Die bessere Hälfte
LeAnn saß auf einem Stuhl und starrte auf das Bild an der Wand. Für ihre fünfzehnjährige Tochter Julie sah es wie das morgendliche Gebet aus, das sie früher immer zusammen mit ihr vor dem Zubettgehen aufgesagt hatte. Doch ihre Mutter bewegte ihre Lippen dabei nicht. Mit im Schoß zusammengefalteten Händen hockte sie da. Ihre gebeugte Haltung drückte tiefe Ehrfurcht aus, während ihre Augen unablässig und systematisch den farbigen Schnörkeln an der Wand zu folgen versuchten. Sie fing irgendwo in der Mitte an, fuhr mit dem Blick die wirren Kurven des Musters so lange ab, bis sie sich an einer bestimmten Stelle nicht mehr sicher war, ob sie sie schon einmal besucht hatte. Dann gab sie auf und fing wieder von Vorne an.
Julie kam, absichtlich mit den Stiefeln stampfend, ins Zimmer, aber ihre Mutter schenkte ihr im Moment keine Aufmerksamkeit. Wenn sie sich vielleicht nur einmal stark zusammenreißen würde, vielleicht würde sie das Gebilde an der Wand entziffern. Linear zerlegen. Katalogisieren, klassifizieren und dann ein für alle Mal in ihrem Gehirn als eine Zahlenfolge abspeichern. Oder ein Gedicht. Ja, Gedichte eigneten sich hervorragend als Merkstütze. Sie würde das Bild in ein Einhundertsechzigtausendvierhundertundsiebzig Zeilen langes Gedicht verwandeln. Eine Zeile pro Schnörkel. Ja, das klang logisch.
"Mama", sagte Julie sarkastisch, "starrst du wieder auf die Zeichnung mit dem großen Vogel?"
LeAnn zuckte zusammen. Sie stand auf, räumte schnell den Stuhl beiseite und rückte ihre Frisur zurecht. Den Triumph wollte sie ihr doch nicht gönnen.
"Nein, ich habe gerade nachgedacht, Liebes", sagte sie gepresst. Sie wusste, dass ihre Tochter kein Wort davon glaubte. Aber es war immer noch besser, solch kleine Notlügen einzuflechten, als sich vor dem Kind lächerlich zu machen. Es machte sie manchmal fassungslos, zu welchen Wundertaten junge Leute fähig waren, wenn es um das Zusammenfassen von Details zu einem Ganzen ging.
"Mich hat schon immer sein blöder gelber Schnabel gestört", sagte Julie und zeigte mit dem Finger auf das Bild. Ihre Mutter sah nur eine Linie, die fünfzehn Zentimeter nach rechts ging, dann fünf rauf, wieder zehn nach oben...
"Wieso wirfst du das Gekritzel nicht einfach weg?", fragte Julie. Sie kannte die Antwort, machte sich aber nicht die Mühe, sie sich anzuhören. Ja, klar. Es war das selbstgemalte Hochzeitsgeschenk ihres Vaters gewesen. Damals, als Mama und er noch auf Bilder schauen und ganz einfach "Vogel" sagen konnten, wenn es einen darauf zu sehen gab. Oder eine Kuh. Oder ein verdammtes Pfefferkuchenhäuschen, wie zum Beispiel auf dem Bild in ihrem Zimmer. Das Bild, das sie als Kind selbst gemalt hatte.
Seit Papa tot war, schien ihre Mutter die Zeit zurückdrehen zu wollen. Manchmal hockte sie stundenlang da, während sich nur ihre Augen bewegten. Dann war sie ganz in ihrer Zahlenwelt versunken. Julie wusste, dass sie das Bild überhaupt nicht als das sehen konnte, was es war. Niemand mit einer fehlenden rechten Gehirnhälfte konnte das. Aber sie versuchte es dennoch, wieder und wieder. Sie wollte die einzige Erinnerung, die sie an ihn noch hatte, wieder lebendig werden lassen. Doch es gelang ihr nie.
LeAnns Tochter hasste die Erwachsenen und wollte niemals so werden wie sie. Sie verabscheute ihre bohrende Logik, ihre Gefühllosigkeit, ihre scheiß Zahlen. Die Erwachsenen konnten sich alle toll artikulieren, rechnen und unsinnige logische Gesetze aufstellen. So etwas wie
"Die Null ist eine eindeutige Zahl" konnten sie alle mit Leichtigkeit herleiten. Nur eine auf ein Blatt gemalte Kuh von einem Panzer unterscheiden konnten sie nicht. Weil sie nicht linear genug war.
