und versuchte, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Seine Taschenlampe fuhr langsam über die Buchrücken und Krill nahm eher unterbewußt die Titel wahr. „Der Schlachter von London“, „Wenn es dunkel wird, sieht man schlecht“ oder auch „Handbuch zur chemiefreien Blattlausbekämpfung“. Das war eindeutig falsch eingeordnet, denn es stammte von einem ganz anderen Autor. Aus einem Reflex heraus, den sich ganze Generationen von Bibliothekaren antrainiert haben, nahm Krill das Buch aus dem Regal und pustete liebevoll den Staub vom Titelblatt. Ein benachbartes Buch kippte durch die plötzlich fehlende Stütze um und lenkte Krills Aufmerksamkeit auf sich: „Die Hinrichtung des Königs“. Konnte das ein Zufall sein? Krill glaubte fest an die Macht der Geschichten und er wußte, wenn einem in Zeiten höchster Not ein Buch in die Hände fällt, ist das ein Zeichen und sollte erhört werden. Die Bibliothek würde warten müssen.
...
Das Fallbeil der Guillotine glänzte in der Sonne, als würde es dem König hämisch entgegenlachen. Die Herolde des Königs hatten ganze Arbeit geleistet und das gesamte Volk Morags stand jubelnd auf dem Marktplatz und beobachtete, wie Eric auf der Bühne ihrem König rituell die Krone abnahm. Jasper wurde gezwungen, auf die Knie zu gehen, was ihn erhebliche Mühen kostete. Schließlich schaffte er es doch, wobei nur die Leute in den ersten Reihen das Reißen seiner Hose vernahmen.
„König Jasper von Morag! Ich verurteile dich im Namen des Volkes zum Tode. Du wirst für schuldig befunden, dein Volk verhungern zu lassen, während du selbst in Saus und Braus lebtest. Dies hier ist eine Revolution und du bist ihr Opfer!“, intonierte Eric. „Hast du irgendwelche letzten Worte?“
„Ja... Tu‘s bitte nicht.“, stöhnte der König.
„Laßt das Fallbeil runter und vollstreckt das Urteil!“ Auf Geheiß Erics begann ein Trommler, einen Rhythmus zu spielen und die in schwarz gekleideten Schergen marschierten beinahe rituell über die Bühne und präsentierten ihre Maschinengewehre, als würde ein Staatsoberhaupt gleich die Parade abnehmen. Einer von ihnen stellte sich neben die Guillotine und legte die Hand auf den Auslöser.
„Halt! Ihr wißt nicht, was für Folgen euer Handeln hat.“, schrie Krill, der in diesem Moment den Platz erreichte „Ohne das Wissen der Bibliothek wird das Land nicht überleben können. Ohne diese Bücher gibt es keine Regeln mehr. Du bist ein törichter Junge.“
„Wie hast du überleben können?“, fragte Eric, wobei man seine Verwunderung beinahe spüren konnte.
„Bücher haben mehr Macht, als du dir vorstellen kannst. Zeit ist nicht überall gleich. Du mußt nur die richtigen Geschichten kennen. Der König kennt sie.“
„Rede keinen Unsinn! Geschichten haben keine Macht über die Realität.“
„Dann sag mir mal, warum ich gerade im letzten Moment hier aufgetaucht bin?“, sagte Krill. Er blieb ganz ruhig und starrte Eric fest in die Augen, in dem Wissen, ihm in allen Belangen überlegen zu sein.
„Zufall...“
„Nein, kein Zufall! In Geschichten rettet der Held den König immer im letzten Augenblick.“ Einen Moment lang kamen Krill plötzlich doch arge Zweifel. War er wirklich ein Held? Was, wenn er sich irrte und in Wirklichkeit nicht der König der Gute war, sondern doch Eric? Was, wenn dies hier die falsche Geschichte war?
„Dieser König hat es nicht verdient, zu leben! Er hat sein Volk verhungern lassen und mich in die Wüste geschickt.“
„Und genau da, gehörst du auch hin.“ Die Stimme des Königs war zwar infolge des Anstrengung, auf den Knien zu bleiben, kaum zu hören, aber sie strahlte Autorität aus. Ein König mußte autoritär sein, sonst wäre er kein König.
„Wir brauchen den König. Nur er kann die Bibliothek wieder aufbauen. Ohne sie sind wir nichts. Wenn die Geschichten verloren gehen, versinkt die Welt im Chaos. Wie dürfen die Regeln nicht vergessen!“ Krill wunderte sich selbst, wie bestimmt er plötzlich klang. Die Macht der Geschichten – seiner Geschichte – verlieh im Kraft, während er langsam weitersprach. Seine Worte durchdrangen die Luft wie Schwerter und rissen die Mauern des Hasses unter den Leuten nach und nach ein.
Die Menschen wurden unsicher und begannen, ihm zu glauben. Immerhin stimmte es, der König wußte immer, was zu tun war und hatte das Land mit diesem Wissen immer gegen alle Widerstände von Außen verteidigt. Woher sollte Eric dieses Wissen nehmen? Ein Volk brauchte einen König. Es brauchte einen Mann, der ihm sagt, was es tun soll, der ihm sagt, wie die Welt funktioniert. Eric würde das nicht können, er glaubte nicht.
Nach und nach setzte sich unter ihnen die Gewißheit durch, daß ihr König zwar nicht perfekt, aber immer noch die bessere Alternative wäre. Der alte Bibliothekar hatte Recht. Ohne die Macht der Worte war ihr Land verloren. Morag hatte das größte Wissen auf der Erde angesammelt. Nur der König würde das wieder herstellen können.
...
Der Wille im Volk war gigantisch. Man hatte Eric und seine Schergen aus der Stadt gejagt. Innerhalb weniger Wochen wurde die Bibliothek wieder aufgebaut und erstrahlte bald in alter Schönheit. Die Verluste unter den Büchern waren gewaltig und es würde sicher Jahrzehnte dauern, bis man es wieder beisammen haben würde, aber die Menschen waren zuversichtlich.
König Jasper hatte aus seinem Fehler gelernt und senkte die Steuern des Landes, damit der allgemeine Lebensstandart steigen konnte. Alles, was an Geld übrig war, wurde in neue Bücher investiert.
Zufrieden sortierte Krill eine neue Ladung Bücher in die Regale ein, als er plötzlich stutze. Eines von ihnen, er hatte es nie zuvor gesehen, trug den Titel „Die Bibliothek von Morag“. Krill hatte immer gehofft, es würde eine Geschichte über einen heldenhaften Bibliothekar geben und nun hatte er sie endlich gefunden. Mit Freudentränen in den Augen schlug der die letzte Seite auf und las den letzten Satz.
Und so lebte er glücklich und zufrieden bis an sein Ende.