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Die Begegnung
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„Sie sitzen auf meinem Platz.“
Hannes schaute kurz von seinem Laptop auf und tippte dann geschäftig weiter.
„Sie sitzen auf meinem Platz!“ Der dickliche Mann mit dem viel zu engen blauen Hemd lief rot an.
„Haben Sie reserviert?“, entgegnete Hannes mit gewohnter Lässigkeit.
„Sie sitzen auf meinem Platz, verdammt!“
„Beantworten Sie meine Frage.“
Stille.
„Sie sitzen auf meinem Platz!“
„Haben Sie reserviert?“, Nichts konnte ihn heute aus der Ruhe bringen.
Seinem Gesprächspartner wurde das anscheinend zu viel. „Na jetzt hören Sie mal, sie Jungspund. Ich sitze seit zehn Jahren immer auf diesem Platz. Da können Sie nicht so einfach da herkommen und ihn für sich beanspruchen.“
„Haben Sie diesen Platz nun reserviert oder nicht?“, wiederholte er mit Nachdruck.
„Darum geht es doch gar nicht!“ Der Ältere war vollkommen außer sich. Er musste sich beherrschen, dass er nicht erneut in der Öffentlichkeit die Fassung verlor.
Hannes nahm die Hände in den Schoss, lehnte sich zurück und sah sein Gegenüber eindringlich an.
Gelassen fragte er: „Worum geht es denn dann?“ Der puterrote Kopf seines Gesprächspartners erinnerte Hannes an seinen alten Fußballtrainer, wenn dieser hitzig mit ihm diskutiert hatte, während Hannes sachlich dessen Argumente widerlegte. Irgendwann gab er auf. Irgendwann gab jeder auf.
„Ich arbeite seit zehn Jahren in dieser beschissenen Firma, fahre jeden Tag mit der Bahn dort hin, da ich mir kein Auto leisten kann. Ich arbeite von morgens bis abends und habe kaum Zeit für meine Frau und meine zwei Kinder, meine Kollegen sind das Allerletzte, haben mich komplett bloß gestellt und mein neuer Chef scheint nicht mehr alle Latten am Zaun zu haben. Heute ist mein letzter Tag in diesem Saustall, da dieser Beier oder Meier oder wie er auch heißen mag, meint, ich wäre nicht länger tragbar, aber ersetzbar. Ich will einfach nur auf meinem Platz sitzen können und hinaus schauen.“
„Ich habe diesen Platz reserviert.“ Hannes widmete sich wieder seinem Laptop und fügte schnell hinzu: „Wenn Sie mit ihrer Situation unzufrieden sind, dann bekommen Sie heute gefälligst Ihren bequemen Arsch hoch, gehen zum Chef, sagen ihm, dass er sie nicht kündigen kann, fordern eine Gehaltserhöhung und machen ihm klar, dass sie eine bessere Position verdient haben.“
„Das geht doch nicht.“ Hannes‘ Gesprächspartner sah aus wie ein verschüchterter, kleiner Junge.
„Wieso nicht? Sind Sie etwa verzichtbar für die Firma oder leisten Sie nicht genug?“
„Doch.“
„Haben Sie etwa keine Gehaltserhöhung verdient?“
„Doch.“ Dem Mann tropfte der Schweiß von der Stirn.
„Na also, dann sagen Sie das heute ihrem Chef, machen Sie ihm klar, dass er sie braucht und dass sie etwas mehr Anerkennung verdient haben.“
„Soll ich ihn etwa anrufen?“, kam es aufbrausend zurück.
„Nicht nötig. Ich habe heute um 14:00 Uhr noch einen Termin frei.“
Hannes blickte auf und lächelte. Die Bahn stoppte.