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Die Begegnung
Die beiden Männer lagen in einer Senke des Waldbodens.
»Was ist das?«flüsterte Gendo. Der Fährtensucher drehte statt einer Antwort lediglich seinen Kopf langsam zu ihm herum. Ihre Augen trafen sich und sein Wegbegleiter schüttelte mit so kleinen und vorsichtigen Bewegungen seinen Kopf, daß Gendo sie kaum wahrnehmen konnte. Dennoch verstand er. Keine Worte. Keine Bewegungen. Nicht atmen. Mit dem Boden verschmelzen. Gar nicht hier sein. Gendo wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als Letzteres.
Das, was er nicht benennen konnte, war näher an ihr Versteck heran gekommen. Gendo konnte zwischen den Ästen des Strauches die Beine des Wesens sehen. Sie hatten in ihrer Anatomie eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Gliedern eines Menschen, waren dabei jedoch mit einer steingrauen, von blauen Linien durchzogenen Haut bedeckt. Es ging ein Geruch von dem Wesen aus, welcher Gendo an den Kadaver eines Wildschweines erinnerte, den er vor zwei Jahren im Sommer am Fuße des Steinbruches gefunden hatte. Die glänzenden Leiber der Fliegen hatten sich an jenem Nachmittag als surrende Wolke in die Lüfte erhoben, sobald sein Schatten auf den vom Verwesungsprozess grün und violett verfärbten Fleischberg gefallen war. Von Maden und Schimmel überzogen hatte der Geruch des aufgequollenen Körpers ihn wie ein Faustschlag getroffen und er hatte sich an Ort und Stelle übergeben müssen.
Auch jetzt spürte er Übelkeit in sich aufsteigen und sein Mund wurde unheilvoll trocken. Er schloss die Augen und beschwor sich selbst. Würde ihm jetzt sein Magen nicht gehorchen, wären sie zweifellos verloren. Der Fährtensucher lag nicht ohne triftigen Grund regungslos im feuchten Laub, dessen war er sich sicher.
Von allen Seiten hatte man ihm bestätigt, der Mann sei einer der Besten seiner Profession. Gendo fand sich in seiner Wahl in der Tat dann auch schon wenige Tage nach Beginn ihrer Reise bestätigt, als das Wolfsrudel immer engere Kreise um sie gezogen hatte. Sein Begleiter hatte minutenlang die Meute beobachtet, ohne auch nur mit einem Muskel zu zucken. Dann war er sich sicher gewesen, das Leittier ausgemacht zu haben. Mit zwei schnellen Schritten war er auf den Wolf zugetreten. Im nächsten Augenblick hatte er dem überraschten Tier mittels seiner Kampfaxt mit solch einer Geschwindigkeit den Schädel gespalten, dass Gendo erst verstanden hatte was geschehen war, als die übrigen Tiere wimmernd und kläffend das Weite gesucht hatten. Der Fährtensucher hatte unmittelbar darauf den Weg fortgesetzt, als sei nichts geschehen.
Obwohl das grauhäutige Wesen sich mittlerweile um einige Schritte zur rechten Seite bewegt hatte, verstärkte sich der Geruch nach verwesendem Fleisch plötzlich noch einmal. Gendo fühlte, wie ihm der Schweiss ausbrach. Der Wind musste gedreht haben.
Die Kreatur ging noch einen weiteren Schritt nach rechts und trat somit in einen Bereich, der von ihrem Versteck aus besser einsehbar war. Nur eine Handvoll dünne Äste verdeckten jetzt noch die Sicht. Gendo hob den Blick so weit es ihm möglich war ohne dabei eine verräterische Bewegung machen zu müssen. Als er den Kopf des Wesens sah, traf ihn der Schock wie ein Schlag. Seine Augen ruhten mit Entsetzen auf der Kreatur. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand ein lebender Mirr’tarr.
Jene dämonenhaften Wesen hatten vor Jahrhunderten die nördlichen Wälder beherrscht, so erzählte manche Legende. Zu Beginn hatte man in ihnen lediglich eine Gruppe wilder Tiere vermutet und manch unglücklicher Söldner war angeheuert worden, um das vermeintliche Rudel zu erjagen. Erst, nachdem von einem Wilderer die Lichtung im Wald gefunden worden war, auf welcher abgerissene Menschenschädel als Trophäen zu Dutzenden aufgespießt in der Sonne verwest waren, hatte das Volk langsam begonnen zu verstehen, daß es zur Jagdbeute eines unbekannten Gegners geworden war. Von da an hatte Krieg geherrscht im Norden und die Menschen waren zu hunderten in den Schatten der Bäume gefallen. Ihren meist lautlos agierenden Jägern gegenüber hatten sie sich an Kraft und Schnelligkeit weit unterlegen gefunden.
Der Landesfürst Drugo war es schliesslich gewesen, der nach einer Trockenperiode von sieben Wochen ein ganzes Heer vor den Wäldern postiert und den Befehl dazu gegeben hatte, an allen zugänglichen Seiten das Feuer zu entzünden. Die Flammen hatten sich mit rasender Geschwindigkeit brüllend durch das trockene Holz gefressen. Gerade einmal zwei Duzend der Mirr’tarr hatten an jenem Tag dem Feuerring entkommen können und waren auf die freie Fläche der umgebenden Wiesen und Felder geflüchtet. Dort waren sie von zweihundert Bogenschützen und mehr als fünfhundert Lanzenträgern bereits erwartet worden. Seit jenem Tag, dem ersten Waldfiiretag, war nie wieder ein Mirr’tarr lebend gesichtet worden.