Julie schauderte, als sie darüber nachdachte, dass das ihre Zukunft sein sollte. Sie war fünfzehneinhalb und nur noch ein halbes Jahr trennte sie vom Eintritt in die Erwachsenenwelt. Die Beschneidung. Julie hatte Angst davor.
Natürlich, die Aufklärungskurse in der Schule hatten sich gemehrt, als das große Ereignis immer näher kam. Jeder Arzt, den sie bisher gefragt hatte, hatte ihr bereitwillig erklärt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Diese Phase machte schließlich jeder durch. Dann holten sie immer ihre Diagramme vom Aufbau des Kopfes hervor und erklärten ihr, dass man mit zwei Gehirnhälften wirklich überflüssigen Ballast mit sich herumschleppte. Sie erfüllten beide dieselbe Aufgabe, wenn auch auf zwei verschiedene Arten. Der linke Lappen sei der logische und sprachliche Teil, der alles nacheinander verarbeitet, während der rechte alles einheitlich und auf einmal betrachtet. Man könne sich von einem ohne weiteres trennen, ohne dass es einen großen Unterschied machen würde. Und darauf lief dann auch die Beschneidung hinaus. Das Entfernen des rechten Hirnteiles. Das Erwachsenwerden.
"Trenne dich vom rechten Hirn, dann macht das Leben einen Sinn", lachte sie die lustige Comicfigur vom gelben Aufkleber an, den ihr die Mutter auf den Schulranzen geklebt hatte.
Julie riss ihn ab und warf ihn zerknüllt in den Papierkorb. Dann zog sie sich ihre Lederjacke über und rannte wütend aus dem Haus.
Die Mutter war ausnahmsweise mal froh, dass sie gegangen war. Nun konnte sie ungestört nachdenken. Ihre Tochter konnte einen mit ihrem Starrsinn und ihrer kindlichen Uneinsichtigkeit manchmal auf die Palme bringen, aber sie liebte sie dennoch über alles. Sie war das Letzte, was ihr noch vom Leben geblieben war. Nach dem Tod ihres Mannes fühlte sich ihr Leben immer mehr wie ein Ritt durch die Wüste an. Es fiel ihr schwer, neue Bekanntschaften zu schließen, die nichts mit dem Beruflichen zu tun hatten. Das war das Schicksal eines jeden Erwachsenen. Klar, die Kids brauchten manchmal weniger als einen Tag, um dicke Freunde zu werden, aber bei den Älteren gestaltete sich die Sache anders. Wenn man sechzehn war und noch immer keinen Lebenspartner gefunden hatte, wurde es schwierig. LeAnn hatte ihren Mann schon im Sandkasten gekannt, aber das nützte ihr jetzt auch nichts mehr. Sie setzte sich an den Tisch und fing an, den dicken Stapel Kontaktanzeigen durchzublättern.
Lebensläufe, Kontostände, mechanisch wirkende Liebesgedichte. Ein Bogen sah wie der andere aus. Obwohl der Inhalt immer verschieden war, kam ihr die Schrift wie ein unendlicher Strom von gleichförmig marschierenden Ameisen vor. Sie las einige der Anzeigen ohne wirkliches Interesse durch, dann klappte sie den Ordner mit einer schnellen Bewegung wieder zu. Der Luftzug ließ ein loses Blatt auf den Boden fallen. LeAnn hob es auf und wollte es zu den anderen zurücklegen, als ihr auf Eintönigkeit trainiertes Halbhirn eine Warnmeldung ausgab. Das hier war Handgeschrieben.
Sie legte es auf den Tisch und musterte es genauer. Vollkommener Unsinn, dachte sie nach wenigen Augenblicken des Lesens.
Die Schrift tanzte wild rauf und runter, ohne sich um die Linien dazwischen zu kümmern. Die Buchstaben wurden größer, bis sie zu schreien schienen, dann verkleinerten sie sich wieder, bis sie kaum mehr zu erkennen waren. Und der Inhalt erst.
