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Die Begegnung
Zu nah an der Straße? Nein, bei dieser Dunkelheit kann uns bestimmt niemand entdecken. Ich drücke mich so gut es geht an ihren kleinen, zarten Körper, um ihr zumindest ein kleines bisschen Wärme zu spenden. Eine Nacht in einem Bett, in wohliger Wärme, ohne Angst – ein Luxus! Beim Gedanken daran läuft mir ein Schauer über den Rücken. Was würde ich dafür geben? „Kannst du schon wieder nicht schlafen?“, flüstert die Kleine mit besorgter Stimme, während sie ihren Kopf in meine Richtung dreht. Ihre Nase ist rot und ihre Haut beinahe so glänzend weiß wie der Schnee, der uns umgibt. Ich muss unbedingt einen geschützten Platz für die nächste Nacht finden, sonst holt sie sich noch eine Lungenentzündung. „Mach dir keine Sorgen um mich, Kleines, du musst ausgeruht sein für morgen“, flüstere ich ihr sanft zu und streiche durch ihr feines, dunkles Haar, bevor ich mich aus der Umarmung winde, um unser sowieso schon spärliches Feuer neu zu entfachen. Fast kein trockenes Holz mehr, die nächste Nacht wird wohl nicht besser.
Zu früh graut der Morgen. Nur einzelne Sonnenstrahlen quälen sich mühevoll durch den grauverhangenen Himmel. Die Müdigkeit sitzt mir noch immer tief in den Knochen. Mühsam befreie ich mich von der Decke und schüttle Arme und Beine um meine steifgefrorenen Glieder zu lockern. „Pack deine Sachen, wir müssen los“ weise ich die Kleine an, während ich am Verschluss des brechend vollen Rucksacks reiße. Schnell haben wir all unser Hab und Gut zusammen – Routine. „Wohin gehen wir heute?“ gähnt die Kleine. „Ich weiß nicht, wohin möchtest du?“. Sie schweigt eine Weile und trottet neben mir her. „Ein Haus wäre schön, weißt du“ sagt sie und sieht mich erwartungsvoll an „Ich bin müde vom Gehen. Es macht keinen Spaß ohne Ziel.“
„Ja“ seufze ich, während ich die Arme um meinen Körper schlinge, um die stechende Kälte aus meinen Gliedern zu vertreiben „Ich weiß“.
Wie lange ist es nun schon her? Fünf Jahre, meine ich mich zu erinnern. Es war ein besonders eisiger Tag, es schneite so heftig, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, die Kälte kroch einem in die Glieder als wäre dein Tod ihr ein persönliches Anliegen. Die Kleine saß da, auf ihrem Schlafsack nahe des Wegrandes zwischen Essensresten und abgewetzter Kleidung, vor einem niedergebrannten Lagerfeuer, ganz allein. Ihre Gruppe musste wohl aufgrund des Schneesturms überstürzt aufgebrochen sein und hatte sie nicht mitgenommen, Ballast und ein Maul zu viel, das es zu stopfen galt. Sie hat nie darüber gesprochen und ich habe auch nie danach gefragt. Eine grausame Welt ist das. Ich wäre ein Unmensch, hätte ich sie dort so alleine erfrieren lassen.
Manchmal erzähle ich ihr davon, wie die Welt früher war, vor dem Ausbruch. Ihre Augen beginnen in diesen Momenten immer zu glänzen und wie sie immer aufgeregt herumspringt und mir Löcher in den Bauch fragt! Aber für sie sind das nur Geschichten, sie kennt nur diese Welt. Die Welt voll Eis. Manchmal ist der Verlust beinahe unerträglich, dieser Druck im Brustraum, der einem die Luft nimmt und die Beklemmung beim Gedanken daran, dass man nie mehr zurückkehren kann. Ich drücke die Lider meiner Augen fest zusammen, drücke meine Fingernägel in die Handflächen. Ich will mich nicht erinnern. Nur manchmal, für sie.