Bis heute.
Gendo sah die schwarzen Augen, wie sie die Umgebung absuchten. Das Gebiss trug Zähne die eines Wolfes ebenbürtig waren. Anstatt einer Nase klafften in dem Schädel an dieser Stelle lediglich zwei sichelförmige Löcher. Fransige Auswüchse seiner grauen Haut hingen an beiden Seiten seiner breiten, flachen Stirn herab. Wie die Beine, so war auch der Rest des Körpers dem eines Menschen ähnlich, wenn auch fast doppelt so groß und wohl zweihundert Kilo schwer. Prüfend und witternd sog der Mirr’tarr die Luft ein. In Gendo wurde das Verlangen zu schreien fast übermächtig. Die Angst machte seinen Körper bis in die letzte Faser starr, er hätte keinen Schritt fliehen können. Jeder Laut, den er von sich geben würde, wäre sein Todesurteil. Dennoch hätte er jetzt nichts lieber gemacht, als zu schreien. Zu schreien, bis keine Luft mehr in seinen Lungen gewesen wäre.
Der Mirr’tarr schien etwas zu bemerken. Noch einmal sog er witternd die Luft ein und drehte dabei seinen massigen Kopf hin und her. Er schien die Richtung bestimmen zu wollen, aus der die Witterung kam. Dann hörte Gendo den Dämon einen kehligen Laut ausstossen. Und obwohl er niemals zuvor ein solches Wesen gehört hatte, erkannte Gendo sofort den groben Sinn des Lautes. Der Mirr’tarr hatte eine Frage gestellt.
So bedrohlich dies war - es wurde für Gendo sogleich noch bei weitem an Schrecken übertroffen.
Denn der Dämon erhielt eine Antwort.
Und wenn seine Ohren ihm nicht einen perfiden Streich spielten, dann stand das, was Antwort gab, unmittelbar neben ihnen.
Die augenblicklich einsetzende blinde Panik raubte ihm den Atem. Beweg dich! brüllte er innerlich seinem eigenen Kopf zu. Dreh dich! Sieh hin! Dreh deinen Kopf! Schnell! Dreh deinen Kopf! Dreh deinen Kopf! Doch die Angst hatte seinen ganzen Körper in eine eiserne Starre fallen lassen, die ihm jede Bewegung unmöglich machte. Sein Gesichtsfeld zog sich zusammen, sein Augenlicht begann bedrohlich zu flackern. Er stand kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Und noch immer atmete er die nach Fäulnis und Verwesung stinkende Luft ein. Jetzt wurde ihm auch schlagartig klar, warum der Geruch so plötzlich stärker geworden war. Sie hatten unbemerkt Besuch bekommen.
Er vernahm ein schmatzendes Geräusch von seinem Wegbegleiter. Das weckte in ihm augenblicklich die Erinnerung daran, daß er sich nicht alleine in dieser Situation befand. Und nicht nur das. Sein Begleiter war ein erfahrener Kämpfer. An diesen letzten Funken der Hoffnung klammernd konnte er die Muskeln seines Nacken so weit lösen, daß es ihm möglich wurde, den Kopf langsam zu seinem Gefährten zu drehen. Dessen Augen starrten ihn an. Sein Mund war in einem Ausdruck ungläubigem Erstaunens halb geöffnet und in seinem Hinterkopf steckte eine armdicke, hölzerne Lanze. Gendo blinzelte. Etwas ganz Wesentliches stimmte nicht an diesem Bild, doch sein Geist weigerte sich es anzunehmen. Was stimmte nicht mit dem Fährtensucher? Wie konnte er jetzt schlafen? Mussten sie nicht weitergehen? Es würde bald dunkel werden und das nächste Dorf war noch weit.
Der Mirr’tarr zog ohne Hast die Lanze aus dem Kopf des Fährtenlesers. Emotionslos beobachtete Gendo sich selbst dabei, wie er den Kopf weiter drehte und anhob, um den Dämon zu betrachten. Die Panik, die ihn zuvor gelähmt hatte, wich nun einem Gefühl der Leere. Sein Geist zog sich zurück, um sich selbst vor dem Wahnsinn zu schützen, der ihn angesichts des Grauens unausweichlich befallen musste.
Die Kreatur sah ihn ebenfalls an. In ihren schwarzen Augen ohne erkennbare farbliche Iris konnte Gendo nichts lesen. Da gab es nichts. Kein Gefühl davon, einem lebenden Wesen in die Augen zu blicken. Kein Erkennen. Und es war ihm, als blickte er in einen Spiegel. Alles war leer und dumpf. Dass er in wenigen Augenblicken so tot sein würde wie der Fährtensucher neben ihm, sagte ihm ausschliesslich seine Logik. Seine Gefühle schwiegen vollständig. Er fühlte nicht einmal Angst oder Bedauern. Er fühlte gar nichts mehr.
Noch einmal erklang ein fragender Laut auf der anderen Seite des Gebüsches. Doch diesmal blieb die Antwort aus. Stattdessen fixierte der Dämon den am Boden liegenden Menschen noch einige Atemzüge lang mit der undurchdringlichen Schwärze seiner Augen und machte dann das Einzige, womit Gendo niemals gerechnet hätte.
Der Mirr’tarr drehte den Kopf und ging.
Seine Füße streiften Gendors Haare, als der graue Dämon über ihn hinwegging, fast lautlos das Gebüsch zerteilte und zu seinem Artgenossen trat. Tief in seinem Innern ließ etwas los und Gendo sank in erlösende Stille.