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Die besten Jahre
Es war einer jener Herbsttage, der die Menschen noch einmal nach draußen zog, um jeden Sonnenstrahl aufzufangen, den die Sonne noch aus sich herauszupressen vermochte. Doch Jonas, der gerade hatte mitansehen müssen, wie Adam, sein Freund, in einem Sarg liegend, in ein Erdloch gelegt worden war, empfand jeden Sonnenstrahl als blanken Spott. Während ein leichter Windstoß über seinem Kopf die bunten Blätter zum Tanz bat und sie sanft zu Boden geleitete, sah er in den wolkenlosen Himmel, betrachtete die Flugzeuge, die ihre Linien in den Himmel zogen und die Paragleiter, die in unsichtbaren Spiralen durch die Lüfte schwebten. Und wie er so dasaß und sich umsah, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Boshaftigkeit und die Ironie dieser Welt zu bestaunen. Wie konnte der Himmel es wagen, die Sonne scheinen zu lassen, wenn sich doch in seinem Inneren, alles nach Schnee und Regen, Blitz und Donner anfühlte? Wie konnten es die vorbeigehenden Menschen wagen, von einem „schönen Tag“ zu sprechen, wo doch gerade ein solch wichtiger Teil seines Lebens für immer weggebrochen war? Wie konnte es die Welt überhaupt wagen, sich weiterzudrehen, als sei nichts gewesen, wenn seine eigene gerade erst in sich zusammengefallen war?
Während die letzten Sonnenstrahlen, die dieser Tag zu bieten hatte, sein Gesicht erwärmten, starrte er gedankenverloren auf die abblätternde Farbe der Holzlatten. Langsam strichen seine Fingerkuppen über die Kerben an den Lattenrändern, die einige Muster aufwiesen, welche darauf hindeuteten, dass diese Bank in der Vergangenheit häufig zum Öffnen von Bierflaschen missbraucht worden war. Ein schwaches Grinsen huschte über seine Lippen, wenn er daran dachte, dass nicht wenige dieser Kerben von ihm selbst stammten. Es waren die letzten Abdrücke einer Zeit, die Adam immer als „die besten Jahre“ bezeichnet hatte. Eine Zeit, lange bevor sie gelernt hatten, was Verantwortung bedeutete. Eine Zeit, in der sie stundenlang hier sitzen konnten, ein grässliches Dosenbier nach dem anderen mit einem noch grässlicheren Energy-Drink mixten, bevor sie schlussendlich mit der untergehenden Sonne nach Hause wankten, ohne jegliche Furcht vor Konsequenzen. Eine Zeit, in der sie noch von Tag zu Tag leben konnten und jedem Problem mit einer typisch-trotzigen „Ist-mir-doch-egal“-Haltung begegneten. Kurz gesagt: eine Zeit, in der sie frei waren.
Schon länger hatte sich diese wilde, unbeschwerte Zeit durch Jobs, Frauen und Verantwortung in den Hintergrund drängen lassen – ein Schicksal, dass jede Jugendfreundschaft früher oder später ereilte. Doch waren die Erinnerungen daran auch Jahre später noch wie ein unsichtbares Seil gewesen, das sie beide miteinander verbunden hatte. Mit Adams Tod hatte sich in Jonas´ Innerem jedoch ein schwarzes Loch aufgetan, dass diese gemeinsam erlebte Zeit zu verschlucken schien. Die Erinnerungen daran, die einst Anlass für viele launige Gespräche über „die guten, alten Zeiten“ gewesen waren, hatten sich in unerträgliche Stiche verwandelt, die sich wie Schwertklingen gewaltsam immer wieder ihren Weg in sein Inneres bahnten.
