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Die Bestie
Die Stimmen der Studenten hallten von den hellen Wänden des Vorlesungssaals als er ihn betrat, und ohne dass er sich ankündigen musste verstummten sie eine nach der anderen. Ruhig verteilte er seine Utensilien auf dem Pult und hob erst den Blick, als er fertig war. Niemand kritzelte mehr etwas in ein Notizbuch, niemand sah auf sein Handy, niemand unterhielt sich. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
Zufrieden senkte er wieder den Blick um eine Thermoskanne zu öffnen und sich Kaffee einzuschenken. Er ging um den Tisch herum und lehnte sich dagegen. Die dampfende Tasse in einer Hand sah er in die Runde.
„Willkommen in Ihrem ersten Jahr an der Universität.“ Er machte eine ausladende Geste mit der freien Hand. „Sie sind alle hier, weil sie vom menschlichen Verstand fasziniert sind. Viele von Ihnen leiden unter ihm, oder haben in der Vergangenheit gelitten, und suchen nach Erklärungen. Viele von Ihnen möchten anderen Menschen helfen. Einige von Ihnen werden am Ende des Jahres nicht mehr hier sein, und das ist vollkommen in Ordnung.“ Er machte eine Kunstpause und blies den Dampf von seinem Kaffee. „Ich bin Professor Winterberg. Ich werde Sie in diesem Studiengang begleiten.“
Er wusste, dass seine Worte alle erreicht hatten, obwohl seine Stimme nicht laut war. Seine Kraft hatte nie im Körper, sondern immer im Geist gelegen und er hatte schon früh gelernt, das zu nutzen.
Es war sein sechstes Jahr als Professor und seine Vorträge hatten sich kaum verändert. Er fügte hier und da etwas hinzu, aber das Grundgerüst blieb gleich. So konnte er das Material vermitteln und sich zugleich gedanklich mit anderen Dingen befassen.
Während er Informationen und Erklärungen von sich gab wanderte sein Blick neugierig über seine neuen Studenten. Reihe für Reihe tasteten seine Augen ab, ein Mal, ein zweites Mal. Dann noch ein drittes Mal, jedoch nur über die Gesichter, die seinen Blick zuvor zum Stocken gebracht hatten.
Es waren drei. Ein junger Mann, der sich recht weit nach vorne gesetzt hatte, südeuropäisch anmutend, mit einem kritischen, intelligenten Gesichtsausdruck. Die anderen zwei waren eine junge Frau und der Junge neben ihr. Sie sahen sich so ähnlich, dass sie Zwillinge hätten sein können, aber ihre Körpersprache verriet dem Professor, dass dem nicht so war.
Sie waren beide blond, nicht unattraktiv und hingen geradezu an seinen Lippen. Sie schienen jedes Wort, das er sagte, begierig aufzunehmen. Er zwang sich den Blick von ihnen zu lösen und konzentrierte sich wieder auf seinen Vortrag; er war beinahe am Ende angelangt. Die Projektionen, die die wichtigsten Punkte auf der Wand hinter ihm zusammenfassten, waren auf sein Tempo abgestimmt und liefen von allein ab.
Professor Winterberg lächelte, jedoch nicht wegen des Applauses am Ende seiner Vorlesung. Die Hoffnung, seine neuen Schützlinge gefunden zu haben, machte sich in ihm breit. Es war nicht das erste Mal, dass er näheres Interesse an einigen seiner Studenten hatte, aber den Gedanken hatte er immer wieder verworfen. Über die Jahre legte er sich schließlich einen detaillierten Plan zurecht, um sie endlich zu sich heran zu ziehen. Natürlich gab es keine Garantie dafür, dass sie geeignet waren, aber das würde sich schon früh genug zeigen. Er wusste inzwischen schließlich ganz genau, nach welchen Qualitäten er suchte.
Der Saal leerte sich nach und nach. Winterberg sah, wie seine Zwillinge, wie er sie im Stillen bereits nannte, überlegten zu ihm zu kommen, aber im letzten Moment entschieden sie sich beide dagegen. Im Laufe der nächsten Wochen gab er ihnen mehrere solcher Gelegenheiten, und irgendwann standen sie vor ihm, wie scheue Vögel, die sich endlich an die fütternde Hand trauten. Sie waren wie er es sich immer gewünscht hatte, wissbegierig, ehrgeizig, charmant.
