Mitglied
- Beitritt
- 16.02.2007
- Beiträge
- 3
Die Begegnung
Es war ein kalter Wind, der über die zerklüftete und scheinbar unbelebte Landschaft hinweg strich. Regen mit Schnee vermischt verlieh dieser Gegend einen eher urwüchsigen Eindruck. Die zahlreichen, aber seit vielen Jahren weder Blätter noch Nadeln tragenden Bäume ragten kahl einem Mahnmal gleich in den Himmel, aus dem in dieser Jahreszeit kaum die Sonne hervorstach. Sie vermochte nicht, die dichten Wolkenbänke zu durchdringen.
Mit hoher Geschwindigkeit jagten Wolken von Horizont zu Horizont und die Sicht betrug bisweilen nicht mal einen Kilometer. Wie man diese Jahreszeit früher nannte, wusste man niemand mehr so recht. Nach dem Großen Ereignis vor vielen Jahren schien der jahreszeitliche Ablauf der Natur ohnehin vollkommen durcheinander geraten zu sein. Warme Perioden lösten sich mit kalten ab und manchmal lagen von einem Umschwung zum nächsten nur wenige Wochen. Ein geregelter Ablauf war nicht mehr zu erkennen.
Inmitten einer leichten Anhöhe stand eine verwitterte Holzhütte, deren Zweck sich dieser Tage kaum noch Jemandem erschloss. Ab und zu diente sie vorbeikommenden Jägerinnen und Jägern als Unterschlupf, mehr auch nicht.
Maniya, so wurde sie von allen genannt, schlich sich, bekleidet mit einer Art Fellschurz, Stiefeln aus rohem Wildleder und einer Kopfbedeckung aus den Überresten eines selbst erlegten Wildtieres, deren Namen sie nicht kannte, durch das spärliche Unterholz. Sie beobachtete und lauschte. Den Bogen aus biegsamem Holz und der Sehne eines Hirsches lag genauso neben ihr, wie der Köcher mit den primitiven Pfeilen aus Holz, versehen mit Spitzen aus gehärtetem Eisen, die sie im Tausch gegen andere Waren erhalten hatte. Jedes Mal, wenn sie ein Tier damit erlegt hatte, musste sie hoffen, dass die Spitze heil blieb und wieder verwendet werden konnte. Spitzen wie diese waren rar und teuer. Zwar hatte sie noch Ersatz, aber sie ging sparsam mit ihrem kärglichen Besitz um. Wenn sie etwas Neues erwerben wollte, musste sie etwas Vorhandenes dafür hergeben.
Stets rechnete sie damit, dass man sie überfallen und bestehlen würde, darum hatte sie sich in die Einsamkeit der kahlen Wälder zurückgezogen und fristete dort ihr kärgliches Dasein. Sollte ihr dennoch einmal jemand zu nahe kommen, hatte sie immer noch zwei Messer in ihren Stiefelschäften. So fühlte sie sich einigermaßen sicher in dieser rauen Umgebung.
Sie atmete flach und lauschte. War da nicht irgendwo ein Knacken von zerberstenden Zweigen zu hören? Einen Augenblick lang herrschte Ruhe, dann wieder ein Knacken, dann noch eines. Irgendwo in der Nähe bewegte sich ein Tier. Sie wünschte sich ein großes, damit der Nahrungsbedarf für die nächsten Tage gedeckt war. Wieder ertönte ein Knacken. Sie bewegte sich leicht vorwärts und drückte mit der Hand ein paar Zweige auseinander. Sie konnte nichts Verdächtiges erblicken und lauschte weiter. Dann knackte es erneut und sie sah, was das Geräusch verursachte: Ein ausgewachsener Rehbock, der offenbar gut ernährt war. Ungewöhnlich für diese Zeiten, aber offenbar nicht unmöglich.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, verringerte sie die Distanz zu dem Tier, nahm den Bogen zur Hand und griff nach dem Köcher, dem sie einen Pfeil entnahm. Ruhig und konzentriert legte sie ihn auf die Sehne, zog dann plötzlich durch und ließ ihn los. Der Pfeil sirrte durch die Luft, überwand binnen Sekunden die Entfernung zu ihrem Opfer und drang dem völlig ahnungslosen Tier in den Hals. Im gleichen Moment traf ein weiterer Pfeil das rechte Auge und bevor sie selbst einen weiteren Pfeil aus dem Köcher nehmen konnte, flog eine Axt heran und spaltete dem um sich tretenden Reh den Schädel. Röchelnd und stark blutend sank es sterbend zu Boden.