Es war ein lautes Brabbeln, das ihn aus seiner gedanklichen Zeitreise holte. Ein kleines Mädchen spazierte an der Hand seiner Mutter vorbei, beschäftigt damit, ihr freudenstrahlend von den tollen Dingen zu berichten, die es erleben würde, wenn es einmal erwachsen sein würde. Wenn Jonas ehrlich war, beneidete er das Kind um seinen Optimismus und seine Ahnungslosigkeit. Das Kind wusste noch nicht, dass es vielleicht kein Morgen geben würde und hätte es dies doch gewusst, so wäre es ihm vermutlich egal gewesen. Es würde wie alle Kinder den Moment leben und versuchen, so viel Spaß wie möglich haben, etwas dass er und die meisten anderen Erwachsenen schon vor langer Zeit verlernt hatten. Und dennoch packte ihn für einen Moment eine Welle des Zorns aufgrund dieser kindlichen Naivität und er überlegte, ob er dem Kind nicht hinterherlaufen und es über die Ungerechtigkeiten des Lebens aufklären sollte. Dass das Leben nicht so rosarot war, wie es sich in Kinderaugen oft darstellte, sondern dass es sich mit zunehmendem Alter in eine Ansammlung von Schmerz, Angst und Verlust entwickelte. Ja, wie gerne hätte er ihm die bittere Wahrheit ungebremst in sein kleines, glückliches Gesicht geschleudert. Doch was hätte dies gebracht? Welchen Sinn hätte es gemacht, die einzigen Menschen auf dieser Welt, die noch träumen können, zu desillusionieren und all ihrer Utopien zu berauben? Warum sollten sie nicht noch ein wenig länger in ihrer Seifenblase leben? Der Nadelstich, der die Blase zum Platzen bringt, würde noch früh genug kommen.
Er dachte an das Fernsehen und die Zeitungen, gefüllt mit Menschen, die sich der Illusion hingaben, dass sie mit Operationen und Botoxspritzen dem Unvermeidlichen entgehen könnten. Doch egal wie schnell sie laufen würden, die Zeit würd sie einholen und mit sich zu Boden reißen. Und je schneller sie versuchen würden zu flüchten, desto härter würde am Ende der Aufprall sein. Am Ende würde es für niemanden ein Entkommen geben, das wusste er. Und diesmal lag es an ihm, sich mit dieser zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit abzufinden und eine Lektion zu lernen, von der wohl niemand gefeit war: Es ist völlig egal, wie viel Zeit wir haben. Wenn sie vorbei ist, war sie immer zu kurz.
Die Sonnenstrahlen verschwanden hinter den weißen, unförmigen Dolchen, die sich in den sich verdunkelnden Himmel schnitten. Der Tag übergab seinen Platz an die Nacht und sendete einen leichten Windstoß vom Himmel, der Jonas dazu veranlasste, fröstelnd nach seiner Jacke zu tasten. Während er aufstand, zog er seine Jacke an und schloss den Reißverschluss bis zum Kinn. Mit den Händen in den Jackentaschen machte er sich auf den Heimweg. Er ging über das grüne Gras, welches sie früher, während unzähliger Fußballspiele als Kinder so oft plattgetreten hatten. Er ging vorbei an den beiden Holztoren, auf die sie früher immer gezielt hatten und die heute völlig überflüssig und nutzlos dastehen.
Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, um wieder Boden unter seinen Füßen zu finden. Er wusste nicht, ob er jemals die Tatsache verkraften würde, dass ein Mensch, mit dem er so vieles erlebt hatte, diese Welt für immer verlassen hatte.Doch er wusste, dass es keinen Sinn haben würde, gegen die Ungerechtigkeiten dieses Lebens anzukämpfen. So ausgelutscht es sich auch anhörte, am Ende würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als all dies hinter sich zu lassen und weiterzuleben. Einmal mehr begriff er, wie machtlos der Mensch immer noch war, wenn es um die elementarsten Dinge des Lebens ging. Wer kämpft kann gewinnen, so dachte er. Doch wer gegen die Zeit kämpft, hat schon verloren.