"Schauen pfauen dicke Frauen liebe nöte drauf zu bauen. Liebe. Freude. Eierkuchen. Ein Sickerungsrohr ist kein Mülleimer. Haare gehören nicht in die Suppe. Tot. Aids. Bin am 16. Juli im Cafe an der Brücke. Origami-Vereinsamung hat keine Abstammung."
Den Unsinn sollte sie lieber gleich wegwerfen, dachte sie. Der Typ hatte seinem Quatsch nicht einmal ein Bild beigefügt. Das Blatt sah auch nicht aus, als ob es irgendeiner Industrienorm entsprechen würde. Es war vielmehr aus einem größeren mit einer Schere herausgeschnitten worden. Als sie es so anschaute, verwirrte es sie dermaßen, dass sie wieder wegschauen musste. Und es sah stinkend aus. Nicht, dass es wirklich roch, aber in LeAnns Kopf fand eine der seltenen freien Assoziationen statt. Das Blatt sah danach aus, als ob es stinken würde.
Sie knüllte es erschrocken zu einem Ball zusammen und warf es in den Eimer. Angst, dass die ganze Wohnung davon verseucht werden könnte, überkam sie mit einem Mal. Sie drehte den Kopf zum Bild ihres Mannes und sah für den Bruchteil einer Sekunde den Vogel. Sie torkelte zurück, stolperte über den Stuhl und schlug lang auf den Boden.
In den folgenden Tagen versuchte LeAnn immer wieder, dieses Blatt aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie probierte alle möglichen Brain-Praktiken, die das Vergessen erleichtern sollten, und die auch meist funktionierten, doch die seltsame Handschrift hatte sich tief in ihr Bewusstsein eingebrannt. Sie konnte nicht anders, als ständig an die Zeilen zu denken, die sie gelesen hatte.
"Bin am 16. Juli im Cafe an der Brücke."
"Liebe. Freude. Eierkuchen"
"Tot. Aids."
Allein die Gedanken daran ließen Schauer über ihren Rücken laufen, ohne dass sie wusste, warum. Sie hatte weder je so etwas Beknacktes gehört, noch hatte sie die leiseste Ahnung, was es bedeuten konnte. Außer dem Cafe an der Brücke. Das kannte sie natürlich. Dachte der Idiot, sie würde sich tatsächlich mit ihm treffen? Doch dann wurde ihr klar, dass sie hingehen würde. Sie brauchte sich nichts vorzumachen. Heute war der fünfzehnte, sie hatte also noch einen ganzen Tag Zeit, nachzudenken und zu versuchen, dem ganzen Vorfall irgendwelche Regelmäßigkeiten abzugewinnen.
Am nächsten Morgen malte sie zum ersten Mal seit langem ihr Gesicht an und verließ das Haus.
Als sie langsam den Gehweg entlang schlenderte, fiel ihr auf, wie schön es hier eigentlich war. Schon lange hatte sie vergessen, wie hübsch das Spiel der Blätter im Wind aussah. Oder die regelmäßigen Muster im Wasser, die der Wind machte. Sogar die einheitlich gekleideten Menschen sahen heute schöner als sonst aus. Sie konnte plötzlich bei Jedem etwas Individuelles erkennen. Erschrocken stellte sie fest, dass sie für jeden einzelnen Fußgänger auf der Straße etwas empfand.
Das Cafe war fast leer, als sie eintrat. LeAnns Blick wanderte über die Anwesenden im Raum. Sie registrierte nur zwei potentielle Kandidaten, da die meisten Tische entweder mit Liebespaaren besetzt oder leer waren. Einer der Männer saß am Fenster links, ein dunkelhaariger Latino-Typ, der zunächst nicht auf sie zu achten schien und weiter seine Zeitung las. Der andere vermeintliche Kontaktsuchende lag mit dem Kopf auf dem Tisch und döste. Man konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er einen riesigen Hut aufhatte. Tolle Auswahl, dachte sie. Um nichts falsch zu machen, wählte sie einen neutralen Tisch genau in der Mitte der beiden Männer und wartete, bis einer sich von sich aus melden würde.
Doch nach einer geschlagenen Stunde saß sie noch immer mit übereinander geschlagenen Beinen da, hatte schon ihren fünften Tee getrunken und wurde allmählich ungeduldig.