Maniya fluchte leise. Ein anderer Jäger musste dem Tier ebenfalls aufgelauert haben. Sie würde um die Beute kämpfen müssen. Sie sprang, jetzt jede Vorsicht vergessend, auf und rannte auf das noch immer um sich tretende Tier zu. Ihr Kontrahent musste die gleiche Eingebung gehabt haben, denn aus dem Gebüsch links von ihr entsprang eine dunkle, hoch gewachsene Gestalt, wie sie mit Tierfellen bekleidet und anscheinend zu allem entschlossen. Er zog eine Art Schwert hervor und näherte sich Maniya.
„Er gehört mir, mir ganz allein!“ brüllte der Fremde.
„Irrtum!“ entgegnete Maniya. „Ich habe ihn zuerst gesehen und mein Pfeil war der erste, der ihn getroffen hat.“
„Dafür hat meine Axt ihm den Schädel zertrümmert.“
„Ich habe ihn schon die ganze Zeit beobachtet.“
„Und ich habe ihn seit Stunden verfolgt“.
Minutenlang standen sie lauernd gegenüber.
„Die Menschen haben sich trotz des Großen Ereignisses immer noch nicht geändert“, schrie der Fremde, dabei sein Schwert vor sich hin- und her schwingend.
„Das Große Ereignis, pah. Alles Legende.“
„So? Und warum jagt heute die Tochter eines ehemaligen Immobilienmaklers mit drei Häusern und fünf Automobilen hier durch die Wälder?“
Sie erschrak. Woher wusste der Fremde etwas über sie, was sie selbst nicht einmal kannte. „Automobil, was soll das sein?“ rief sie.
„Kindchen, Du bist schon zu lange hier draußen. Hast Du keine Erinnerung mehr an früher. An die Zeit vor dem Großen Ereignis?“
„Willst Du, wer immer Du bist, nur debattieren?“
„Hoho, eine Frau, die nicht reden will, sehr ungewöhnlich!“
„Was willst Du?“
„Das ist doch wohl eindeutig: Die Beute!“
„Das kannst Du Dir aus dem Kopf schlagen.“
„Wir könnten auch teilen.“
„Wie teilen?“
„Ich nehme mir meinen Anteil, und Du bekommst den Rest.“
„Egoist!“
„Weibsbild!“
„Anderer Vorschlag: Wir schlachten das Vieh und verzehren es gemeinsam.“
„Gemeinsam? Mit Dir, Fremder?“
„Siehst Du sonst noch jemanden hier?“
„Wie kann ich Dir vertrauen?“
„Gar nicht. Ich werde mir jetzt meinen Anteil holen, Entweder Du kommst auch, oder zu verziehst Dich.“ Er steckte das Schwert in den Schaft, der am Rücken hing und ging auf das verendete Tier zu.
Langsam wurde es Maniya zu bunt. Sie wagte sich, nach allen Seiten sichernd, aus der Deckung, schwang den Köcher über die Schulter, nahm einen Pfeil heraus und legte ihn warnend auf den Bogen. Der Fremde war einen Schritt schneller und zog bereits die Axt heraus, um sie zu säubern, ehe Maniya heran war, um ihren Pfeil vorsichtig herauszuziehen.
