Die Bibelstunde
Die Bibelstunde
Es ist halb acht und ganze vierzehn Leute haben sich im Wohnzimmer zur privaten Bibelstunde versammelt. Sitzen auf Barhockern, Campingstühlen, alten Küchenschemeln. Einige haben sich sogar auf das grosse Sofa gelümmelt. Die Unterhaltung ist seicht und heiter, nur einer der Anwesenden sitzt etwas verkrampft hoch oben auf dem Barhocker, die Füsse in den Stuhlbeinen verhakt, um nicht herunter zu fallen, seine Hände halten krampfhaft eine Bibel. Niegelnagelneu ist die, mit reinweissen Seiten und schwarzer Schrift. Der Umschlag in Hochglanzpapier mit Graphiken und grinsenden Gesichtern verziert.
Neben dem Neuling sitzt ein älterer Herr, der sich gerade ausgiebig mit seinem Nachbarn zur anderen Seite unterhält, die offene Lederbibel locker auf seinem Schoss liegend. Die Seiten sind vergilbt und einige Textstellen sind mit verschiedenen Farben unterstrichen. Gekritzelte Anmerkungen ziehen sich kreuz und quer über die offenliegende Doppelseite. Der Neuling versucht unauffällig die Bedeutung derer zu erhaschen, aber die Schrift ist so klein, dass sie fast wie ein unbekannter Code erscheint.
Plötzlich klascht jemand in die Hände. Alle springen ordentlich auf ihre Plätze, mit wachem Blick und aufmerksamer Mimik starren sie in eine Richtung. Es fängt an. Am Anfang ist immer das Gebet. Alle senken die Köpfe und schliessen die Augen, um konzentriert dem gesprochenen Wort Gottes zu lauschen. Der Neuling denkt darüber nach, wie sich jetzt wohl ein Kontaktlinsenträger fühlen würde, so mit zusammengepressten Augen bis ans Ende des Gebetes ausharren zu müssen. Ob die Kontaktlinsen dann am Auge festtrocknen und nie wieder herauskommen oder ob sie beim erneuten Öffnen der Augen einfach herausfallen würden? Das Gebet ist zu Ende. Der Bibelgruppenleiter schaut auf seinen Merkzettel und nennt die Textstellen, die gemeinsam gelesen werden sollen. Genau vierzehn sind er auf seinem Blatt vermerkt, alle aus verschiedenen Büchern und Kapiteln. Jeder der Anwesenden soll einen Vers laut vortragen.
Wie auf einen Startschuss hin blättern alle Anwesenden wie wild in ihren Bibeln, Geraschel, Gemurmel, was war nun mein Vers gewesen? War es 37 oder 27, war es 1. Korinther oder 2.? Ratlose Gesichter, wildes Geflüster, fragt man den Nachbarn, bekommt man den Ellenbogen ins Gesicht, denn dieser ist eifrig damit beschäftigt, seine eigenen Bibelstelle zu finden.
Die erste Textstelle wird bereits vorgetragen, aber das eifrige Blättern, das Scharren der Füsse, das Gemurmel der verzweifelten Suchenden ist lauter. Einigen fällt die Brille von der Nase, andere setzen ihre erst einmal auf. Langsam bricht der Schweiss auf der Stirn des Neulings aus, das gesuchte Buch ist nicht einmal im Inhaltverzeichnis zu finden. Weiter geht es in der Reihe, einer nach dem anderen liest seine Textstelle vor, sie kommen näher. Gehetzt blickt er sich um.
Das Herz klopft nun unkontrolliert, ein hilfloser Blick zum Fenster, noch ein verzweifelter Blick auf den Bibelstundenleiter, der dem Neuling mit leicht tadeligem Blick in die Augen schaut, als ob er sagen wolle: "Liest Du etwa nicht jeden Morgen eine Textstelle?" Immer noch mischt sich das Geraschel der Bibelseiten mit den Stimmen der Vortragenden, einer niest laut und muss ganz neu anfangen mit seiner Suche, da die Bibel auf den Boden gefallen ist.
Der Neuling reisst ängstlich an den Seiten, sucht im alten, im neuen Testament, im Anhang, bei den Karten. Nirgendwo ist die Textstelle zu finden.Welches Buch war es denn überhaupt? Die Erinnerung bleibt aus, plötzlich verstummt jeder im Raum. Absolute Stille.
Alle Blicke sind auf den Neuling gerichtet. Dieser sitzt dort mit zitternden Lippen, aufgerissenen Augen und unkontrolliert scharrenden Füssen. Endlich beugt sich der ältere Herr zu ihm herüber und findet mit seinen erfahrenen Händen das richtige Buch, das gefragte Kapitel, den passenden Vers in der niegelnagelneuen Bibel. Der Neuling bedenkt ihn mit einem tiefdankbaren Blick und fängt stockend an vorzutragen. Er war der vierzehnte und das Vorlesen ist endlich zu Ende. Der Bibelstundenleiter fragt die Anwesenden: "Was ist die gemeinsame, wichtige Aussage, die sogenannte Kernaussage, all dieser Textstellen?"
Einige blicken an die Decke und bewegen dabei den Mund, andere starren auf die buntgemusterten Vorhänge, manche suchen nach Taschentüchern und wiederum welche nach den Textstellen, die sie gerade vorgetragen hatten. Der Neuling atmet immer noch unkontrolliert von all der Aufregung.
"Nun?" hakt der Leiter nach und schaut fragend in die Runde.
"Eine Wespe!" schreit plötzlich eine Stimme. Jeder springt auf und schlägt wild um sich, einer holt eine Fliegenklatsche, ein anderer reisst das Fenster auf, der Neuling rennt zur Tür.
Puh, der Abend ist gerettet.