Stimmen durchbrechen die ewige Stille der gefrorenen, erstarrten Welt. Ich darf mich nicht immer so in Gedanken verlieren, ich kann es mir nicht leisten, unachtsam zu sein. Die Kleine stockt und sieht mit großen Augen zu mir auf „Wer sind die?“ flüstert sie mit belegter Stimme. Mein ganzer Körper ist angespannt, sodass meine Muskeln beinahe zu reißen drohen, aber ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich Angst habe. Sie sind bereits in Sichtweite, es sind drei, eine Frau und zwei Männer. Sie ziehen irgendetwas Großes hinter sich her, sind jedoch zu weit weg, um zu erkennen, um was es sich handelt. Schnell wäge ich unsere Chancen ab, unentdeckt zu verschwinden, aber sie kommen zu schnell näher. Ich muss handeln. Ich schiebe mich vor die Kleine, packe sie grob mit der Hand und stoße sie in den Graben neben der Straße. Sie versteht sofort und drückt sich, flach auf dem Bauch liegend, in den Schnee und bedeckt ihren zitternden Körper mit dem nassen Weiß. Sieht man nicht zu genau hin, ist sie nicht mehr von der farblosen, eintönigen Umgebung zu unterscheiden.
Langsam setze ich meinen Weg fort, den Unbekannten entgegen, weg von der Kleinen.
„Sieh an, heute ist ja richtig viel los hier“, grölt der Größere der beiden Männer. Die Frau lacht. Endlich kann ich auch erkennen, was sie hinter sich her schleifen, einen leblosen Körper, starr, mit einer faustgroßen blutverklebten Eindellung am Kopf. Die Frau merkt sofort, dass ihr Paket meine Aufmerksamkeit auf sich zieht und sieht mich mit einem hämischen Grinsen im Gesicht an. „Na, willst du dich dazu gesellen, Süße?“, gackert sie. Ich kann mich nicht rühren, wie gelähmt stehe ich da und starre die Drei an. „Hat‘s dir die Sprache verschlagen oder was?“, knurrt der kleinere Mann. Seine dunklen Augen, starren mich angriffslustig aus dem plumpen, vernarbten Gesicht an. Ich antworte nicht. Eine Weile stehen wir uns so gegenüber und sehen einander an, drei Meter liegen zwischen uns. Genug Abstand, um es noch unversehrt weg zu schaffen? Nein.
„Hör zu, Mädchen, es gibt zwei Möglichkeiten wie das hier ablaufen kann. Die eine Möglichkeit, du gibst uns brav deine Waffen, so du denn welche besitzt und kommst mit uns, oder du endest gleich wie der arme Typ hier“ er nickt in Richtung des Toten und grinst mich gehässig an. „Warum sollten wir die Schlampe mitnehmen, hm?“, keift die Frau den Mann an. „Was willst du denn mit dem abgemagerten Ding?“
„Hör mal, du wirst doch jetzt nicht etwa eifersüchtig werden?“
Die Frau schnaubt unschön durch die Nase und ihr Mund wandelt sich zu einem dünnen Strich. „Tot ist sie von mehr Nutzen für uns“, bemerkt sie wie beiläufig, doch der aufgeregte Unterton ist kaum zu überhören. „Für zwei Männer ist eben eine Frau zu wenig. Basta.“ meint der Große während er lüstern meinen Körper mit seinen Augen abtastet. Ich strafe ihn mit einem abschätzigen Blick.
„Keine Sorge, es liegt nicht in meinem Interesse dir einen deiner Liebhaber zu nehmen, Süße“, setze ich in sarkastischem Tonfall an, während ich so unauffällig wie möglich in die Innentasche meiner Jacke fasse. 2 Schuss. Das ist alles was ich habe, aber es reicht hoffentlich, um sie lange genug von mir abzulenken. „Außerdem, sterben scheint mir, wenn ich euch so ansehe, nicht die schlechteste Option zu sein“ - „Wenn du das sagst, Schätzchen“, grunzt der Kleinere und fasst an seinen Hosenbund.