„Wir sparen also mit Pfeilen“, spottete der Fremde, den sie nun aus der Nähe betrachtete. Sein fettiges schwarzes Haar hatte schon lange kein Messer mehr gesehen und reichte bis weit über die Schultern herab. Was aus der Ferne wie ein athletischer Körper aussah, entpuppte sich nun als zur Fettleibigkeit neigende Gestalt, was in diesen Tagen eher verwunderlich war.
„Na Mädchen, so ein Prachtexemplar wie mich, hast Du bestimmt lange nicht mehr gesehen.“
„Vergiss es und fass mich nicht an!“ raunte sie drohend. Der Fremde wich erschrocken zurück und ihr tat es ein wenig leid. Aber sie war es gewohnt, in jedem Augenblick ihres harten Lebens zu kämpfen und sich Typen wie den Fremden vom Leib zu halten.
So ging es noch eine Weile weiter. Schließlich überwanden sie beide ihre gegenseitigen Abneigungen und machten sich über das Beutetier her. Die Haut wurde abgezogen und gab gutes Schuhwerk, oder die Bespannung für ein kleines Zelt her. Die Fleischstücke wurden zerteilt, Holzscheite aufgestellt und ein Feuer entfacht. Als die ersten Stücke über dem Feuer brieten und das Fett herabtropfte, griff der Fremde, der sich noch immer nicht vorgestellt hatte, in seine Tasche und zog zwei mit Wasser gefüllte Behälter daraus hervor. Einen reichte er Maniya, die ihn gierig öffnete und fast auf einem Mal leer trank.
„Erkennst Du mich nicht?“ fragte der Fremde sie, nachdem sie soviel gegessen und getrunken hatten, wie sie konnten.
„Nein!“
„Wirklich nicht?“
„Nein, woher?“
„Von früher!“
„Von früher?“
„Ja, aus Deiner Kindheit.“
„Ich war nie Kind, ich war immer hier draußen.“
„Mädchen, Jeder war mal Kind. Erinnerst Du Dich nicht an Deine Eltern?“
„Nein.“
„An Deinen Bruder …“
„Meinen Bruder? Nein, an so etwas erinnere ich mich nicht.“
„Das wird an dem Schock liegen, den viele nach dem Großen Ereignis erlitten haben.“
„Was für ein Schock und was war das Große Ereignis, von dem alle reden?“
„Du weißt es anscheinend wirklich nicht mehr.“
Sie blickte den Fremden eindringlich an, aber es regte sich nichts in ihr. Ihre Erinnerung schien irgendwie blockiert. Sie kannte nur die Zeit, die sie hier in der Wildnis verbracht hatte.
„Wie heißt Du?“ fragte er.
„Was interessiert Dich das?“
„Beantworte bitte meine Frage.“
„Also gut, ich heiße Maniya und Du?“
„Mein Name ist Manuel und Du heißt Manuela, nicht Maniya.“
Sie tat gleichgültig. „Manuela oder Maniya, was macht das für einen Unterschied? Und woher willst Du das wissen? Du kennst mich doch überhaupt nicht.“
„Doch, ich kenne Dich sehr gut, seit vielen Jahren schon. Aber erst vor kurzem habe ich Deine Fährte aufnehmen können, nachdem ich Dich überall gesucht habe.“
Sie blickte ihn verwundert an, noch immer hatte sie keine Erinnerung an ihn. Und er wusste offenbar gut über die Bescheid.
„Ich bin Dein Bruder!“, eröffnete er, der sich Manuel nannte. Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Es dauerte eine Weile, bis sie die Fassung wieder errang. Er näherte sich ihr und sie wich aus.