Der Latino legte nun seine Zeitung weg und schaute in ihre Richtung. Es überkam sie ein Schauer, als er ihr zulächelte. Sie lächelte zurück. Aber was sah sie da? Hatte er ihr tatsächlich zugezwinkert? Doch dann zog er sein Standardjacket an, grüßte sie höflich und verließ das Cafe. An der Tür winkte er ihr noch einmal zu.
LeAnn seufzte tief. Schon lange hatte sie kein Mann mehr so angeschaut. Doch er war es nicht gewesen. Es konnte also nur der Typ mit dem Hut sein. Wieso schlief der so lange? War der betrunken? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Wenn man sich heutzutage betrank, dann zu Hause. Sie wollte nicht mehr länger warten und trat an den Tisch des Mannes.
"Hallo", sagte sie, "Hier bin ich, wie Sie es wollten. Was nun?"
Er gab keinen Ton von sich und bewegte sich auch nicht.
"Hallo!"
LeAnn war es peinlich. Jetzt hatte sie es schon nötig, Betrunkene aus dem Schlaf zu wecken, um jemandes Aufmerksamkeit zu erregen.
"Bitte, wachen sie auf. So wachen sie doch auf! Ich bin hier, so wie sie es wollten. Erinnern sie sich an die Anzeige? Schauen Frauen dicke Pfauen und so weiter ..."
Sie schüttelte ihn so heftig, dass ihm der Hut vom Kopf fiel.
Mit Entsetzen sah sie auf die Narbe, die fast über den ganzen Schädel ging. Er musste vor kurzem die Beschneidung hinter sich gebracht haben. Aber wieso jetzt erst? Sie schaute in sein zerfallenes, dürres Gesicht. Sie kannte ihn nicht. Sie schätzte ihn auf Mitte Fünfzig. War das der Mann, der ihr mit ein paar Worten diese Momente des Glücks und eine schlaflose Nacht bereitet hatte?
Sie schaute auf den aus der Serviette gefalteten Schwan, der seitlich neben seinem Kopf lag.
"Origami-Vereinsamung hat keine Abstammung", wiederholte sie leise die Worte aus seiner Anzeige.
Beim Anblick der Papierfigur durchzuckte sie ein Erinnerungs-Blitz. Sie nahm die Serviette vom Nebentisch und begann zu falten. Danach saß sie nur noch mit weit geöffneten Augen da und bohrte den Blick in das Ergebnis. Es war dem Schwan, der neben dem Kopf des Mannes lag, identisch. Ihr Herz schlug schneller und ihr Atem begann sich zu überschlagen. Nochmals schüttelte sie den zerschunden aussehenden Mann, doch er bewegte sich nicht mehr. Sie legte ihm eine Hand an den Hals und spürte Kälte. Kein Pulsschlag, er atmete auch nicht.
"Tot. Aids", formte sie die Worte.
Die Welt um sie herum schwankte.
"Haare gehören nicht in die Suppe", sprach sie zu sich selbst, als sie auf seinen kahlen Kopf schaute.
"Wach auf! Wie soll ich ohne dich weiterleben!", schrie sie und verfiel in Tränen.
Nachdem sie eine Weile lang die Worte aus dem Brief gebetsmühlenartig wiederholt hatte, beruhigte sie sich und griff in die Tasche des Mannes. Eine Brieftasche und ein Ausweis waren darin. Sie schlug das Dokument auf.
"James Blackwood, geb. 21.05.2040, gestorben 17.07.2088.
Körper auf eigenen Wunsch der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.
Körper Eigentum der TransPlant-Corp.
Laufender Versuch mit der Transplantation einer rechten Hirnhälfte.
Bei Antreffen bitte unverzüglich eine Polizeidienststelle anrufen. Auf keinen Fall Kontakt herstellen. Subjekt ist außer Stande, sich zu artikulieren."
LeAnn starrte gebannt auf den Leichnam und versuchte zu verstehen. Sie blätterte im Ausweis auf die nächste Seite.
"Implantiertes Spenderorgan #1002501050103, rechte Hirnhälfte aus der öffentlichen Organdatenbank."
Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sofort zog sie ihren eigenen Ausweis hervor und las ihre eigenen Daten ab:
LeAnn Snider. Hirn-Nummer 1002501050103.
Am 26.01.2060 durch Beschneidung zum mündigen Bürger geworden.