Jetzt. Ich reiße die Waffe aus meiner Jacke und drücke den Abzug ohne zu zielen. Daneben, aber die Drei weichen erschrocken zurück. Das ist meine Chance. In einer schwungvollen Bewegung drehe ich mich zur Seite und renne los, ich renne so schnell mich meine Beine tragen. Nahe der Straße liegt ein dichter Wald aus Nadelbäumen, so hoch, dass sie bis in den Himmel zu ragen scheinen. Ich hechte zwischen den Bäumen durch, stolpere über mehrere Wurzeln, bis ich in einer kleinen Mulde zu Fall komme. Verstecken. Ich muss ein Versteck finden. Die Stimmen sind noch immer zu nah, ich höre sie fluchen. Ich halte die Hand vor den Mund, um mein angestrengtes Keuchen unter Kontrolle zu bringen und kauere mich hinter eine der Tannen. Sie sind ganz nah, ich kann es spüren. Den Revolver an meine Brust gedrückt, verharre ich starr in meinem behelfsmäßigen Versteck. Ich höre jemanden Atmen, laut und schwer als plötzlich das zerfurchte Gesicht des kleineren Mannes in meinem Blickfeld erscheint. Ich denke nicht nach, habe keine Zeit zu denken. Ich ziehe die Waffe, ziele auf seine Brust und schieße. Ein lauter Knall gefolgt von einem ekelerregenden Schmatzen. Mit schreckgeweiteten Augen starrt er mich an. Schon viel zu oft musste ich diesen Moment miterleben. Diesen Moment, in dem das Licht in den Augen eines Menschen erlischt und er für immer vom Antlitz dieser Welt verschwindet. Ausgelöscht. Mir wird schlecht.
Hier kann ich nicht bleiben, ich krieche ein paar Bäume weiter und warte. Ich warte eine gefühlte Ewigkeit, in der mein Herz so heftig schlägt, dass es zu zerspringen droht. So heftig, dass ich fürchte, sie könnten es hören und mich auf diese Weise finden. Aber sie finden mich nicht. Als die Frau den kleineren Mann entdeckt, heult sie schmerzerfüllt auf, unerträglich laut, es klingt nicht mehr menschlich, eher wie ein wildes Tier. Es tut mir Leid, mein Magen verkrampft sich, warum seid ihr nicht einfach weiter gegangen?
Bald darauf sind sie fort, sie haben den Leichnam ihres Freundes mitgenommen. Ich warte noch eine Weile, dann richte ich mich auf und begebe mich auf die Suche nach der Kleinen.
Ich finde sie dort, wo ich sie verlassen hatte und laufe auf sie zu. Dicke Tränen rinnen über ihre geröteten Wangen als sie mich entdeckt. „Ich dachte sie hätten dich erwischt. Ich dachte jetzt wäre alles vorbei!“, schluchzt sie und streckt ihre Arme nach mir aus. Ich knie mich vor sie hin, streiche über ihre feinen, dunklen Haare und schließe sie in eine feste Umarmung. Auch mir steigen Tränen in die Augen. Lange Zeit sitzen wir so da und weinen, lassen unseren Gefühlen freien Lauf - weinen um die Welt, die wir verloren haben und um uns selbst.
Irgendwann stehen wir auf, es ist Zeit weiter zu gehen. Der Himmel verdunkelt sich bereits, kurz sind die Tage, lang ist die Nacht. Ich seufze. „Siehst du das da vorne?“ quietscht die Kleine plötzlich, grinst mich an, in ihren Augen ein Glanz, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie beginnt zu rennen. „Warte! Du weißt nicht, ob da jemand ist!“, rufe ich ihr hinterher, aber als ich es sehe, schleicht sich auch mir ein Lächeln aufs Gesicht und ich beschleunige meinen Schritt. Ein Zuhause, ein Wort so vertraut und doch so fremd. Vielleicht, aber nur vielleicht - ein Zuhause. Bis wir wieder weiter ziehen.