Die Bibliothek meines Vaters
Der Stift, mit dem ich diese Zeilen schreibe, ist ein wuchtiger Füller mit einer alten Feder. Es ist der Füller meines Vaters, mit dem er so ziemlich alles geschrieben hatte, was zu schreiben war. Briefe, Rechnungen und auch sein Testament.
Heute war seine Beerdigung.
Ich sitze hier in der Bibliothek meines Vaters an seinem schweren Eichenschreibtisch, der schon zwei Weltkriege überstanden hat, und kratze mit dieser alten Feder über das Karopapier. Schon in der Schule habe ich diese kleinen Kästchen geliebt.
Mein Vater ist tot. Soll ich mich für ihn freuen? Ich fühle keine Traurigkeit. Auch als mich vor einer Woche die Nachricht seines Todes erreichte, war ich nicht traurig. Ich trauerte (Habe ich das denn wirklich?), aber ich war nicht traurig. Wird das noch kommen? Ich habe mich frühzeitig von ihm abgenabelt, mein eigenes Leben gelebt. Und dazu hat auch diese Bibliothek beigetragen. Und die Bibliothekarin meines Vaters.
Fühlen Bücher etwas, wenn man sie liest? Wenn man sie aufschlägt, ihren Rücken biegt, die Seiten umblättert? Wenn man sie sanft in den Händen wiegt oder sie nimmt und vergewaltigt, den Rücken bricht, die Seiten knickt? Wenn man sich dem Rhythmus der Sprache hingibt, den Worten auf dem Papier, den Zeichnungen oder Bildern? Sind Bücher lebendig, haben sie eine Seele, ein Herz?
Würde man die Bibliothekarin meines Vaters fragen, so würde sie diese Fragen mit "Ja" beantworten.
Ob sie wohl noch lebt? Sie war nicht auf der Beerdigung. Hatte man sie überhaupt eingeladen?
Als ich sie damals im Hause meines Vaters - in diesem Hause - zum ersten Male gesehen hatte, zum ersten Male richtig gesehen hatte, mit den Augen eines zum Manne werdenden Jungen, war sie gerade dreißig. Damals in den späten Fünfzigern. Davor hatte ich sie eigentlich nie wahrgenommen. Sie gehörte für mich zum Inventar des Hauses. Und wie alt war ich? Fünfzehn, sechzehn? So ungefähr jedenfalls.
Wie sah sie aus? Die Erinnerungen sind blaß, wie sich auch ein Spiegel eintrübt, wenn er jahrzehntelang nicht mehr poliert wurde. Ihre Augen waren grau. Die wärmsten grauen Augen, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Ihr braunes Haar war immer zu einem festen Knoten hochgebunden, jedoch nicht in jener Nacht.
Jene Nacht ...
Mein Vater ist kaum unter der Erde und ich sitze hier in dieser Bibliothek und meine Gedanken kehren zu jener Nacht zurück, in der ich zum Manne wurde.
Und wieso schreibe ich das auch noch auf?
Sind es die Bücher, die sich hier Reihe um Reihe um mich versammelt haben und in mir den Drang geweckt haben, diese Karoseiten zu füllen?
Eigentlich wollte ich schon immer Tagebuch schreiben. Doch ich finde die meisten meiner Tage zu langweilig, als daß sie für mich geschweige denn für andere aufhebenswert wären. Vielleicht beurteile ich sie auch nur zu streng. Ich habe immer auf das Ereignis gewartet, mit dem ich das Tagebuch beginnen wollte. Doch erkannte ich dieses Ereignis erst viel später - meist Monate - als solches. Doch dann war es zu spät.
Ein Tagebuch beginnt man jeden Tag neu.
Die Beerdigung meines Vaters. Viele Anteilnehmende. Viele, die ihn vom Sehen kannten, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Keine tiefen persönlichen Kontakte.
Was habe ich gefühlt? Eine Leere, eine innere Leere, als hätte man mir etwas genommen, das ich eigentlich nie besessen hatte. Nein, ich habe noch nicht begriffen, was passiert ist. Was dieser Verlust für mich bedeutet. Ob es überhaupt ein Verlust ist.
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Ich habe mir einen schweren Rotwein eingeschenkt. Ich bin die Buchreihen abgegangen, bin mit der Hand über die Buchrücken gefahren, habe das ein oder andere Buch herausgenommen, es durchgeblättert.