„Manu, Du hast einen Schock erlitten, wie so viele damals. Sie konnten nicht fassen, was geschah und flüchteten sich in Traumwelten oder kapselten sich von der Realität ab. Ein Verdrängungsprozess, der bis heute anhält und praktisch die ganze Restzivilisation erfasst hat.“
„Restzivi..?“
„Ja, wir sind die einige der wenigen Überlebenden der schrecklichen Ereignisse.“
„Was für Ereignisse und wann war das?“
Er seufzte, setzte sich und begann zu erzählen: „Es begann vor etwa fünf Jahren. Ein internationaler Konflikt hatte sich hochgeschaukelt. Einige machten religiöse Fanatiker dafür verantwortlich, andere hofften auf Landgewinne oder wollten ihrem Nachbar schon immer ein´s auswischen. Dann, eines Tages, zündeten Terroristen über Berlin die erste Atombombe.“
„Berlin?“
„Die Hauptstadt unseres Landes. Eine zweite wurde über London und eine dritte über New York und die vierte über Minsk gezündet. Dann verloren alle irgendwie die Nerven. Über Hamburg ging nur eine kleine Bombe nieder, aber andere Städte wurden mit Wasserstoffbomben, einige mit Neutronenbomben eliminiert!“
„Ich verstehe das nicht. Wo ist Hamburg?“
„Wo war Hamburg, solltest Du besser fragen. Gar nicht weit entfernt. Diese Gegend nannte man früher die Lüneburger Heide. Der radioaktive fall-out und der nukleare Winter haben alles zerstört, was nach den Explosionen noch übrig war. Es gab Milliarden Tote und noch heute sterben Leute massenweise an den Folgen. Und dann der große Schock. Psychologen hatten befürchtet, dass die meisten Überlebenden wahnsinnig werden könnten. In vielen Fällen stimmte das auch, aber bei den meisten Leuten trat ein bis dahin noch nicht gekanntes Phänomen auf. Sie verloren zum großen Teil ihr komplettes Gedächtnis und ihr ganzes Wissen. Eine Totalamnesie sozusagen. Und es ging noch weiter. Die Leute vergaßen nicht nur ihr erworbenes Wissen, sondern fielen allesamt in eine Entwicklungsstufe zurück, die der während der Steinzeit entsprach und sicherten sich dadurch ihr Überleben.“
„Ich verstehe immer noch nicht. Es gab also Krieg. Aber was sind Atomexplosionen?“
„Das sind die schrecklichsten Waffen, die der menschliche Geist sich jemals ausgedacht hat. Von den einstmals 6 oder 7 Milliarden Menschen auf der Erde dürften kaum mehr als ein paar Millionen überlebt haben.“
Manyja schüttelte den Kopf. „Das kann doch alles nicht wahr sein.“
Ihr Bruder nahm ein Holzscheit und warf ihn in das verlöschende Feuer, das neben einer üppigen Mahlzeit auch für ausreichend Wärme in der Nacht sorgte.
„Was soll nun aus uns allen werden, wenn es stimmt, was Du sagst?“
„Es stimmt, leider ... Keine Ahnung, die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, hat sich selbst weitgehend ausgerottet und wir können nur noch ums nackte Überleben kämpfen. Gemeinsam wären wir sicher unschlagbar.“
„Ich weiß immer noch nicht, ob ich Dir trauen kann.“
„Reich mir Deine Hände …“
Beide waren aufgestanden und näherten sich unsicher. „Ich fände es wunderschön, wenn wir beide zusammen ein Stück des Weges zusammen gehen würden. Du und ich wir wären …“
Weiter kam er nicht, denn im dem Moment durchbohrte ein Pfeil seinen Hals. Er sank zu Boden und starb. Noch ehe sie sich umdrehte, nach Pfeil und Bogen greifen oder ihre Messer erreichen konnte, wurde sie angegriffen. Jemand packte sie von hinten, sie schrie. Brutal wurde hielt ihr eine Frau den Mund zu und rief: „Ich habe sie!“ Jubelgeschrei aus männlichen und weiblichen Kehlen brach aus, der jedoch kurz darauf verstarb. Manyja wurde so ungestüm gepackt, das ein heftiger Ruck ihrem Leben vorzeitig ein Ende setze. Die Angreiferin hatte ihr das Genick gebrochen. Sie ließ sie achtlos fallen, die Räuber machten sich über die Beute her und verschwanden wieder.
Der Mensch blieb auch nach großen und schweren, traumatisierenden Ereignissen seinem kriegerischen Wesen treu …