Er bot ihnen beiden eine Stelle als seine Hilfswissenschaftler an. So verbrachten sie mehr und mehr Zeit miteinander und Winterberg begann, sein Netz zu spinnen. Er lernte, was sie bewegte und was sie sich vom Leben erhofften. Sehr zu seiner Freude stellte sich bald heraus, dass sie moralisch flexibel sein konnten, wie er selbst auch.
Den anderen jungen Mann hatte der Professor bereits früh aufgegeben, er war zu unbeugsam, nicht aufnahmefähig, nicht neugierig genug. Anders waren da seine Zwillinge, die sich mit leuchtenden, hungrigen Augen von ihm umgarnen ließen. Vorsichtig, um sie bloß nicht zu verschrecken, zeigte er ihnen nach und nach die Welt aus seinen Augen, lehrte sie auf der Klippe zu balancieren und nicht nach unten zu blicken.
Er wurde zu dem Vater, Bruder und Freund den sie sich immer gewünscht hatten. Er wurde alles, was sie jemals brauchen könnten.
Sie wurden eine Familie, seine Familie.
Die kalte Winterluft wird von Sirenengeheul zerschnitten, laute Stimmen bellen Befehle. Professor Winterberg steht im Schlafzimmer eines jungen Paares, seine Zwillinge rechts und links neben ihm. Die Lichter von draußen spiegeln sich durch das Fenster in der Blutlache auf dem Boden, die Wände sind befleckt und mit dunklen Schlieren versehen. In der Dunkelheit sieht das Blut fast schwarz aus.
Seine Zwillinge sehen ihn angstvoll an, Panik flackert in ihren Augen. Er lässt sein Messer auf das rot gefärbte Bettlaken fallen und nimmt sie beruhigend in die Arme, verschmiert das Blut von seinen Händen in ihrem Haar und ihren Gesichtern. Er weiß, dass es für ihn vorbei ist, und dennoch ist er erstaunlich ruhig. Er murmelt ihnen beruhigende Worte zu; sie wissen, was nun bevorsteht. Er hebt das Messer wieder auf legt es vorsichtig an die Kehle des Mädchens. Ein Arm liegt noch immer um die Schulter seines anderen Schützlings.
So stehen sie, in den Armen des Professors, mit kindlich großen Augen, als die Tür hektisch aufgestoßen wird. Taschenlampen blenden sie, die Stimmen der Polizisten sind laut und aufgeregt, beschwörend. Sie reden auf Winterberg ein, die Studenten los zu lassen, es sei vorbei, sagen sie. Der Professor hebt langsam die Hände und die Zwillinge laufen hinter die Barrikade von Beamten, die sich vor der Tür gebildet hat.
Er lächelt und dreht sich um, damit man ihm Handschellen anlegen kann. Er sieht, wie ein junger Polizist vermeidet, das Bett anzusehen und zwinkert ihm zu. Der Polizist beginnt zu würgen und wendet sich ab.
Winterberg weiß, dass sein Ende gekommen ist. Er weiß jedoch auch, was in der Zukunft geschehen wird. Man wird ihn abführen, die Presse hat ihn bereits vor Monaten „die Bestie“ getauft. Es ist nicht sehr originell oder schmeichelnd, aber besser als manch anderes. Er wird verhört werden und seine Geschichte erzählen. Reporter werden sich darum reißen mit ihm sprechen zu dürfen, mit der Bestie.
Seine Zwillinge werden ebenfalls eine Geschichte erzählen, mit zitternden Stimmen und Tränen in den Augen werden sie berichten wie er sie manipuliert hat, sie bedroht hat. Im Gerichtssaal werden sie Mitleid ernten, unschuldige junge Menschen in den Fängen des Monsters. Doch wenn niemand hinsieht werden sie ihm einen wissenden Blick zuwerfen.
Die Unschuld wird für den Bruchteil einer Sekunde von ihnen abfallen, wie die Maske die sie ist.
Wenn sein Körper unter der Erde liegt werden seine Zwillinge die Universität lange hinter sich gelassen haben. Gepeinigte Menschen werden ihnen ihre Seele darlegen, damit sie sie heilen, und er wird weiter existieren. Er wird durch ihre Augen sehen, wenn sie aufmerksam beobachten, wie das Leben aus ihren Opfern weicht. Er wird spüren wie das warme Blut ihre Hände umspült wenn sie nach den Herzen greifen und sie festhalten, bis sie aufhören zu schlagen.
Die Bestie wird weiterleben, in ihnen. Bis der Kreis sich schließt und sie erneut von Sirenengeheul umgeben sind, ihre Schützlinge in den Armen, so wie sie heute Abend bei ihm standen.