Warum hatte Hanna diese innige tiefe Liebe zu diesen alten Büchern? Damals in jener Nacht hatte sie es mir zu erklären versucht, doch war meine Aufmerksamkeit abgelenkt.
Dieses Haus gehört jetzt mir, so steht es im Testament. Und mit ihm diese Bibliothek und seine Bücher. Vielleicht sollte ich mir eine Bibliothekarin suchen.
Die Bibliothek führt über eine doppelflügige Tür in den Garten. Damals hatte ich nach dem Abendessen noch lange Zeit im Garten verbracht. Ich hatte ein Baumhaus. Als die Nacht hereinbrach waren meine Freunde schon lange nach Hause verschwunden. Es war Sommer und die Luft brannte. Man wollte sich kaum bewegen. Ich lag auf dem Rücken und beobachtete wie die Sterne langsam sichtbar wurden. Doch schließlich rannte auch ich heim. Jugendlicher Überschwang. In der Bibliothek hielt ich mich eine Kurve nehmend an der Regalleiter fest. Ich hatte nicht gesehen, daß sie auf ihr stand, bepackt mit Büchern. Sie mußte sie loslassen um nicht selbst hinunterzufallen. Getroffen von ihrem Schrei stand ich wie die berühmte Salzsäule im Raum. Wütend stieg sie die Leiter herunter und schimpfte. Sie hob die Bücher auf und schimpfte. Sie legte sie auf den Tisch und schimpfte. Schließlich stand sie immer noch schimpfend vor mir.
Hanna war wütend. Sie schimpfte mit mir wie sonst nur meine Mutter. Nur die Sorge um ihre Bücher hatte diese Reaktion ausgelöst. Doch als sie die Angst in meinem Blick sah, verflog ihre Wut.
Sie trug ihr Haar zum Pferdeschwanz zusammengebunden. So hatte ich sie noch nie gesehen. In diesem Augenblick habe ich wirklich meine Mutter in ihr gesehen. Sie strich mir über den Kopf, beruhigte mich. Sie trug ein weißes Sommerkleid und ihre Silhouette begann mich zu erregen. Der Gedanke an meine Mutter verblaßte. Sie bemerkte meinen Stimmungswechsel und brach die Berührung ab. Ich verstand nicht, was mit mir geschah. Sie verstand, doch wollte oder konnte sie es nicht erklären. Sie begann von ihren Büchern zu erzählen, den Büchern der Bibliothek. Von dieser ganz bestimmten Art Liebe. Doch ich hörte kaum zu. Vielleicht wollte sie mir auf diese Weise erklären was geschah, auf die einzige Weise, wie sie es erklären konnte, über die Bücher.
Ich spürte ein Verlangen in mir, wie ich noch nie eines gespürt hatte. Ich wollte sie berühren, meine Hand auf diese Stelle unter ihrem langen Hals legen, wo der Ausschnitt des Sommerkleides nackte Haut zeigte. Meine Hand hob sich. Ich war groß für mein Alter und überragte sie einen halben Kopf. Meine Hand vollführte ihre Bahn wie am Faden gezogen. Und sie ließ es geschehen. Sie erzählte immer noch von den Büchern, zeigte hierhin und dorthin und meine Hand ruhte auf ihrer Brust.
Der Gedanke an dieses erste Mal erregt mich auch heute noch. Ein prägendes Erlebnis wie der erste Rausch. In allen Frauen habe ich immer etwas von ihr gesucht.
Meine Hand schien damals ein Eigenleben entwickelt zu haben. Sie strich an ihrer Seite herunter, legte sich auf ihren Bauch, ihren Busen.
Da hörte sie auf zu reden und nahm meine Hand in die ihre. Sie küßte mich, auf die Augen, auf den Mund.
Ich war damals der Meinung, so wie Frauen keinen Bart haben, haben sie auch am Geschlecht keine Haare. In jener Nacht mußte ich diese Meinung revidieren.
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Ich habe einen Brief meines Vaters gefunden. Er hatte ihn vor circa einem halben Jahr geschrieben, einkuvertiert und sogar frankiert, aber nicht abgeschickt. Ich dachte, mein Vater hatte nie von der damaligen Nacht erfahren. Jetzt weiß ich, er hat sie sogar arrangiert.
Nein, ich bin nicht wütend auf ihn, ich kann nun endlich trauern.